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Wenn der Schmerz über den Antisemitismus durchbricht

31. Mai 2024

Der Judenhass, das bedrohte jüdische Leben, der Bundeskanzler – Nachdenklichkeit und Appelle beim Katholikentag in Erfurt. Und viel Polizei.

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Säulenportal, darüber ein Davidsstern und hebräische Schrift, auf einer Säule eine Alarmanlage
Der Eingang der "Neuen Synagoge" in ErfurtBild: Christoph Strack/DW

Jetzt hat Erfurt seinen ersten Stolperstein. Der vergoldete Pflasterstein erinnert im Bürgersteig vor dem "Arabischen Friseursalon Helwa" an Karl Klaar, der 1940 von den Nazis ermordet wurde. Er war einer von sechs Millionen. Während des Katholikentags in der Thüringer Landeshauptstadt wurde der Stein verlegt. Oberbürgermeister Andreas Bausewein dankt dem Katholikentag, der auf den Stolperstein drängte.

Es ist eine würdevolle Feier in einer Straße der Erfurter Innenstadt. 150 oder 200 Gäste sind da. Darunter sind viele Schülerinnen und Schüler der Edith-Stein-Schule, die das Leben des Karl Klaar erforschten, Gäste aus der hohen Politik, auch der Bischof. Irgendwann kniet sich der Künstler Gunter Demnig hin, arbeitet ruhig den Stein ins Pflaster. Diese Zeichen der Erinnerung, nie zu vergessen… 

Die neue Angst

Aber schon vor allem Gesang, allen Worten, der Arbeit des Künstlers kommt die Moderatorin auf die aktuelle Not von Jüdinnen und Juden zu sprechen. Aus Angst vor Angriffen verstecke man jüdische Symbole, verzichte auf die hebräische Sprache in der Öffentlichkeit, und die Zeitung "Jüdische Allgemeine" werde per Post nur noch in neutralen Umschlägen versandt.

Kanzler Scholz in der Alten Synagoge. Er hört einer Wissenschaftlerin zu, die einen alten Text erläutert. Daneben steht der Erfurter Oberbürgermeister.
Bundeskanzler Scholz besucht die Alte Synagoge in ErfurtBild: Ronny Hartmann/Pool/AP/picture alliance

Das ist jüdisches Leben in Deutschland, 79 Jahre nach Ende des Holocaust, bald acht Monate nach dem massenmörderischen Terror der Hamas gegen Israel. Wie sehr die Bedrohung der Jüdinnen und Juden auch die große Politik umtreibt, zeigt das Programm von Bundeskanzler Olaf Scholz an diesem Freitag, der zu einer Diskussion des Katholikentags angereist ist. Vor diesem Termin im Erfurter Theater besichtigte er die mittelalterliche "Alte Synagoge", jenes lange vergessene Kleinod, das heute Weltkulturerbe ist. Dann traf er Mitglieder der aktuellen jüdischen Gemeinde. Scholz zeigte sich hinterher sehr beeindruckt.

Beim Besuch des Kanzlers wirkte diese Kulturstätte wie ein Hochsicherheitstrakt. Aber im Blick der Polizei ist jüdisches Leben in Erfurt immer, wie fast überall in Deutschland. "Alle jüdischen Einrichtungen stehen in einem besonderen polizeilichen Fokus", sagt Polizeisprecher Denny Schlee der DW. Definierte Schutzmaßnahmen würden "konsequent umgesetzt". Auch bei Veranstaltungen wie dem Katholikentag, bei dem auf einer Reihe von Podien jüdische Vertreter beteiligt sind, gälten die polizeilichen Maßnahmen entsprechend.

Wichtiger denn je

Christlich-jüdischer Dialog, auch Vorträge von Rabbinern gehören seit vielen Jahren zum Programm der Katholikentage. Im Laufe der Zeit kamen interreligiöse Podien mit Christen, Juden und Muslimen hinzu. Das gilt auch in Erfurt, das eine reiche jüdische Tradition hat. Und nun sei er vielleicht wichtiger denn je, sagt Maria Rassmann, Geschäftsführerin des christlich-jüdischen Programmbereichs beim Katholikentag, der DW. Zeitweise fanden zum Teil drei Veranstaltungen mit jüdischer Beteiligung parallel statt – und alle waren gut oder sehr gut besucht.

Die Planung des jetzigen Katholikentags-Programms erfolgte vor September 2023; solche Events brauchen einen langen Vorlauf. "Dann kam der 7. Oktober, der Terror der Hamas", so Rassmann. Mancher Referent habe danach abgesagt, andere suchten um so engagierter den Dialog. Die langjährige Zusammenarbeit sorge auch für Verbundenheit. Die Veranstaltungen zu diesem Thema sind in Erfurt während des Katholikentags durch die Bank gut besucht.

Rabbinerin Natalia Verzhbovska
Natalia Verzhbovska ist Rabinerin in BielefeldBild: Christoph Strack/DW

Das gilt auch für das Podium mit der liberalen Bielefelder Rabbinerin Natalia Verzhbovska und dem orthodoxen Rabbiner Igor Mendel Itkin aus Berlin. "Frag die Rabbis", heißt der Titel. Und gut 90 Minuten fragen Zuhörerinnen und Zuhörer. Nach jüdischen Festen und Bräuchen, nach der Interpretation einzelner Bibelstellen, auch nach Scheidung auf jüdisch.

