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SportGlobal

Wenn Sportleidenschaft zu Sportsucht wird

8. Dezember 2023

Sport ist wichtig für die Gesundheit. Doch er kann auch abhängig machen und zu einer psychiatrischen Störung werden. Eine Wissenschaftlerin, die selbst Extrem-Triathletin ist, erklärt das Phänomen der Sportsucht.

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Symbolbild sexualisierte Gewalt im Sport
Exzessives Sporttreiben kann zur Verhaltenssucht werdenBild: Florian Gaertner/photothek/picture alliance

Elf Stunden, 21 Minuten und 15 Sekunden: So lange hat es gedauert vom Zeitpunkt, als Flora Colledge in Norwegen in den Hardangerfjord sprang, bis zu jenem Moment, als sie jubelnd das Ziel auf dem 1883 Meter hohen Berggipfel des Gaustatoppen erreichte. "Da ging ein Traum in Erfüllung", sagt die 37 Jahre alte Britin über ihren diesjährigen Sieg beim Norseman-Triathlon. "Es war mein fünfter Versuch, diesen Wettkampf zu gewinnen."

Nach zwei zweiten Plätzen 2019 und 2021 schaffte es Colledge endlich ganz nach oben aufs Podest und darf sich nun XTri-Weltmeisterin nennen. XTri steht für Extrem-Triathlon. Neben der Ironman-Distanz - 3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren, 42,2 Kilometer Laufen - kommt als zusätzliche Herausforderung das Profil der Strecke hinzu: Beim Norseman sind auf dem Rad rund 3000 und beim Marathon mehr als 1800 Höhenmeter zu überwinden. Flora Colledge ist jedoch nicht nur Extremsportlerin, sondern auch eine Sportwissenschaftlerin, die das Phänomen der Sportsucht erforscht. Darunter versteht man zwanghaftes, exzessives Sporttreiben, eine Verhaltenssucht.

Suchtrisiko ab sieben Sportstunden pro Woche

"Ich bin nicht dazu gekommen, mich damit zu beschäftigen, weil ich das Gefühl hatte, ich wäre selbst gefährdet. Das Thema hat mich gewählt", sagt Colledge der DW und lacht. "Als Sportlerin auf einem hohen Niveau finde ich es spannend, die Unterschiede zu untersuchen zwischen der Sportsucht als Störung und einem Training mit einem hohen Pensum, das auf gesunde Weise durchgeführt werden kann."

Sie selbst trainiert im Schnitt rund 25 Stunden pro Woche. In ihren Studien hat sie eine Marke von etwa sieben Wochenstunden als Schwelle zu einer möglichen Sportsucht ermittelt. "Für jemanden, der einen Vollzeit-Job, eine Familie und andere Verpflichtungen hat, ist eine Stunde am Tag nicht wenig. Wenn er dann trotzdem Sport treibt und dafür andere Verpflichtungen vernachlässigt, kann man schon ab etwa sieben Trainingsstunden pro Woche von Sportsucht reden", erklärt die Wissenschaftlerin, die an der Schweizer Universität Luzern arbeitet.

Das Phänomen der Sportsucht wurde 1970 eher beiläufig entdeckt. Der New Yorker Arzt Frederick Baekeland hatte untersuchen wollen, ob viel Sport den Tiefschlaf fördert. Dazu bot er passionierten Läufern, die täglich trainierten, Geld an. Als Gegenleistung sollten sie einen Monat lang auf ihren Sport verzichten. Die meisten lehnten ab, selbst wenn der Wissenschaftler ihnen hohe Beträge bot. Baekeland prägte den Begriff "Exercise addiction", Bewegungssucht. Inzwischen gibt es mehr als 1000 wissenschaftliche Artikel zu dem Phänomen, in den vergangenen fünf Jahren hat die Forschung richtig an Fahrt aufgenommen. 

Sportwissenschaftlerin Flora Colledge freut sich nach ihrem Sieg beim Extremtriathlon Norseman 2023 in Norwegen, indem sie ihre Hände vor dem Mund faltet.
Flora Colledge gewann im vergangenen August den Norseman und ist nun Weltmeisterin im Extrem-TriathlonBild: Pauline Monasterska

Als eigenständige psychiatrische Störung ist die Sportsucht - im Gegensatz zur Spielsucht und Wettsucht - jedoch noch nicht anerkannt. Einige Studien seien mit Vorsicht zu genießen, räumt Colledge ein. Das liege unter anderem daran, dass manche Messinstrumente, um Sportsucht zu identifizieren, "viel zu einfach" seien, sagt die Sportwissenschaftlerin.

So würden Sportler in einem häufig genutzten Fragebogen gefragt, ob sie ihr Trainingspensum erhöht hätten und ob sie den Sport nutzten, um ihre Stimmung zu verbessern. Das seien zwei von sechs Fragen. "Ein Athlet wird beide Fragen ganz klar mit ja beantworten. Natürlich steigert man sein Trainingspensum. Und es ist überhaupt kein Problem, dass körperliche Aktivität zu einer guten Stimmung führt. Deshalb empfehlen wir doch Sport."

