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Politik

"Eurozentrische Arroganz gegenüber China"

Hans Spross
30. April 2020

Peking hat massenhaft Masken und andere Medizingüter ans Ausland geliefert und seine Epidemie in den Griff bekommen. Trotzdem sieht es sich fälschlich beschuldigt. Der Sinologe Felix Wemheuer versucht eine Erklärung.

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Reporter ohne Grenzen: Die Welt hat Chinas Zensur zu spüren bekommen
Bild: picture-alliance/dpa/AP/N. H. Guan

DW: Herr Wemheuer, wird Chinas Erfolg bei der Eindämmung der Epidemie vom Ausland zu wenig gewürdigt?

Wemheuer: Für eine abschließende Bewertung des Erfolgs oder Misserfolgs einzelner Länder ist es noch zu früh. Festzustellen ist, dass die chinesische Regierung seit der Abriegelung von Wuhan am 23. Januar durch strenge Ausgangssperren, eine großangelegte Mobilisierung von Ärzteteams, Logistiktruppen der Volksbefreiungsarmee, Parteimitgliedern sowie den Einsatz digitaler Überwachung versucht hat, die Ausbreitung der Epidemie zu stoppen. Bei der Berichterstattung über China wurde anfangs selten wahrgenommen, dass die Regierung in kurzer Zeit eine große Testkapazität aufgebaut hat. Strategien von Ländern wie Deutschland, die "Durchinfizierung" der Gesellschaft nur zu verlangsamen, konnte in einem Land mit über 1,3 Milliarden Menschen keine Option sein. Die globalen Folgen wären nicht auszudenken, wenn an der Spitze Chinas Politiker stehen würden, die sich wie anfangs in Großbritannien für eine Strategie der Herstellung einer sogenannten Herdenimmunität entschieden hätten.

Prof. Dr. Felix Wemheuer Universität Köln
Felix Wemheuer ist Professor vom Ostasiatischen Seminar an der Universität KölnBild: privat

"Begrenzte Nachahmung des chinesischen Wegs"

Haben gewisse Scheuklappen oder Vorurteile gegenüber China die Einstellungen hierzulande beeinflusst, wie man auf die Bedrohung durch das neuartige Virus reagieren sollte?

Die eurozentrische Arroganz war bei vielen deutschen Politkern und Journalisten im Februar noch so groß, dass sie noch nicht einmal die Frage gestellt haben, was man von den demokratischen asiatischen Ländern wie Südkorea lernen könne. Zunächst wunderte man sich über "mittelalterliche Maßnahmen" Chinas wie Massenquarantäne, Ausgangssperren und Maskenpflicht. Schließlich setzte am 9. März Italien als erstes europäisches Land eine landesweite Ausgangssperre durch. Nun ziehen auch deutsche Bundesländer mit der Maskenpflicht nach. Die chinesischen Maßnahmen wurden schließlich teilweise vom Westen übernommen.

Es gibt aber auch Maßnahmen, die im Westen schwerlich akzeptiert würden...

Richtig, in den meisten europäischen Ländern gelten nur Ausgangsbeschränkungen. Bei Zuwiderhandlung droht ein Bußgeld. Im städtischen China sind die meisten Wohnanlagen ummauert. An Eingangstoren wurden Vertreter der Nachbarschaftskomitees und Kommunistischen Partei postiert, die Ein- und Ausgangsgenehmigungen kontrollieren. Genehmigungen zum Einkaufen wurden oft nur auf ein Familienmitglied beschränkt. Das war für viele Menschen eine harte Ausgangssperre.

Seit der vorsichtigen Öffnung setzen die Behörden auch verstärkt digitale Überwachungstechnologien in Form von Apps zur Nachverfolgung der Infektionsketten und zur Durchsetzung von Quarantänemaßnahmen ein. Vor einer digitalen Überwachung durch Apps schreckt man in Deutschland bisher zurück.

"Systemvergleich erklärt nicht viel"

Die anfängliche Reaktion Chinas auf den Ausbruch des Virus wurde als typische Reaktion eines diktatorischen Einparteienstaates analysiert, auch von internen Kritikern.

Es ist offensichtlich, dass vor allem die Behörden in Wuhan in den ersten zwei Januarwochen eine unrühmliche Rolle bei der Unterdrückung von Warnungen gespielt haben. Aber bei dieser globalen Epidemie kann die schematische Gegenüberstellung von autoritären und demokratischen Systemen wenig zur Erklärung beitragen, warum Länder von der Epidemie unterschiedlich stark getroffen werden. In jüngster Zeit wird zum Beispiel Vietnam in westlichen Medien für die schnelle und konsequente Reaktion ab Mitte Januar sowie die breite Aufklärung der Öffentlichkeit gelobt. Das politische System ist bekanntlich wie in China eine Ein-Parteienherrschaft. Informationsfreiheit alleine ist keine Garantie für eine schnelle Einleitung von Maßnahmen gegen eine Epidemie, wie die Beispiele der USA und der Skiindustrie in Tirol zeigen. Auch Profitstreben kann ein Grund für Vertuschung sein.

