1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Warum müssen so viele Russen zuhause frieren?

Darko Janjevic
21. Januar 2024

Die Kreml-Propaganda hatte den Westeuropäern prophezeit, sie würden ohne russisches Gas im Winter erfrieren. Es kam anders. Stattdessen müssen zehntausende Russen bei zweistelligen Minusgraden ohne Heizung ausharren.

https://p.dw.com/p/4bU2k
Eis auf der Moskwa in Moskau
Selbst Moskau und sein Umland sind von Heizungsausfällen betroffenBild: Vera Savina/AFP

Die Menschen sitzen in der Kälte, weil Heizungssysteme an vielen Orten Russlands den Dienst versagt haben. Auch Moskau und Umgebung, die Oblast Moskau, sind betroffen - und das in einem Jahr, in dem Russland den härtesten Winter seit Jahrzehnten erlebt.

Die Welle von Heizungsausfällen begann im Dezember und scheint nicht aufzuhören. Vor einigen Tagen erlitten mindestens 16 Personen in der Stadt Nischni Nowgorod Verbrennungen, als ein großes Heizrohr platzte und sich kochend heißes Wasser auf die Straße ergoss. 3000 Menschen müssen seitdem laut einem örtlichen Nachrichtenkanal auf Telegram ohne Heizung auskommen. Die Messaging-App ist eine der wenigen Möglichkeiten, in Russland noch unzensierte Informationen zu erhalten.

Nur einen Tag vor dem Vorfall in Nischni Nowgorod fiel ein Heizsystem in der Stadt Orjol aus und unterbrach so die Wärmeversorgung von Wohnungen, Kindergärten und einer Schule, in der während des Unterrichts kochendes Wasser aus den Dampfheizern strömte.

Bewohner müssen tagelang ohne Heizung auskommen

Der weitreichendste Betriebsausfall traf Klimowsk, einen Stadteil von Podolsk in der Oblast Moskau, nur 50 Kilometer von der Hauptstadt entfernt. Am 4. Januar fielen die Temperaturen auf minus 34 Grad Celsius. So kalt war es in der Region schon seit mindestens 40 Jahren nicht mehr. Am gleichen Tag fiel ein Heizwerk in Klimowsk aus und ließ 20.000 der 50.000 Einwohner in der Kälte sitzen. Tausende von ihnen waren auch Tage später noch ohne Heizung.

Notfallfahrzeug in winterlichem Klimowsk
In Klimowsk, nur 50 Kilomenter von Moskau entfernt, fiel ein Heizwerk ausBild: Valery Sharifulin/TASS/picture alliance

Auch in anderen größeren und kleineren Städten der Region fielen während dieser außergewöhnlich kalten Tage die Heizungen aus. Die Bewohner der Stadt Elektrostal entzündeten vor ihren Wohnblocks Lagerfeuer, um gegen die Zustände zu protestieren.

"Die Kinder packten wir zum Schlafen warm ein und ich und mein Mann trugen Hosen, Pullis und Sweatshirts und schliefen unter zwei Bettdecken", erzählte eine Frau der russischen Internetzeitung The Insider. In ihrer Wohnung hätten die Temperaturen maximal 10 Grad Celsius erreicht. Erst als sie Elektroheizgeräte einsetzte, sei es wärmer geworden.

Munitionsfabrik beliefert die Stadt mit Heizwärme

Die Behörden reagierten nur langsam. Drei Tage dauerte es, bis der Gouverneur der Oblast Moskau, Andrei Worobjow, eine offizielle Erklärung zu dem Betriebsausfall in Klimowsk veröffentlichte. Darin machte er die Besitzer des "in Privatbesitz befindlichen" Heizwerks für dessen Ausfall verantwortlich. Die Behörden hätten eine Untersuchung eingeleitet, sagte Worobjow und fügte während eines Treffens mit Anwohnern hinzu: "Wir sind uns darüber klar, dass die Geduld der Menschen ein Ende hat."

Der Gouverneur warf den Besitzern des Heizwerks vor, sie seien während der aktuellen Krise nicht erreichbar gewesen und erwähnte, zwei von ihnen lebten im Ausland. Der Vorfall erregte offensichtlich auch die Aufmerksamkeit von Präsident Wladimir Putin, der Worobjow anwies, das Heizwerk zu verstaatlichen.

Russland: Arbeiter erwärmt Versorgungsrohre in mehrstöckigem Haus mit Gasbrenner. Der Heizungsunfall in Podolsk hat Auswirkungen auf die Stadt
Die Heizungsrohre in den Wohngebäuden von Klimowsk waren teilweise eingefrorenBild: Evgenia Novozhenina/REUTERS

Die späte Reaktion könnte auf den sensiblen Standort des Heizwerks zurückzuführen sein - es befindet sich in einer Fabrik, in der Munition produziert wird. Zu Sowjetzeiten waren solche Konstellationen, in denen militärische und zivile Infrastruktur miteinander verwoben war, gängig.

