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TheaterEuropa

Ukraine: Theaterkult auf TikTok

2. August 2024

Trotz Luftangriffen und Lebensgefahr stehen Kulturbegeisterte in der Ukraine stundenlang in der Schlange, um Theaterkarten zu bekommen. Das Theater ist Teil ihrer Identität. Die kann ihnen Russland nicht nehmen.

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Oleana  Vdovychenko guckt von oben in einen Theatersaal.
Für Olena Vdovychenko (hier im Bild) sind Theaterbesuche eine Flucht aus der harten Realität des KriegesBild: Private photo of Olena Vdovychenko

"Für solche Anlässe wähle ich ein schönes Kleid, schminke mich und trage Parfüm auf. Das sind seltene Gelegenheiten, die wir im Krieg bekommen", erzählt Olena Vdovychenko, eine Theaterbesucherin aus Kiew. Für sie ist das Theater eine wunderbarer Rückzugsort. Das war es schon immer, lange vor der russischen Invasion. Die täglichen Luftangriffe und die ständigen Drohungen mit Raketenangriffen haben ihre Leidenschaft für das Theater nicht geschmälert. Im Gegenteil, Olena fühlt sich gestärkt. Überdies seien die Theaterbesuche eine Möglichkeit, die Kulturschaffenden in der Ukraine zu unterstützen. Einige von ihnen haben an der Front gedient und sind nun zur Bühne zurückgekehrt.

Theaterkulisse, drei Darstellerinnen sitzen auf einer Steinbank an der Wand.
"Die Hexe von Konotop" ist zu einem Kriegsphänomen gewordenBild: Private photo of Olena Vdovychenko

Bitte keine Luftschutzsirenen!

Zwar ist es schwieriger geworden, an Theaterkarten zu kommen. Künstlerische Veranstaltungen sind häufig ausgebucht und neue Vorstellungen schnell ausverkauft. Manchmal warten Ukrainer drei bis vier Monate, um gute Plätze zu ergattern. Die Theater geben bekannt, wenn neue Karten verfügbar sind. Fans richten sich automatische Benachrichtigungen ein, um online sofort zuzugreifen. So ist auch Olena an ihre Karten gekommen, wie sie der DW erzählt.

Doch selbst, wenn man das Glück hat, eine Karte zu ergattern, kann die Vorstellung jederzeit unterbrochen werden. Bei einem Angriff müssen sich die Zuschauerinnen und Zuschauer auf schnellstem Wege in einen Luftschutzkeller begeben. Zum Theateralltag gehören inzwischen auch Durchsagen mit Sicherheitshinweisen: Zuschauer sollen sich zügig in die nächstgelegene Sicherheitszone begeben, wenn eine Luftschutzsirene heult.

Portrait des Regisseurs Ivan Uryvskiy.
Die Inszenierung von "Die Hexe von Konotop" machte Regisseur Ivan Uryvskiy zum StarBild: Eugen Kotenko/Ukrinform/IMAGO

Dauert die Unterbrechung länger als eine halbe Stunde, kann die Vorstellung auch ganz abgesagt werden, was Olena schon erlebt hat. "Man ist mental immer darauf vorbereitet. Und man ertappt sich bei dem Gedanken: 'Bitte keinen Sirenenalarm, damit wir die Vorstellung in Frieden sehen können‘"."

Ein Blockbuster in Kriegszeiten

Eines der angesagten Stücke ist "Die Hexe von Konotop", eine düstere Musikkomödie, die in der Ukraine zu einem Kriegsphänomen geworden ist. Die Geschichte basiert auf einem ukrainischen Roman aus dem 19. Jahrhundert und spielt in der kleinen Stadt Konotop im Nordosten der Ukraine. Die Einwohner veranstalten eine Hexenjagd, weil sie die Frauen für eine Dürre verantwortlich machen. All dies geschieht vor dem Hintergrund einer militärischen Bedrohung durch das zaristische Russland.

In den ersten Tagen der russischen Invasion 2022 ging in der Ukraine ein Video viral, in dem eine Frau einen russischen Soldaten auf einem Panzer beschimpft: "Weißt du nicht, wo du bist? Sie befinden sich in Konotop. Jede zweite Frau hier ist eine Hexe. Du wirst nie eine Erektion bekommen, wenn du morgen anfängst." 

Fünf Leute stehen auf einer Bühne, Yevhen Nyshchuk überreicht den Taras-Schewtschenko-Nationalpreis an Regisseur Ivan Uryvskyi.
Yevhen Nyshchuk (zweiter von rechts) bezeichnete "Die Hexe von Konotop" als "die Stimme der modernen Ukraine"Bild: Volodymyr Tarasov/Avalon/Photoshot/picture alliance

Hexen seien etwas Besonderes für die ukrainische Kultur, sagt der Regisseur des Stücks, Ivan Uryvskiy, im Gespräch mit der DW. "Sie tauchen oft in der ukrainischen Literatur auf. Es gibt verschiedene Hexen, die in den Texten der klassischen ukrainischen Literatur unterschiedlich dargestellt werden. Es gehört zu unserer Kultur." Kein Wunder, dass das Stück über Hexen auf TikTok große Verbreitung fand. Viele junge Leute waren fasziniert.

