Plädoyer für eine neue Kulturförderung
19. März 2012Deutsche Welle: Ihr Buch sorgt für sehr viel Aufmerksamkeit. Das müsste Ihnen doch gefallen?
Pius Knüsel: Wir freuen uns, dass eine Diskussion in Gang kommt. Das ist keine Frage. Das Buch wurde auch geschrieben, um ein Tabu aufzubrechen: nämlich, dass es in der Kulturpolitik immer nur um Geld, vor allem um immer mehr Geld gehen soll. Das zweite ist, dass Kultur notwendigerweise immer gebaute Kultur - Theaterhäuser, Opernhäuser, Museen - sein muss. Diese beiden großen Themen gehen natürlich ins Zentrum dessen, was man heute unter Kulturförderung versteht.
Was sind die strittigen Punkte, die derart provozieren?
Wir denken, dass wir - wenn man so will - den Heiligenschein der Kultur demolieren. Heiligenschein meint, dass in den vergangenen 30 Jahren die Kultur auf den politischen Agenden weit nach oben gerutscht ist und zu einem Universalheilmittel geworden ist: Für die Stadtentwicklung, für den Standortwettbewerb, für die Integration der Immigranten, für die Bildung, für die Intelligenz, für die Lebensqualität – fast für alles.
Dadurch hat sie einen Status gewonnen, der es verhindert, dass man nach der Wirksamkeit und nach der Effektivität von kulturpolitischen Maßnahmen noch fragen kann und darf. Dies wollen wir zurückdrehen und sagen: Doch, man muss sich überlegen, was heißt es eigentlich, Kultur zu fördern? Welche Effekte hat das und welche unerwünschten Folgen bringt das mit sich? Diese Frage verstört viele Menschen, weil sie sich sofort in ihrem Besitzstand beleidigt, verletzt oder angegriffen fühlen.
Sie diagnostizieren den Kulturinfarkt. An welchen Stellen ist unser System der Kulturförderung verbesserungsbedürftig?
Wir gehen in erster Linie von der Situation in Deutschland aus. Die Haushaltskrise der letzten Jahre hat die kulturelle Infrastruktur in die Krise geführt. Überall wird über Schließungen diskutiert. Doch überall heißt es: Theater, Museen und andere Kultureinrichtungen darf man nicht schließen. Sie sind gewissermaßen unberührbar.
Unsere Frage ist eigentlich ganz einfach: Ist das wirklich so? Oder ist die Diskussion um das fehlende Geld die falsche Diskussion. Sollte man nicht darüber sprechen: Was hat die Kulturpolitik in den vergangenen 30 Jahren mit dem massiven Ausbau der kulturellen Infrastruktur erreicht und vor allem – was hat sie nicht erreicht?
Sie hat eine sehr große Vielfalt des Angebots, auch eines hochklassigen Angebots erreicht. Das ist unbestritten, das wollen wir auch anerkennen. Was sie aber nicht erreicht hat, ist, über die üblichen fünf oder vielleicht zehn Prozent der Bevölkerung hinaus die Menschen wirklich für diese Form von Kultur zu interessieren. Dass wir das wirklich in Frage stellen und uns überlegen, gäbe es jenseits der gebauten Kultur vielleicht neue Kulturformen, die mehr Menschen erreichen, das bringt die Vertreter des jetzigen Systems auf die Palme.
Wie sehen denn Ihre Verbesserungsvorschläge aus?
Wir denken, dass weniger Infrastruktur nötig ist. Niemand kann doch glauben, dass wir es ernst meinen, alles nur auf die Hälfte reduzieren zu wollen. Wir haben uns für eine ganz einfache und provokative Formel entschieden. Wir meinen, dass es weniger Infrastruktur angesichts des Übergangs ins digitale Zeitalter bräuchte, dass sehr viel mehr mobile Kultur gefördert werden muss.
