Warum war die Nacht so lang?
29. April 2022Den Menschen, die ihn in mehr als zweitausend Konzerten hörten, brachte er Freude, Nachdenklichkeit, den Mut, wieder an einen Sinn im Leben zu glauben. Sein Gott war ein Menschenbruder: Seigneur, mon ami, „Herr, du mein Freund“, hieß eines seiner beliebtesten Lieder. Doch er selbst glitt immer tiefer in Einsamkeit und Verzweiflung hinein und fand nicht heraus.
Aimé Duval verbrachte eine glückliche Kindheit in einem Vogesendorf, bei liebevollen Eltern und fröhlichen Geschwistern, in der „Gewissheit, dass Gott gut ist“. Dieses Vertrauen wollte er auch den anderen vermitteln, vor allem denen, die im Leben zu kurz gekommen waren, den Traurigen und Hoffnungslosen. In Cafés und Kneipen erzählte der junge Jesuitenpater Duval von seinem tröstenden Gott.
Dann begann er zu singen, mit seiner etwas heiseren, eindringlichen Stimme: Von der Straße mit dem langen Zaun, über die Gott unerkannt wandert, um für die Menschen zu sorgen. Von den „Kindern der Nacht“, den Angstgequälten, die nicht schlafen können und auf etwas warten, was sie nicht benennen können. Vom staunenden Glück bei der Wiederkunft des Herrn:
„Wir werden alles für ihn sein, wenn er kommt.
Und die Tränen unseres Lebens wird er trocknen, wenn er kommt.“
Zwei Millionen Kilometer hat er auf seinen Konzertreisen durch mehr als vierzig Länder zurückgelegt. Die Menschen lieben ihn, sie vertrauen ihm ihre Sorgen an, ihre Armut, Demütigungen und Ängste, Jahre um Jahre. Pater Aimé zerbricht unter dieser Last. Fast jeden Tag ist er unterwegs auf endlosen Autobahnen, jede Nacht schläft er woanders, Freunde hat er kaum, die Mitbrüder sind weit weg oder verstehen seine Lebensweise nicht.
Schließlich kann er die Konzertbühnen nur noch betreten, wenn er genug Alkohol intus hat, und ohne Tabletten keinen Schlaf mehr finden. „Der Wein hat mir auch geholfen, meine Lieder zu machen, er hat ihnen den besonderen Akzent gegeben, einen nostalgischen oder zornigen, einen der Ohnmacht oder der Sehnsucht.“
An einem Februarabend 1969 versucht er sich mit Tabletten das Leben zu nehmen. „Ich war sehr aufgeregt bei dem Gedanken, der anderen Welt so nahe zu sein (...). Endlich würde man alles verstehen können, das Böse, die Dummheit der Menschen und vor allem den rätselhaften Starrsinn Gottes, sich zu verbergen.“
Ein Bekannter kommt zufällig vorbei, bringt ihn ins Krankenhaus, wo man endlich die niederschmetternde, aber auch befreiende Diagnose stellt: „Alkoholismus“. Aimé hört auf, zu trinken. Natürlich gibt es Rückfälle.
Todesgedanken, Halluzinationen, Ekel vor sich selbst. Die Mitbrüder sind peinlich berührt, schweigen.
Da stößt er auf die „Anonymen Alkoholiker“ – und findet Geschwister. Freunde, die einfach da sind, keine Moralpredigten halten, aber etwas fordern. „Der Damm aus Härte, Stolz und Scham und Einsamkeit brach zusammen.“ Duval begreift, dass die Liebe zu Gott und zu den Menschen ohne die Liebe zu sich selbst krank machen kann. „Ich brauchte den Weg über den Alkohol, um mich selbst anzunehmen und auch die Mitbrüder mit ein bisschen Humor zu ertragen.“
Und jetzt vermag er auch den anderen Menschen besser zu helfen, realistischer. „Ich kann nicht mehr leben wie die anderen um mich herum.“ Auf der Autobahn diktiert er seinen Lebensbericht, der in der deutschen Übersetzung den Titel trägt Warum war die Nacht so lang? Wie ich vom Alkohol loskam. Mehr Ansporn als Beichte, ermutigend, zärtlich.
Von Gott spricht er dezenter, behutsamer als früher: „Gott ist nicht so, wie man glaubt. Gott ist nicht da, wo man ihn sucht. Gott sieht nicht so aus, wie man ihn sich vorstellt. (...) Ich armer Tropf suchte ihn in Dogmen und logischen Schlussfolgerungen, während er sich in Wirklichkeit ruhig und freundlich bei den Kranken aufhielt.“
Am 30. April 1984 starb Aimé Duval in Metz fünfundsechzigjährig an Herzversagen.
Christian Feldmann