Wehrpflicht auch für ultraorthodoxe Juden in Israel
27. Juni 2024Es ist eine Entscheidung von historischer Bedeutung. Und sie hat das Zeug, dem Staat Israel innenpolitisch neue Turbulenzen zu bescheren und einen schwelenden Kulturkampf zu befeuern. Der Oberste Gerichtshof Israels hat in einem ungewöhnlichen Schritt einstimmig entschieden, dass auch ultraorthodoxe Juden wehrpflichtig sind und zur Armee müssen.
Wer sich weigert, soll nicht weiter durch staatliche Gelder unterstützt werden. Eine gesetzliche Ausnahmeregelung, die strenggläubige Juden vom Militärdienst befreite, war im März 2024 ausgelaufen.
Verschiedene Richtungen im Judentum
Ultraorthodoxe werden im Hebräischen als "Charedim" bezeichnet, im Englischen auch als "Haredim", im Deutschen ebenso, aber anders ausgesprochen, als "Haredim". Das Wort "fromme Juden" taucht gelegentlich auf, trifft es aber nicht genau.
Die jüdische Gemeinschaft kennt, anders als das Christentum, keine Konfessionen oder Denominationen. Aber sie unterscheidet zwischen säkularen und liberalen, konservativen, orthodoxen und ultraorthodoxen Jüdinnen und Juden. Gruppen und Milieus, die sich stark voneinander unterscheiden.
Wer ist demnach überhaupt ultraorthodox? Maßgeblich ist der Umfang und die Konsequenz, mit der der oder die Einzelne die Vorschriften der schriftlichen und der mündlichen Überlieferung von Gottes Geboten auslegt. Der ultraorthodoxe Flügel bemüht sich um wortwörtliche Auslegung und will seinen Alltag konsequent daran ausrichten. Strikt im Mittelpunkt stehen das Gebet und das Leben nach den Geboten. Nicht selten sind prominente Rabbiner an der Spitze einzelner hierarchisch geprägter Bewegungen.
Geschlechtertrennung im Bus
Das berührt sehr viele Fragen des privaten und öffentlichen Lebens. So weigern sich zum Beispiel ultraorthodoxe Juden in Jerusalem, gemeinsam mit Frauen im gleichen Linienbus zu fahren. Entsprechend gibt es bei einer Busverbindung zwischen der Klagemauer und dem Wohngebiet vieler ultraorthodoxer Juden nach Geschlechtern getrennte Busse.
Die Konflikte zwischen strengreligiösen und säkularen Juden werden schärfer. Zuletzt fanden Veranstaltungen wie die "Pride Parade" in Jerusalem nur unter massivem Polizeischutz statt.
Solche Auseinandersetzungen sind nicht neu. So starb 1966 der Künstler David Palombo mit 46 Jahren, als er mit seinem Motorrad in eine Metallkette fuhr. Ultraorthodoxe hatten sie über eine Straße gespannt, um am Schabbat jeden Verkehr in ihrer Nachbarschaft zu verhindern.
Geburtenrate der Ultraorthodoxen steigt an
Ultraorthodoxe Familien haben eine weitaus höhere Geburtenrate als andere Familien in Israel. So steigt der Anteil der Ultraorthodoxen an der Bevölkerung seit Jahrzehnten kontinuierlich an. Vor gut 40 Jahren betrug er nur rund vier Prozent, heute sind es etwa zwölf Prozent. In gut 25 Jahren soll ihr Anteil bei über 20 Prozent liegen.
Vor einigen Jahrzehnten waren nur einige Nachbarschaften von Jerusalem ultraorthodox geprägt. Touristen besuchten das Viertel Mea Shearim, in dem man ein wenig orthodoxen Alltag erleben konnte. Heute prägt ultraorthodoxer Lebensstil weite Teile der Stadt. Die zweitwichtigste Stadt mit ultraorthodoxer Bevölkerung in Israel ist Bnei Brak nordöstlich von Tel Aviv.
International gibt es heute vor allem in den USA, im New Yorker Stadtteil Brooklyn und im benachbarten Bundesstaat New Jersey, Gemeinschaften von "Haredim". Bis zur Shoa und zum millionenfachen Mord der Juden durch Nazi-Deutschland lebten vor allem in Osteuropa viele ultraorthodoxe Juden. Millionen von ihnen wurden in den deutschen Gaskammern ermordet.
Wachsender Einfluss in der israelischen Politik
In der heutigen israelischen Politik gibt es Parteien, die konsequent die Anliegen der Ultraorthodoxen vertreten und zum Beispiel in den vergangenen Jahrzehnten einen massiven Ausbau strengreligiöser Schulen durchgesetzt haben.
In der aktuellen Koalition von Benjamin Netanjahu, die zu Teilen rechtsextrem ist, sind das die ultraorthodoxen Parteien Shas und Vereinigtes Thora-Judentum. Sie drohen nun mit dem Rückzug aus der Regierung.
Oberstes Gericht für Ultraorthodoxe nur weltliche Instanz
Seit dem Terrorangriff der radikal-islamistischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 wächst die Bedrohung für Israel und sein Militär, vor allem an der Nordgrenze. Weil der Militäreinsatz im Gaza-Krieg andauert, will das Militär auch auf ultraorthodoxe Männer zurückgreifen. Gut 300 Männer und Frauen in Uniform wurden nach Angaben des israelischen Militärs bereits getötet.
Nun will das Oberste Gericht Israels dafür sorgen, dass die Politik entsprechend handelt. Spannend bleibt die weitere Entwicklung. Denn Israel als Staat hat keine streng festgeschriebene Verfassung. Für ultraorthodoxe Juden hat das Oberste Gericht als weltliche Instanz letztlich keine große Bedeutung.