Die ganze deutsche Kulturpolitik, auch in der Schweiz übrigens, spricht davon, wie wichtig die 'Kulturindustrie' sei. Aber niemand hat den Mut, auch Gelder in diese Kulturindustrie zu lenken, und Filme herzustellen oder vielleicht auch Computerspiele, die erstens einen ästhetischen Kulturanspruch einlösen und zweitens populär sein wollen, weil sie auch auf dem nationalen, internationalen und globalen Markt bestehen wollen.
Wir denken, dass in den Schulen eine wirklich interkulturelle Bildung fehlt. Wir haben viele Mitbürgerinnen und Mitbürger aus der Türkei, aus Albanien, aus dem Kosovo, aber niemand weiß wirklich, was für eine Kultur im strengen Sinne, was für eine Kunst sie pflegen, was die leitenden Werte sind. Wir nehmen sie nur als die Fremden wahr, die wir nicht ganz verstehen.
Wir denken vor allem, dass die neue Generation viel individueller konsumiert und in direktem Austausch mit Gleichaltrigen konsumiert, dass die junge Generation sich sehr viel weniger von den Autoritäten, die ja Institutionen letztlich verkörpern, beeinflussen lässt und sich deshalb auch von den Institutionen abwendet. Wenn Sie die neuen Theaterstatistiken sehen, da gibt es ja Theater, die – wenn die Zahlen stimmen – eigentlich bereits im Minus-Bereich sind, was den Zuschauerzuspruch angeht. Das hat ganz wesentlich mit dem Wegbleiben der jungen Generation zu tun, die lieber auf dem Ipad oder auf dem Smartphone Filme schaut oder miteinander Dinge austauscht.
Für die ältere Generation – und dazu zähle ich uns vier Autoren – sind Social Media etwas Fremdes und schwer Verständliches. Aber es sind Plattformen des sozialen Austausches, in die ganz viele kulturelle Inhalte einfließen. Das muss man ernst nehmen und sehen, dass qualitative Angebote zustande kommen.
Haben Sie sich andere Länder angeschaut, in denen die Kulturförderung besser läuft? Haben Sie nachahmenswerte Ansätze gefunden?
Es gibt einige Ansätze, die im Buch angeführt werden, zum Beispiel in den Vereinigten Staaten. Das ist natürlich wie immer das problematischste Beispiel, weil alle sagen: 'Schrecklich, schrecklich.' Aber es gibt in den USA ein großes Bürgerengagement der unterschiedlichen Communities für ihre Kultur. Das hat Vor- und Nachteile: Die Nachteile sind, dass das Angebot insgesamt dünner ist als bei uns. Die Vorteile sind, dass die Bürger sich immer nach den neuen Ansprüchen, den neuen Werten, den neuen Formen richten und ihr Kultursystem eigentlich ständig umbauen. Das hat zur Folge, dass wir in den USA wenige große Orchester und Museen haben, aber sehr viele experimentelle, neue Formen, aus denen unter Umständen Dinge für die Zukunft entstehen.
Einen anderen Ansatz verfolgt Frankreich. Frankreich ist das erste Land, das in der Kulturpolitik sagt: Es mag gut sein mit all den Museen und Theater, die sie auch nicht antasten wollen. Aber es braucht eine neue Dimension der Kulturpolitik, die sich mit dem Phänomen des individuellen digitalen Konsums beschäftigt und uns Antworten gibt auf die Frage: Wie können wir diese neuen Kanäle nutzen, um kulturelle Inhalte, die uns wichtig sind, zu den Menschen zu bringen, die nicht ins Theater wollen, nicht in die Konzerthalle kommen, die nicht ins Museum gehen?
Dieter Haselbach, Pius Knüsel, Stephan Opitz, Armin Klein: Der Kulturinfarkt. Von Allem zu viel und überall das Gleiche. Eine Polemik über Kulturpolitik, Kulturstaat, Kultursubvention, Knaus Verlag, 2012