Was hat der Kreml mit der Fabrik in Klimowsk zu tun?

Die Munitionsfabrik wurde 2001 privatisiert. Über die derzeitige Eigentümerstruktur ist öffentlich nichts bekannt. Unbestätigten Berichten in den russischen Medien zufolge unterhalten die Manager der Fabrik jedoch erstklassige Beziehungen zur Spitze des Kreml.

Der Geschäftsführer der Fabrik, Igor Kuschnikow, diente russischen Medienberichten zufolge früher als Oberst beim russischen Nachrichtendienst FSB. Im Mai 2023 übernahm er das Management der Fabrik von Igor Rudyka, bei dem es sich ebenfalls Medienberichten zufolge um einen früheren Leibwächter Putins handelt. Vergangene Woche erklärten russische Ermittler, sie hätten Kuschnikow ebenso verhaftet wie den Manager des Heizwerks, Alexander Tschikow.

Infrastruktur aus Sowjetzeiten bröckelt

Marina Sacharowa hält Aktien an der Munitionsfabrik und lebt in Deutschland. Ihrer Meinung nach wurde der Betriebsausfall nicht durch das Heizwerk selbst ausgelöst, sondern durch den maroden Zustand des Wärmenetzes. Das Heizwerk habe nur wegen Ausfällen außerhalb der Fabrik abgeschaltet werden müssen, behauptet sie.

Fachleute warnen, das russische Wärmenetz sei in einem schlechten Wartungszustand und technisch überholt. Das gelte insbesondere für Gebiete, in denen die Bevölkerung nach dem Ende der Sowjetära stark anwuchs. Laut dem russischen Onlinemedium The Bell sind in Teilen des Landes noch immer Heizrohre aus Stahl im Einsatz, die schon Jahrzehnte alt sind und ihre vorgesehene Lebensdauer von 25 Jahren längst überschritten haben. The Bell zitiert offizielle Zahlen, wonach sich etwa drei Prozent des Heizungs-, Wasser- und Abwassernetzes jährlich in einem "Ausnahmezustand" befinden. Modernisiert werden jedoch nur ein bis zwei Prozent, was tausende von Pannen zur Folge hat.

Bei Anlagen wie der von Klimowsk führen Sicherheitsüberlegungen zu weiteren Problemen. Weil der Zugang zur Munitionsfabrik nur eingeschränkt möglich ist, waren zivile Angestellte The Bell zufolge nicht in der Lage, das Heizwerk winterfest zu machen oder Probleme in Echtzeit zu verfolgen.

Energieriese Russland

Pannen mit den Heizsystemen treten in Russland Jahr für Jahr auf, doch in diesem Winter kam es zu einem Ausfall nach dem anderen in Städten von Nowosibirsk in Sibirien über Moskau und St. Petersburg bis zur westlichen Exklave Kaliningrad.

Marktstände in Jakutsk in extremer Kälte
Russland ist kalte Winter gewohntBild: Roman Kuturov/REUTERS

In einem Land, das sich immer als eine Supermacht in Sachen Energie gesehen hat, haben die Vorfälle auch emotionales Gewicht. Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine warnten Propagandisten lauthals vor EU-Sanktionen auf Gasimporte und behaupteten, ohne russisches Gas würde Europa "erfrieren".

Fast zwei Jahre nach Beginn des Krieges scheint die Heizwärme in Europa gesichert, während die Behörden in Russland Mühe haben, auf die Heizungskrise zu reagieren. Ein Kontrast, der hämischen Putin-Kritikern und ukrainischen Nutzern der sozialen Netzwerke nicht entgeht.

"Die Kälte sollte Europa in die Knie zwingen, aber das hat nicht funktioniert. Dann haben sie beschlossen, ihre eigenen Leute durch die Kälte in die Knie zu zwingen, um andere einzuschüchtern", schreibt ein YouTube-Nutzer unter einem Video zu den Heizungsausfällen.

Modernisierung ist geplant

Die russischen Behörden sind sich des Problems bewusst. Der Kreml hat begonnen, aktiver in die Verwaltung des Wärmenetzes einzugreifen und Behörden deuten an, mehr Mittel bereitstellen zu wollen.

"Wir nutzen noch immer die kommunale Infrastruktur, die zu Sowjetzeiten errichtet wurde", sagt die russische Parlamentsabgeordnete Swetlana Rasworotnewa, die Mitglied des Komitees für Städtebau ist. "Wir haben nicht in Modernisierungen investiert. Stattdessen haben wir unser Geld in den Erhalt dieser ganzen veralteten Infrastruktur gesteckt."

Rasworotnewa fügt hinzu, etwa 40 Prozent des kommunalen Wärmenetzes müssten dringend ausgetauscht werden. Der russische Staat habe vor, in den kommenden zwei Jahren 150 Milliarden Rubel (1,55 Milliarden Euro) in die Modernisierung des Systems zu investieren.

Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.