Eingeschränkte Freiheitsrechte

Auch im Westen werden zur Bekämpfung der Pandemie Freiheitsrechte eingeschränkt. Die Leute sind damit zum großen Teil einverstanden, z. B. in Deutschland, wie eine jüngste Allensbach-Umfrage  ergeben hat. Das ist aber doch etwas anderes, als die im Westen mit Erstaunen zur Kenntnis genommene Gleichgültigkeit, mit der die Chinesen soziale Kontrollmechanismen und Zensurmaßnahmen akzeptieren. Oder sehen Sie eine Vergleichbarkeit der beiden Phänomene?

Im diesem Zusammenhang sollten wir den Einfluss der chinesischen Tradition verstehen, dass Naturkatastrophen und Seuchen Anzeichen für den Verlust des "Mandat des Himmels" eines Herrschers gesehen werden. Das bedeutet, dass nur Herrschaft als legitim gilt, die in der Lage ist, die Folgen von diesen Katastrophen für die Bevölkerung zu mildern. Auch die Kommunistische Partei hatte nach 1949 die Ausrottung von Seuchen zu einem zentraler Ziel erklärt. Die derzeitige Epidemie zeigt, dass die Erwartungen an den Staat in der chinesischen Bevölkerung hoch sind, aber auch die Bereitschaft im Kampf gegen die Seuche selbst persönliche Opfer zu bringen.

Das heißt aber nicht, dass alle Maßnahmen widerspruchlos hingenommen werden. Als einige übereifrige lokale Funktionäre Wohnungen von Rückkehrern aus Wuhan von außen abriegeln ließen oder Menschen demütigten, die keine Masken trugen, brach in den sozialen Medien Empörung los. Allerdings machten auch Sprüche die Runde wie: "Mit Quarantäne gibt es keine Menschenrecht, ohne keine Quarantäne keine Menschen mehr".

In Deutschland sind die Einschränkungen bisher viel kürzer und milder als in China. Die Ausgangsperre in Wuhan dauerte immerhin 76 Tage. Die chinesische Regierung war bereit, für ihre Maßnahmen dem Land große wirtschaftliche Verluste aufzubürden. In Deutschland haben sich schon seit Wochen wirtschaftliche Interessensgruppen und ihre Verbündeten in Politik, Wissenschaft und Medien in Stellung gebracht, um eine schnelle Öffnung durchzusetzen. Sie wollen der deutschen Bevölkerung vermitteln, das alles bald vorbei sei, obwohl wir wahrscheinlich erst am Anfang der ersten Infektionswelle stehen.

Konfrontation China - USA

Inwieweit glauben Sie wird es oder kann es Xi Jinping gelingen, die Corona-Pandemie für sein Ziel zu nutzen, China zur Weltmacht zu führen und den "chinesischen Traum" zu verwirklichen?

Leider erleben wir im Moment, dass die Fragen des Ursprungsorts von Covid-19 sowie die verschiedenen Strategie zur Bekämpfung der Pandemie Gegenstand eines Propagandakrieges zwischen der amerikanischen und chinesischen Regierung geworden sind. Trump lobte im Februar Xis Maßnahmen gegen die Seuche mehrfach per Twitter. Als sein eigenes Versagen immer deutlicher wurde, starteten seine Partei und verbündete Medien einen propagandistischen Generalangriff auf China. Trumps Angriffe schaden der chinesischen Regierung einerseits. Anderseits nutzt es ihr aber, dass die Pandemie den desolaten Zustand des amerikanischen Gesundheitssystems und des politischen Establishments deutlich offen gelegt hat. Chinas Form der Bekämpfung der Pandemie wird als politisches und moralisches Vorbild für die Welt dargestellt.

In einer konfuzianisch geprägten Kultur wird bis heute die kindliche Pietät gegenüber Eltern und Alten hoch geschätzt. Da kommt es nicht gut an, wenn republikanische Gouverneure offen fordern, Alte und Schwache zu opfern. Das sind alles Vorlagen, die von chinesischer Propaganda, besonders in den sozialen Medien, dankbar angenommen werden nach dem Motto "Seht her, Menschenleben zählen in den USA nichts".

Für die Verwirklichung des "chinesischen Traums" von einem hoch entwickelten Industrieland und einer Weltmacht lässt sich die chinesische Regierung noch bis 2049 Zeit. Es ist mittlerweile Ziel sowohl der republikanischen als auch demokratischen Parteiführungen in den USA, den Aufstieg Chinas zu stoppen. Der neue "Kalte Krieg" kommt zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Wenn die Weltgemeinschaft keine gemeinsame Antwort auf die globale Herausforderung dieser und der nächsten Pandemie findet, ist die Zukunft düster. 

 

Felix Wemheuer ist Professor für Moderne China-Studien an der Universität zu Köln. Seine jüngste Publikation ist "Chinas große Umwälzung: Soziale Konflikte und Aufstieg im Weltsystem".

 

Das Interview führte Hans Spross.