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Völkermord an Jesiden: Wo bleibt die Gerechtigkeit?

Cathrin Schaer
3. August 2024

Ausgerechnet zehn Jahre nach dem Genozid an den Jesiden weist der Irak die UN-Sonderermittlungskommission Unitad aus. Viele Opfer und ihre Angehörigen verlieren ihre Hoffnung auf Gerechtigkeit und Wiedergutmachung.

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Kundgebung von Jesidinnen in Dohuk, Irakisch-Kurdistan, August 2020
Gedenken an die Opfer und Forderung nach Unterstützung: Kundgebung von Jesidinnen in Dohuk, Irakisch-Kurdistan, August 2020Bild: Safrin Hamed/AFP/Getty Images

Der Horror geschah ohne Vorwarnung: In den frühen Morgenstunden des 3. August 2014 griffen Terroristen der Gruppe "Islamischer Staat" (IS) mehrere Gemeinden im nördlichen Irak an. In der Region lebten Angehörige der jesidischen Minderheit.

Die Männer wurden auf der Stelle hingerichtet, Frauen und Kinder gefangen genommen und misshandelt. Tausende wurden schließlich als Sklavinnen verkauft.

Drei Jahre später, 2017, wurde der IS im Irak für besiegt erklärt - die meisten seiner damals aktiven Mitglieder sind heute entweder tot, inhaftiert oder untergetaucht. Die jesidische Bevölkerung sowie die Opfer und ihre Angehörigen warten weiterhin auf Gerechtigkeit.

Einige wenige Fortschritte erzielt

In den vergangenen zehn Jahren habe es zwar durchaus einige positive Entwicklungen gegeben, sagte Murad Ismael, Leiter der Sinjar Academy, einem Institut für jesidische Bildung im Nordirak, im DW-Gespräch.

Ein Teil der Überlebenden sei in sichere Drittländer übersiedelt, auch gebe es internationale Gerichtsverfahren gegen ehemalige IS-Mitglieder. Zudem sei der Völkermord des IS an den Jesiden inzwischen international anerkannt.

Und die irakische Regierung habe ein Gesetz erlassen, das missbrauchten jesidischen Frauen eine Art Wiedergutmachung bietet, einschließlich einer monatlichen Unterstützung von etwa 500 Dollar.

Irak weist UN-Team zur Aufarbeitung aus

Doch es müsse noch mehr getan werden, sagt Ismael. Von den seinerzeit rund 7000 vom IS entführten Jesiden seien 2600 weiterhin unauffindbar. Im ganzen Irak würden weiterhin Massengräber exhumiert.

Die Chance, das den Opfern Gerechtigkeit widerfahre, seien nur "bedingt gut", so Ismael. Auch weil heute andere Themen die Agenda dominierten. "Ich denke, dass die Welt, einschließlich des Irak, das Kapitel "Islamischer Staat" inzwischen hinter sich gelassen hat." 

Zudem müssen die Jesiden einen weiteren Rückschlag hinnehmen: Unerwartet wurde bekannt, dass sich Mitte September das Untersuchungsteam der UN auflösen soll, das sich stets für eine Rechenschaftspflicht bei den vom IS begangenen Verbrechen stark gemacht hatte.

Die Organisation, bekannt als UNITAD (United Nations Investigative Team to Promote Accountability for Crimes Committed by Da'esh/ISIL), untersucht seit 2018 die Verbrechen des IS.

UNITAD hält sich auf Einladung der irakischen Regierung im Irak auf. Doch Ende vergangenen Jahres erklärten die Iraker, das Team werde nicht mehr benötigt.

Sein Team werde jedoch nicht in der Lage sein, seine Arbeit bis September zu abzuschließen, warnte Christian Ritscher, der Leiter von UNITAD.

Falsche Signale

"Viele Überlebende sehen in UNITAD die einzige Hoffnung auf Gerechtigkeit", heißt es in einem offenen Brief von 33 verschiedenen Interessengruppen. "Eine so abrupte Einstellung der Arbeit wäre eine Katastrophe für die Überlebenden, den Irak und die internationale Gemeinschaft. Es würde das Signal aussenden, dass Gerechtigkeit keine Priorität hat."

Irak I Jesiden in Flüchtlingslager
Auf der Flucht vor dem IS: Jesiden marschieren in Richtung syrischer Grenze, Irak 2014Bild: Rodi Said/File Photo/Reuters

Für das unerwartete Ende von UNITAD werden eine Reihe von Gründen genannt. Diese seien zum Teil politisch, meint Murat Ismael von der Sinjar Academy.

