Tierisches Wissen
21. Juli 2014Deutsche Welle: Frau Lenzen, wie sind Sie auf die Idee gekommen, sich mit dem medizinischen Wissen der Tiere zu befassen?
Manuela Lenzen: Angefangen hat es mit meinem Kaninchen. Es ist im Garten umher gehoppelt und hat sich vom Raps des Nachbarn bedient. Normalerweise sollen Kaninchen kein Kohlgemüse fressen… Und ich dachte "Ob das mal gut geht?" Später sah ich es auf dem Komposthaufen Holzkohle fressen. Kohle wird ja auch gegen Durchfall eingesetzt. Ich hab mich daraufhin gefragt, ob das Tier weiß, dass Holzkohle gegen seine Verdauungsbeschwerden hilft.
Gibt es ein Tier, dessen medizinisches Wissen Sie besonders beeindruckt?
Ich habe mich über die Kenntnisse der Insekten gewundert. Bekannter ist es, dass die nicht-menschlichen Primaten über Kenntnisse von Heilpflanzen verfügen. Schimpansen zum Beispiel legen weite Wege zurück, um Pflanzen zu finden, die keinen Nährwert haben. Sie bereiten diese Pflanzen zu, indem sie sie abschälen oder falten und unzerkaut herunterschlucken.
Dass auch Insekten Selbstmedikation betreiben, ist weniger bekannt. Aber sie tun es: Sie legen zum Beispiel ihre Eier zum Schutz vor Parasiten in vergärende Früchte.
Kann sich der Mensch von dem Wissen der Tiere etwas abschauen?
Die meisten Arzneimittel gehen auf Heilpflanzen zurück. Deshalb haben Forscher großes Interesse daran, neue Pflanzen und ihre medizinische Wirkung zu entdecken. Es gibt in der Ethnobotanik und Ethnomedizin viele Geschichten von Menschen, die kranken Tieren in den Urwald gefolgt sind und beobachtet haben, welche Pflanzen sie zu sich nahmen. Und dass sie diese dann auch selbst ausprobiert haben und so neue Erkenntnisse über die Heilkraft von Pflanzen gewonnen haben.
Wie geben Tiere ihr Wissen über die Heilpflanzen an ihre Nachkommen weiter?
Säugetiere erlernen das. Schafe und Schimpansen zum Beispiel schauen sich von ihren Eltern ab, was man wann essen kann. Bei Insekten geht man hingegen davon aus, dass das Wissen genetisch vererbt wird.
Wie kann der Mensch von den medizinischen Kenntnissen der Tiere profitieren?
Würde der Mensch zum Beispiel die Fähigkeit zur Selbstmedikation von Nutztieren stärker nutzen, könnte er den Masseneinsatz von Antibiotika in der Landwirtschaft verringern. So hat der Forscher Juan Villalba von der Utah State University herausgefunden, dass Paarhufer bevorzugt Futterpflanzen mit hohem Gerbstoffgehalt fressen, wenn sie unter Wurmbefall leiden. Ist die Infektion bekämpft, kehren sie zu ihren gewöhnlichen Fressvorlieben zurück. Das setzt natürlich voraus, dass die Tiere Zugang zu solchen Futterpflanzen haben und dass sie es in der Herde lernen und das Wissen weitergeben können.
Die Philosophin Manuela Lenzen beschäftigt sich als Buchautorin und Journalistin unter anderem mit Evolution, Kognition und künstlicher Intelligenz. Sie arbeitet zudem am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung (ZIF) der Universität Bielefeld.
Das Interview führte Philine Paul.