"Die Leute sagen aus Spaß, dass sie mich hassen, wenn ich ihnen erzähle, dass ich 'Die Hexe von Konotop' schon zweimal gesehen habe. Denn sie haben es monatelang erfolglos versucht", sagt Olena. Es ist fast unmöglich, online Karten für dieses Stück zu ergattern. Wer es an der Abendkasse versucht, steht oft schon ab fünf Uhr morgens in der Schlange am Ticketschalter.

Thater-Rockstar Uryvskiy

Uryvskiy ist seither ein Theater-Rockstar. Auf der Bühne hat er eine mystische Welt erschaffen: minimalistisch, schwarz-weiß und mit ironischen Dialogen. "Kultur ist immer wichtig, aber in Kriegszeiten ist sie besonders entscheidend", sagt Regisseur Uryvskiy. "Die ukrainische Kultur war schon immer bedroht und wurde immer in den Hintergrund gedrängt. Im Laufe der Geschichte hat Russland immer wieder versucht, sie auszulöschen, abzuschaffen oder zu verbannen." Doch sei die ukrainische Kultur reich und wert, erforscht zu werden. "Unsere Theater zu entwickeln und sie im In- und Ausland weltweit zu präsentieren  - gerade während des Krieges - ist für uns überlebenswichtig!"

"Die Stimme der modernen Ukraine"

"Die Hexe von Konotop" wurde im Juni dieses Jahres sogar beim internationalen Friedensgipfel in der Schweiz vor den Delegierten aufgeführt.

Yevhen Nyshchuk, ehemaliger ukrainischer Kulturminister und Generaldirektor des Ivan-Franko-Nationaltheaters in Kiew, wo das Stück aufgeführt wird, nannte es "die Stimme der modernen Ukraine".

Kultur aus Russland zurückgewinnen

Kniender Hamlet und und Ophelia küssen sich.
Beim ersten Shakespeare Festival in der Ukraine wurde Hamlet aufgeführtBild: Yurii Rylchuk/Avalon/IMAGO

"Es geht darum, die ukrainische Kultur aus Russland zurückzugewinnen", sagt Dr. Mayhill Fowler, Professorin für Geschichte an der Stetson University in den USA. Sie hat sich auf die Kulturgeschichte Russlands, der Ukraine und Osteuropas spezialisiert. "Viele ukrainische Theaterstücke im 19. Jahrhundert wurden unter dem Joch des russischen Reiches geschrieben", sagt Fowler im DW-Gespräch. Dies stelle eine Möglichkeit dar, "ein neues Kapitel der ukrainischen Kulturgeschichte zu schreiben".

In der Ukraine war das Theater schon immer ein Ort, den die Menschen in schweren Zeiten aufsuchten. Fowler erinnert daran, dass in den 1920er-Jahren inmitten der Hungersnot und des Aufruhrs nach dem Russischen Bürgerkrieg der ukrainische Theaterregisseur Les Kurbas  (1887-1937) eine Aufführung von William Shakespeares "Macbeth" inszenierte. 

Das erste Shakespeare-Festival der Ukraine

Menschen im Theater klatschen Beifall.
Trotz des Krieges lebt die ukrainische Theaterszene weiter Bild: Yurii Rylchuk/Avalon/IMAGO

Im Juni 2024 fand in Iwano-Frankiwsk in der Westukraine das allererste ukrainische Shakespeare-Festival statt. "Krieg ist entmenschlichend, und Shakespeare ist grundsätzlich humanisierend. Es erinnert uns daran, dass wir Menschen sind", zitiert Fowler die Organisatorin des Shakespeare-Festivals, Iryna Chuzhynova. 

In Charkiw, der zweitgrößten Stadt nahe der russischen Grenze, die unter ständigem Beschuss steht, werden die Theateraufführungen in U-Bahn-Stationen fortgesetzt.

Das Fortbestand der Theaterszene in der Ukraine bedeutet nicht die Rückkehr zur Normalität, wie die Ukrainer sie vor dem Überfall Russlands kannten. Gefahr und Kriegschaos sind weiter präsent. Aber, so Fowler, es ist "eine von vielen Möglichkeiten, mit dem Krieg fertig zu werden."

Ukraine: Musikfestival mitten im Krieg

DW Akademie | Volontariat Jahrgang 2024 - 2025 |  Anna Chaika
Anna Chaika Journalistin mit Erfahrung in politischen Reportagen, Menschenrechten und Flüchtlingsthemen.