Die neue irakische Regierung scheine internationales Engagement nicht zu begrüßen, meint Ismael. So verlangte der Irak im Mai dieses Jahres auch bereits den Abzug der dort seit 2003 tätigen UN-Hilfsmission.

Lokalen Medienberichten zufolge kam es zudem zu politischen Spannungen zwischen UNITAD und dem irakischen Establishment. Der Irak verfügt derzeit noch über kein Gesetz, das den Umgang mit so genannten "internationalen Verbrechen" regelt, also schwere Verstöße gegen das Völkerrecht wie Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord, Folter oder Verschwindenlassen.

"Aus diesem Grund wurde im Irak bislang kein einziges IS-Mitglied wegen dieser Delikte vor Gericht gestellt", schrieb Anfang des Jahres der kurdische Rechtswissenschaftler Bryar Baban in einer Analyse für den in Paris ansässigen Think Tank French Research Center on Iraq: "Bedauerlicherweise war UNITAD nicht in der Lage, die irakischen Behörden zum Erlass eines solchen Gesetzes zu drängen."

Aushebung zweier Massengräber ausgehoben im Juli 2024 im Irak. Darin befanden sich die sterblichen Überreste von 153 Personen - unter ihnen vermutlich mehrere Jesiden
Im Juli 2024 wurden im Irak zwei Massengräber ausgehoben. Darin befanden sich die sterblichen Überreste von 153 Personen - unter ihnen vermutlich mehrere Jesiden Bild: Ali Makram Ghareeb/Anadolu/picture alliance

Im Irak würden IS-Mitglieder in der Regel auf der Grundlage von Anti-Terror-Gesetzen strafrechtlich verfolgt, so Baban. "Doch im irakischen Justizsystem gibt es keine fairen Prozesse - einige Verhandlungen dauern nur zehn Minuten", so der kurdische Rechtswissenschaftler. 

Und weiter: "Die an Jesiden begangenen Gräueltaten werden in den irakischen Gerichtsverfahren kaum berücksichtigt."

Außerdem wendet der Irak die Todesstrafe an, die von der UNO abgelehnt wird. Lokalen Medien zufolge war UNITAD deshalb nicht immer davon angetan, Beweise mit den Irakern zu teilen.

Was wird aus den Beweisen?

Durch die Schließung von UNITAD werde eine große Lücke entstehen, die gefüllt werden müsse, sagt Pari Ibrahim, Direktorin der Free Yezidi Foundation, der DW. "Wir haben uns wirklich auf UNITAD verlassen."

Am meisten beunruhigt Rechtsexperten und Interessenverbände jedoch die Frage, was mit den von UNITAD gesammelten Beweisen geschieht. Ein Teil dieser Beweise wurde von der irakischen Regierung gestellt.

Aber UNITAD führte vor Ort auch eigene Befragungen durch. "Viele Überlebende wandten sich an UNITAD, weil sie dem UN-Mechanismus vertrauten", so Pari Ibrahim. "Viele wollten ihre Aussagen nicht mit irakischen Staatsanwälten teilen." Denen vertrauten sie nicht, so Ibrahim.

Medienberichten zufolge wollen irakische Offizielle nun möglicherweise die Beweise aufbewahren und Prozesse innerhalb des Landes führen. Irakische Behörden haben auch ihre Bereitschaft angedeutet, Staatsanwälten aus Drittländern die Genehmigung zur Verwendung irakischer Beweisstücke zu erteilen.

Doch was sei, wenn der Irak sich weigere, Beweise weiterzugeben, fragt Jurist Baban. Er befürchtet, dass den Opfern damit Gerechtigkeit verweigert werden könnte. 

Eine Jesidin am Grab ihrer Angehörigen, Nordirak, 2021
Trauernde Jesidin am Grab ihrer Angehörigen, Nordirak 2021Bild: Zaid Al-Obeidi/AFP/Getty Images

"Letztlich wollen wir, dass im Irak Gerechtigkeit herrscht", sagte Natia Navrouzov, Direktorin der von der jesidischen Organisation Yazda kürzlich während einer Veranstaltung des Atlantic Council. "Der Irak ist das Heimatland der Jesiden und anderer Minderheiten. Dort gibt es die meisten Überlebenden sowie die Beweise, Täter und Tatorte. Aber es fehlt an Vertrauen."

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

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