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Was trennt Weißrussland von der Demokratie?

10. Oktober 2002

– Exekutivdirektor der Internationalen Helsinki-Föderation nennt sechs Gruppen von Problemen

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Minsk, 9.10.2002, BELORUSSKAJA DELOWAJA GASETA, russ., S. Kriwoschein

Fast immer, wenn sich Regierungen anderer Staaten dieser Welt an Weißrussland erinnern, kann man überzeugt sein, dass sie sich an die Republik wegen der verschollenen Politiker erinnern. Das bestätigte auch der Exekutivdirektor der Internationalen Helsinki-Föderation Aaron Rouds bei einer Pressekonferenz zum Abschluss seines jüngsten Besuches in Minsk.

Die größte Vereinigung von Menschenrechtlern, die direkten Einfluss auf das Ansehen der Staaten im internationalen Maßstab hat, wundert sich über das, was in Weißrussland geschieht, empört sich, versteht es nicht. Geographisch und wirtschaftlich sei Weißrussland kein Land, das auf die Meinung der internationalen Gesellschaft pfeifen könnte. Dessen Regierung gehe jedoch so stümperhaft vor, wie es nur möglich sei. Die westlichen Menschenrechtler können auf das Land weder wirtschaftlichen noch politischen Druck ausüben, sie können weder die Gaslieferung unterbrechen, noch Sanktionen verhängen. Vielleicht beeinflusst ihre Stimme, die im Westen hohes Ansehen genießt, unsere Führung deshalb nicht. Der angesehene Menschenrechtler aus New York und Anthropologe Aaron Rouds hat sechs Gruppen von Problemen (neue und sehr alte) genannt, deren Nichtlösung eben das ist, was heute Weißrussland und die Demokratie trennt.

Erstens die in eine Sackgasse geratenen Beziehungen mit der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. "Wir verstehen nicht", so Rouds, "wieso die weißrussische Regierung die Zusammenarbeit mit der OSZE ablehnt."

Zweitens das für Weißrussland typische Problem mit der Informationsfreiheit. Die westlichen Menschenrechtler stellen fest, dass ein regelrechter Krieg zwischen der Regierung und den Informationsquellen im Land stattfindet. Ernste Besorgnis rufe die Monopolisierung der elektronischen Medien durch den Staat hervor. Die Manipulierung der Wähler und Wahlfälschungen haben nach Ansicht von Rouds eine komische Situation herbeigeführt: von den Abstimmungsergebnissen ausgehend sind die weißrussischen Wähler völlig gleichgültig gegenüber Problemen, die etwas mit ihrem Wohlergehen zu tun haben. Experten der Helsinki-Föderation seien, nachdem sie den neuen Wortlaut des Gesetzes über Massenmedien studiert haben, zur Schlussfolgerung gekommen, dass dieses nicht transparent sei. Das Inkrafttreten dieses Gesetzes, so Rouds, könnte den Zugang der Bevölkerung zum Internet einschränken.

Drittens wäre es nach Ansicht der Menschenrechtler richtig, den neuen Gesetzentwurf über das freie Glaubensbekenntnis als "Gesetz gegen das freie Glaubensbekenntnis" zu bezeichnen. Es sei schwer zu verstehen, wieso die Bürger Weißrusslands nicht das Recht haben dürfen, Gottesdienste in ihren eigenen Häusern abzuhalten. Auch nicht, wieso der Staat eine einzige religiöse Konfession bevorzugen muss. Darüber hinaus verletze dieses Gesetz die Verpflichtungen des Landes gegenüber der OSZE.

Viertens ruft der Umgang mit den Gewerkschaften Verwunderung bei Rouds hervor. Seiner Meinung nach versteht der Präsident nicht, dass das im Prinzip keine staatlichen Einrichtungen sind, wie er auch viele andere Dinge nicht versteht. Die Umwandlung der Gewerkschaften – einer Struktur der bürgerlichen Gesellschaft – in Diener der Regierung verband Rouds mit der willkürlichen Festnahme der Leiter einer Reihe großer weißrussischer Betriebe.

Fünftens das Problem der Todesstrafe. Sowohl die Menschenrechtler als auch die OSZE setzen sich gegen die Todesstrafe ein. (...) Die Abschaffung der Todesstrafe oder wenigstens ein Moratorium auf die Vollstreckung sei eine Forderung der Zivilisation, um deren Umsetzung die Menschenrechtler sogar in Staaten mit unabhängigem Gerichtswesen wie den USA hart kämpfen.

Und letztendlich das Problem des spurlosen Verschwindens von Politkern. Aaron Rouds hob besonders hervor, dass Menschenrechtler, die OSZE und auch der Europarat die Ermittlungen in diesen Fällen aufmerksam beobachten, die außergerichtlichen Hinrichtungen so ähnlich sind. Das sei eine weißrussische Besonderheit, die im Bewußtsein der Bürger anderer Staaten eng mit dem Bild Weißrusslands zusammenhänge. Das Verschwinden so bekannter Politiker sei einmalig in Europa. Es müsse (ist es jedoch vorläufig nicht) eine Ehrensache der weißrussischen Regierung sein, zu beweisen, dass sie nichts mit dem Verschwinden dieser Politiker zu tun habe. Die Ermittlungen in diesen Fällen seien absurd. Der Vizevorsitzende des Weißrussischen Helsinki-Komitees Garri Pogonjajlo, der ebenfalls bei der Pressekonferenz von Aaron Rouds anwesend war, teilte den anwesenden Journalisten mit, die Ermittlungsrichter hätten bekräftigt, dass Gontschar, Sacharenko und Sawadskij gewaltsam entführt wurden, dass sich dahinter keine persönlichen oder kriminellen Motive verbergen. Seitdem die Ermittlungsrichter zur Schlussfolgerung gekommen seien, dass das einzige Ziel dieser Entführungen die physische Vernichtung der Politiker gewesen sei, stocken die Ermittlungen. (...) (lr)