Irgendwann kommt die Frage, wie die beiden es schafften, im Glauben zusammenzubleiben – der orthodoxe Rabbi und die liberale Rabbinerin. Eine typische Katholikentags-Frage heute, wo doch bei Kirche viel von Spaltung die Rede ist. "Was uns vereint, ist ja schon der Antisemitismus", sagt Itkin spontan. "Wir stehen vor den gleichen Bedrohungen." Da ist das Thema wieder.

Mehr sichtbare Solidarität

Beide klagen im Gespräch mit der DW nicht über konkrete Ängste. Aber Verzhbovska schildert nachdrücklich, wie wichtig sie es fände, wenn es mehr sichtbare Solidarität mit dem jüdischen Leben in Deutschland gäbe, auch mehr Demonstrationen. Und wenn auch an der Basis mehr Menschen voneinander wüssten, Itkin verweist auf Freundschaften von Juden und Christen, die mit offiziellen Dialogen begonnen hätten. Solche Freundschaften seien gerade in heutigen Zeiten wichtig, wo der Druck wachse.

Doron Kiesel steht in einer Erfurter Kirche am Rednerpult
Der Soziologe Doron Kiesel bei seinem Vortrag in Erfurt Bild: Christoph Strack/DW

Wie verunsichert, ja erschüttert er selbst ist, verdeutlicht bei einem anderen Podium der Soziologe Doron Kiesel, Direktor des Bildungswerks des Zentralrats der Juden und künftige Leiter der Jüdischen Akademie, die derzeit in Frankfurt/Main gebaut wird. Eigentlich geht es bei dem Panel um "Interreligiösen Dialog als Brückenbauer".

Dann hat Kiesel, ein feinhumoriger und eigentlich stets zuversichtlicher Mensch, zunächst das Wort. Und er schildert, dass mit dem schrecklichen Terror des 7. Oktober alle Überzeugungen von Dialog und Miteinander zusammengebrochen seien, spricht von "extremen Zweifeln", von der Rückkehr traumatischer Erfahrungen, die einst die Eltern in der NS-Zeit und der drohenden Vernichtung gemacht hätten, von fehlender Empathie der deutschen Gesellschaft, von Kälte, vom Tiefpunkt interkultureller Debatten. Er kommt auf "das lange Schweigen der Kulturszene", spricht von "Täter-Opfer-Umkehr", beklagt, dass man die "eliminatorische Tendenz" des Hamas-Terrors ignoriere. Kiesels Worte wirken nicht wie eine Anklage, eher wie ein biblischer Klagetext.     

Und dann? Podiumsgespräch? Gleich nach Kiesel soll Tarek Badawia sprechen, an der Universität Erlangen islamischer Religionspädagoge mit palästinensischen Wurzeln. Er sagt, er wolle erst mal nichts sagen. Schweigen. Und dann schafft er die Erwiderung. Badawia spricht von Kiesels Fassungslosigkeit und schildert eigenen Schmerz. So bleiben zwei, die verletzt sind, einander in Trauer zugewandt. Auch das ist Katholikentag.

Friedrich Merz
Friedrich Merz, CDU-VorsitzenderBild: Jens Krick/Flashpic/picture alliance

Von den Politikern, die dieser Tage nach Erfurt kommen, gehen wenige ausgiebig auf das Thema ein. Deutlicher als andere politische Vertreter war CDU-Chef Friedrich Merz geworden, der sich bei einem Empfang der parteinahen Konrad-Adenauer-Stiftung am Rande des Christentreffens äußerte.

Da betonte er zunächst das Recht Israels, sich mit militärischen Mitteln gegen den Terror der Hamas zu verteidigen und für die Freilassung der Geiseln zu kämpfen. Und mahnte dann weit mehr Engagement gegen Judenhass in Deutschland an. Dazu gehöre auch, dass "die Wissenschaft, die Medien, die Kunst und die Kultur klarstellen" müssten, "dass es in ihren Reihen keinen Raum für antisemitische Ansichten gibt". Der Kampf gegen Antisemitismus sei "unverhandelbare Verpflichtung eínes jeden Staatsbürgers unseres Landes".

Anschläge - deutsche Wirklichkeit 

Viele Worte der Solidarität für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland während der Tage von Erfurt. Etwas abseits der beschaulichen Innenstadt-Gassen, am Juri-Gagarin-Ring, steht die "Neue Synagoge". Sie heißt "neu" nicht nur, weil unten in der Stadt die Alte Synagoge steht. Nein – am Ort der "Neuen Synagoge" stand bis zur Zerstörung durch die Nazis 1938 ein großer, repräsentativer Kuppelbau.

Die Neue Synagoge in Erfurt. Der Bau wird von zahlreichen Videokameras überwacht. Vor dem Bau steht ein Modell der Vorgängersynagoge, die die Nazis 1938 zerstörten.
Die "Neue Synagoge" von Erfurt. Davor ein Modell des 1938 zerstörten Baus. Bild: Christoph Strack/DW

Das jetzige, 1952 eingeweihte Gotteshaus, eine von nur zwei in gut vierzig Jahren DDR errichtete Synagoge, spiegelt die jüngste Geschichte jüdischen Lebens wider. Im Jahr 2000 verübten drei junge Rechtsextremisten einen Brandanschlag, im November 2023 versuchten es dann zwei libysche Asylbewerber. Wenn der Katholikentag vorbei ist und die starke Polizeipräsenz in der Stadt verschwunden, werden Erfurts Jüdinnen und Juden sich hier wieder in Ruhe zum Gebet versammeln, sorgsam beäugt von vielen Überwachungskameras.