Ohne Training Symptome von Angst und Depression 

Aber wann genau kippt die Leidenschaft in eine Sucht? "Sport darf eine zentrale Rolle im Leben spielen, aber nicht die einzige Priorität sein", sagt Extremsportlerin Colledge. Menschen mit einer Sportbindung hätten klare Ziele, kämen im Gegensatz zu Süchtigen aber auch mit Trainingspausen gut klar.

"Für einen Tag auszusetzen ist in Ordnung und führt nicht zu Entzugserscheinungen. Sportsüchtige dagegen berichten von heftiger Angst und schweren depressiven Symptomen bis hin zu Suizidgedanken, wenn sie nicht regelmäßig trainieren können", so Colledge. Dieser innere Zwang, unter allen Umständen trainieren zu müssen und niemals die Intensität herunterzufahren, sei eines der Hauptwarnsignale.

Deshalb sind Amateursportler möglicherweise sogar gefährdeter. "Profisportler verstehen in der Regel, dass man nicht nur durch Training fitter wird, sondern dass man auch Erholungsphasen braucht, um die intensiven Trainingsphasen zu kompensieren", sagt Colledge, die selbst eine Triathlon-Profilizenz besitzt. "Bei Sportsüchtigen ist das Verständnis dafür nicht da. Es geht nicht darum, besser, schneller oder fitter zu werden, sondern nur darum, täglich ein Trainingspensum zu absolvieren. Und das darf morgen nicht geringer sein als heute, vielleicht sogar ein bisschen höher."

Training trotz Ermüdungsbruch oder Fieber

Darüber, wie viele Aktive sportsüchtig sind, gehen die Meinungen in der Wissenschaft auseinander. Als besonders gefährdet gelten Ausdauersportarten. So ermittelten Forschende im Jahr 2022 unter Aktiven im Radsport bei gut sechs Prozent ein hohes Risiko für Sportsucht und bei Marathon-Laufenden von knapp sieben Prozent.

Ein hohes Risiko bedeutet aber nicht zwangsläufig eine krankhafte Störung. Häufig zitiert wird in diesem Zusammenhang eine Schätzung von Simone Breuer und Jens Kleinert von der Deutschen Sporthochschule Köln. Danach weist etwa jeder hundertste Aktive vereinzelte Auffälligkeiten auf, jeder tausendste greifbare Merkmale einer Störung. Und jeder Zehntausendste dürfte behandlungsbedürftig sein. Das gilt etwa auch für den Fall, wenn Symptome einer Essstörung mit jenen einer Sportsucht zusammenfallen. 

"Pathologisch wird es, wenn der Sport zur psychischen Last geworden ist", beschreibt Flora Colledge den Zeitpunkt, wenn Aktive sich in Behandlung begeben sollten. Sie nennt als Beispiel folgendes Szenario: "Ich habe eigentlich heute keine Zeit für zwei Stunden Training, weil ich arbeiten oder mich um die Familie kümmern muss. Aber ich mache es trotzdem, zur Not auch zwischen zwei und vier Uhr morgens, weil es anders nicht geht."

Auch Menschen, die Krankheiten oder Verletzungen einfach ignorierten und weiter trainierten, seien behandlungsbedürftig, sagt die Sportwissenschaftlerin. "Es gibt Sportsüchtige, die trotz eines Ermüdungsbruchs oder hohen Fiebers weitermachen. Sie sind nicht mehr in der Lage auf ihren Körper hören."

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Läufer beim MarathonBild: William West/AFP/Getty Images

Suche nach der geeigneten Therapie

Und wie behandelt man eine Verhaltenssucht, die noch gar nicht offiziell als psychiatrische Störung anerkannt ist? "Wir sind noch so früh im Stadium der Forschung, dass wir nicht mal Therapieformen testen konnten", antwortet Colledge. "Es gibt keine klinische Studie zur Sportsucht-Therapie." Es gebe jedoch Hinweise, dass eine sogenannte kognitive Verhaltenstherapie hilfreich sein könne. "Dabei lernt man mit seinen Gefühlen rund um den Sport anders umzugehen. Man versucht das Pensum langsam zu reduzieren, um mit den damit verbundenen Gefühlen klarzukommen." Ein völliger Sportentzug wie etwa bei einer Alkoholsucht ergebe keinen Sinn: "Menschen brauchen Sport, komplette Abstinenz geht also gar nicht."

Sie selbst werde auch weiterhin extreme Triathlons bestreiten, sagt Colledge. "Ich bin eher für Ausdauersportarten gemacht. Je länger, desto besser." Sie genieße die Wettkämpfe in beeindruckender Natur und im kleinen Starterfeld, so die Weltmeisterin. "Es ist weniger ein Kampf gegen andere Gegnerinnen. Ich versuche bei diesen herausfordernden Bedingungen wirklich, das Beste aus mir herauszuholen. Das finde ich superschön." Ganz ohne Sucht.

DW Kommentarbild Stefan Nestler
Stefan Nestler Redakteur und Reporter