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Glaube

Weg und Wahl

30. September 2023

„Mein Weg soll nicht in Ordnung sein? Sind es nicht eure Wege, die völlig falsch sind?“ So streitet Gott mit seinem Volk im Buch Ezechiel. Und bis heute ist dieser Streit um den richtigen Lebensweg nicht beigelegt.

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Bergisches Land, Höhenweg
Bild: Christoph Buysch

 „Mein Weg zum Erfolg!“ 
„Mein Weg zu einer besseren Ernährung!“ 
„Mein Weg zu mehr Fitness in 48 Tagen!“ 
„Mein Weg zu mehr Achtsamkeit!“ 
Auf allen Kanälen überfluten mich heute die Vorschläge, wie ich nicht nur reich und berühmt, sondern auch noch gesund und fit und dabei sogar achtsam und zufrieden werde. Und zudem meine Familie und meinen Job im Griff habe. Und immer ist es jemand anderes, die oder der mir ihren bzw. seinen Weg als den besten vorstellt. Die Qual der Wahl, oder? Denn ich kann ja nicht alle Wege gehen. 

Also muss ich wählen zwischen den vielen Wegen, die mir ein Mehr versprechen: mehr Gesundheit, mehr Zufriedenheit, mehr Reichtum, mehr Irgendetwas. Dabei ist die Summe all dieser Suchen und Wünsche doch nur eines: Mehr vom Leben zu haben. 
Mehr Leben. Es ist merkwürdig, gerade von dem mehr haben zu wollen, was mir zu Beginn meines Lebens einfach so geschenkt wurde. Der Beginn meines Weges wurde gesetzt, möglicherweise durch die Wahl meiner Eltern, aber sicher nicht durch meine eigene. Vielleicht war er auch Zufall und Irrtum, wer weiß es schon. Und auch das Ende meines Lebens liegt nicht in meiner Hand, kann so plötzlich und zufällig kommen wie sein Beginn. Wie kann ich mir da eigentlich anmaßen, dass „mein Weg“ überhaupt zu einem „mehr Leben“ führen kann? 

Elie Wiesel hat das so gesehen. Der große jüdische Schriftsteller und Nobelpreisträger, der heute vor 95 Jahren in einer Kleinstadt in Rumänien geboren wurde. Als Jugendlicher mit seinem Vater nach Auschwitz deportiert und 1945 von den Amerikanern aus dem Konzentrationslager Buchenwald gerettet, beschäftigte ihn sein ganzes Leben lang die Frage nach dem Sinn seines Lebenswegs. Schließlich hatte er 1945 in den Spiegel geschaut und dort einen Toten gesehen, einen, der eigentlich gar nicht mehr leben sollte. Er war aber noch da. Und lebte. Trotz allen Vernichtungswillens der Nazis. 

Die Basis seines Denkens war daher immer und unumstößlich: Mein Leben – und auch mein Weiterleben – ist kein Zufall. Es ist Geschenk und ich treffe daher immer die Wahl, es anzunehmen. Bei allem Schlechten und allen Katastrophen, die einem das Leben bietet, gilt daher immer ein „Trotzdem“! Immer und überall ist das Leben zu wählen – das eigene wie auch das der Nächsten. Dies schreibt Elie Wiesel wieder und wieder in seinen Büchern und Erinnerungen. Ein Jude solle das Leben wählen, sein eigenes Leben und das seiner Mitmenschen im Hier und Jetzt. Es gibt keine Wahl gegen das Leben und auch keine egoistische Wahl, das eigene Leben auf Kosten der anderen zu leben. Es gibt nur einen Weg: mehr Leben für alle. 

Aber wie dieser eine Weg aussieht, darum rang nicht nur Elie Wiesel sein Leben lang, darum ringt jede und jeder von uns immer wieder. Und die Sehnsucht nach dem rettenden Wegweiser prägen auch die Lesungstexte des heutigen Sonntags. Da findet sich die ganze Vielfalt biblischen Denkens: Spricht das Volk Israel beim Prophet Ezechiel Gott selbst ab, den rechten Weg zu kennen, bitte der Psalmenbeter wiederum Gott um die Erkenntnis des richtigen Weges. 

Elie Wiesels Erkenntnis lässt sich mit einer frommen jüdischen Geschichte umreißen, die er selbst erzählt hat. Darin wird ein Rabbi gefragt, wie Gott, der vollkommen ist, diese Welt geschaffen haben mag, die ja wohl kaum vollkommen genannt werden kann. Dieser antwortet darauf: „Würdest du es besser machen?“ Der Angesprochene meint daraufhin: „Ja, vielleicht schon.“ Woraufhin der Rabbi ausruft: „Aber worauf wartest du dann? Mach dich sofort an die Arbeit!“ 

Gott hat das Leben geschaffen, hat unser Leben geschaffen. Und unser Leben sollte daher nur einen Weg kennen: Ebenfalls mehr Leben zu schaffen. Das eigene Leben dankbar annehmen und das Leben aller, die um uns sind, nach bestem Wissen und Gewissen ebenfalls anzunehmen. Das wird mein Weg. 
  
Christoph Buysch  
 
geb. 1974, Studium der Theologie, Germanistik und Politikwissenschaften in Bonn, Jerusalem,  Münster und Dortmund, Promotion in Theologie. Unterrichtet Deutsch und Religionslehre am Franz-Jürgens-Berufskolleg in Düsseldorf, schreibt für Bistumspresse, Kirche im WDR und andere Gelegenheiten, ist verheiratet und hat zwei Kinder.