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Anosmie: Leben in einer Welt ohne Gerüche

Gudrun Heise
21. Dezember 2018

Der Duft nach Bratäpfeln, frisch gebackenen Plätzchen und Tannenzweigen steigt uns zur Weihnachtszeit ständig in die Nase. Menschen mit Anosmie können das überhaupt nicht genießen. Sie riechen nichts.

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Nase riecht
Bild: Imago/Michael Westermann

"Ich war acht Jahre alt als ich begriffen habe, dass es so etwas wie einen Geruchssinn gibt und dass ich so etwas nicht habe", erzählt Michael Merkers. Er ist ohne Geruchssinn auf die Welt gekommen. Er leidet unter Anosmie. Wie kann man jemandem wie Merkers erklären, was Geruch überhaupt ist? Was sind angenehme Düfte? Wie riecht ein Apfel oder eine Rose? Wie riecht Schweiß? Die Erklärung "das riecht so ähnlich wie …" hilft da nicht weiter.

Als Merkers entdeckte, dass ihm der Geruchssinn fehlt, war er mit Freunden unterwegs. Als sie zu einem Acker kamen, hielten sich alle die Nase zu. Keiner wollte weitergehen, denn jemand war gerade dabei, Reifen zu verbrennen. Es stank bestialisch. Aber Merkers merkte nichts davon. Seine Freunde haben versucht ihm zu beschreiben, was los war. "Da war ich natürlich baff", erinnert sich der heute 32-jährige. Die Freunde erklärten ihm, dass da irgendetwas sehr Unangenehmes in der Luft liege. "Ich hatte überhaupt nichts davon mitbekommen. Das Feuer hätte ich erst viele hundert Meter später wahrgenommen, erst wenn ich den Rauch gesehen oder ein Knistern gehört hätte. Die anderen haben die Gefahr schon früh gerochen."

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Diagnose Riechstörung!

Von herrlichen Düften bis zu fürchterlichem Gestank

Um Gerüche überhaupt wahrnehmen zu können, brauchen wir unseren Riechkolben. Er ist etwa 1,2 Zentimeter lang und einen Zentimeter dick. Bei Merkers hatte er sich im Mutterleib nicht entwickelt. Er fehlte komplett und damit auch die Fähigkeit zu riechen.

Wenn wir atmen, wandern die verschiedenen Duftmoleküle, die wir dabei aufnehmen durch den engen Eingang der Nase in die sogenannte Riechspalte. "Sie befindet sich zwischen den Augen, quasi in der Mitte des Kopfes", erklärt Thomas Hummel vom Zentrum für Interdisziplinäre Forschung zum Thema Riechen und Schmecken an der Universitätsklinik Dresden. "In der Riechspalte nehmen die Duftmoleküle Kontakt mit den Riechzellen auf." Dort befinden sich feinste Häarchen. Sie leiten die Information, die sie bekommen haben, über den Riechnerv ans Gehirn weiter. Diesen komplizierten Vorgang machen sich wohl nur die wenigsten von uns bewusst. Wir riechen automatisch, genauso wie wir automatisch atmen. 

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Gerüche sind nicht nur gut oder schlecht, angenehm oder unangenehm. Sie haben auch eine Warnfunktion. "Als ich in eine eigene Wohnung gezogen bin, habe ich als erstes überall Rauchmelder installiert", sagt Merkers. Er würde es nicht riechen, wenn etwa die Küche in Flammen stünde oder das Essen verkohlte. Sein Geschmackssinn hingegen funktioniert. "Meine Zunge ist sehr fein trainiert. Dementsprechend kann ich auch sämtliche Lebensmittel mit geschlossenen Augen voneinander unterscheiden", so Merkers. Als Koch wäre er aber dennoch im falschen Beruf. Feinheiten kann er nicht herausschmecken.

Symbolbild Hundstage
Hunde haben bekanntermaßen ein besonders feines NäschenBild: picture alliance/nordphoto/Kokenge

Ur-Instinkte

Geruch und Geschmack sind eng miteinander verknüpft. Zum einen kommen Gerüche von vorne in die Nase, orthonasal. Zum anderen kommen Düfte beim Essen und Trinken retronasal in die Nase, über den Rachen. "Wenn Sie anderen Menschen in den Mund gucken, sehen Sie das Zäpfchen, das hinten am Gaumen hängt. Dieses Zäpfchen ist ein Muskel, der die Mundhöhle von der Nasenhöhle zur Riechspalte hin verschließt. Wenn man den ausgestreckten Finger vor die Nase hält und schluckt, spürt man, wie am Ende des Schluckvorganges Luft aus der Nase kommt", erklärt Hummel. So erreichen die Duftmoleküle beim Essen und Trinken die Riechspalte. 

Ob wir bestimmte Lebensmittel oder Gerichte mögen oder nicht, hängt zu etwa 80 Prozent vom Geruch ab. Unsere Zunge entscheidet nur zwischen süß, sauer, salzig, bitter und unami. Dieser fünfte Geschmack ist vor allem in proteinhaltigen Lebensmitteln zu finden. Er wird als 'herzhaft-intensiv und fleischig' beschrieben. 

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Gerüche beeinflussen unser Sozialverhalten und unsere Emotionen. Ein Gesicht oder eine Person erscheinen uns attraktiver, wenn wir ihren Geruch mögen. Nicht zuletzt spielt das eine große Rolle für die Partnerwahl. 

Mögliche Ursachen

Etwa einer von 10.000 Menschen kommt ohne Geruchssinn auf die Welt und hat keinerlei Vorstellung davon, was Riechen bedeutet. Andere wiederum verlieren die Fähigkeit zu riechen durch ein Schädel-Hirntrauma nach einem Unfall, durch eine Nasennebenhöhlenentzündung oder ständige Infekte.

Symbolbild: Jemanden riechen können / Fehlender Geruchssinn bei Frau und Mann
Bei der Partnerwahl ist es wichtig, dass wir den anderen gut riechen können. Bild: picture-alliance/Liszt Collection

Dann kann es passieren, dass die Riechfasern abreißen, die wichtig sind, um die Signale von der Nase zum Gehirn zu übertragen. In über der Hälfte der Fälle regenerieren sie sich allerdings wieder. Mediziner setzen dazu beispielsweise Aromatherapien ein, um das Riechvermögen anzuregen und den Patienten zu sensibilisieren.

Auch neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson können dazu führen, dass der Geruchssinn verloren geht. Diese Menschen haben aber eine Erinnerung daran, wie es ist, Dinge zu riechen und verknüpfen bestimmte Emotionen mit einem bestimmten Geruch. Bei Menschen wie Merkers hingegen ist da nur ein großes Nichts. 

Langsam, aber stetig

Im Alter von etwa 50 Jahren nimmt bei den meisten Menschen der Sinn fürs Riechen ab. "Bei den 70- jährigen hat etwa ein Drittel Schwierigkeiten damit. Im Alter von 80 ist es dann schon die Hälfte, bei denen das Riechorgan nicht mehr gut funktioniert", erklärt der Arzt Hummel. "Düfte und Gerüche werden noch wahrgenommen, aber bei weitem nicht mehr so intensiv wie noch mit 18." Eine der Hauptursachen dafür ist, dass die Anzahl der Riechzellen im Laufe unseres Lebens abnimmt. "Die Öffnung im Knochen von der Riechspalte zum Gehirn wird kleiner, genauso der Riechkolben", erläutert er.

Da kann es schon mal sein, dass die ein oder andere ältere Dame ein bisschen zu großzügig mit ihrem Parfum umgeht. Unsicherheit kommt auf. Rieche ich schlecht? Habe ich die Wohnung richtig gelüftet? Ist meine Kleidung noch in Ordnung? Fragen, die Merkers kennt - genau wie die peinlichen Situationen, die folgen können. "Ich bin mal beim Spazierengehen in einen kleinen Hundehaufen getreten. Ich habe es  nicht gemerkt. Der Geruch hat mich dann beim anstehenden Kundengespräch begleitet. Der Kunde fand das nicht so witzig", erinnert sich Merkers.

Alle Jahre wieder

Auch nach über 30 Jahren ohne Geruchssinn ist für Michael Merkers noch immer einiges ungewöhnlich. "Ich bin immer noch völlig perplex, dass nasse Hunde anders riechen sollen als trockene Hunde und nasser Rasen anders als frisch gemähter Rasen. Damit komme ich nicht klar." Er sei froh, dass es nur der Geruchssinn sei, der ihm fehlt. "Riechen ist im Alltag nicht so wichtig wie Sehen oder Hören. Wie soll ich etwas vermissen, das ich nicht kenne?"

Was ist sein größter Wunsch? "Für mich wäre es toll, wenn es irgendeine Art von Ersatz-Riechkolben gäbe, irgendeine Art von mikrokleinem Kunststoffröhrchen, das eine Verbindung von der Nase zum Gehirn herstellen könnte", überlegt Merkers. "Es wäre schon faszinierend, wenn das Leben dann nochmal eine ungeahnte Wendung bekäme, und ich an dieser Vielfalt von Gerüchen teilhaben könnte."