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PolitikTunesien

Tunesien: Wer kandidieren will, riskiert Repressionen

Kersten Knipp | Tarak Guizani Tunis
10. Juli 2024

Vor der Wahl des neuen tunesischen Staatschefs im Oktober gehen die Behörden verschärft gegen mögliche Kandidaten vor. Auch Kritiker des amtierenden Präsidenten stehen unter Druck.

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Protestkundgebung gegen die Politik von Präsident Kais Saied in Tunis, Januar 2024
Protestkundgebung gegen die Politik von Präsident Kais Saied in Tunis, Januar 2024Bild: Hasan Mrad/DeFodi Images/picture alliance

Lotfi Mraihi sitzt in Haft und sieht sich schweren Vorwürfen gegenüber. Der Generalsekretär der Republikanischen Volksunion und Anwärter für die tunesischen Präsidentschaftswahlen wurde in der vergangenen Woche festgenommen. Die Behörden werfen ihm Geldwäsche und illegalen Geldtransfer ins Ausland vor. Mraihi hatte angekündigt, bei der Präsidentschaftswahl Anfang Oktober gegen in Tunesien antreten zu wollen, das vom autoritär agierenden Staatschef Kais Saied regiert wird. Bei den Wahlen 2019 hatte Mraihi schon einmal kandidiert und rund 6,5 Prozent der Stimmen erhalten.

Auch weitere Politiker, die Interesse an einer Kandidatur für das höchste Staatsamt angemeldet haben oder aus anderen Gründen als mögliche Bewerber gelten, sind ins Visier der Behörden geraten. So liegt gegen den Journalisten und Politiker Safi Said wegen angeblicher Fälschung und Betrug ein Haftbefehl vor. Andere mögliche Kandidaten befinden sich bereits seit Längerem im Gefängnis oder im Exil.

Doch die Behörden gehen nicht nur gegen mögliche Kandidaten bei der Wahl, sondern gegen kritische Stimmen allgemein vor. So war im Mai die für ihre Kritik an Präsident Saied bekannte Anwältin Sonia Dahmani in einem Fernsehstudio vor laufender Kamera verhaftet worden. Anfang Juli wurde sie wegen angeblicher Verbreitung falscher Nachrichten zu einem Jahr Gefängnis verurteilt.

Bereits im vergangenen Jahr war Rached Ghannouchi, ein scharfer Kritiker von Saied und Chef der als relativ gemäßigt geltenden islamistischen Oppositionspartei Ennahda inhaftiert worden. Der Vorwurf: Aufwiegelung gegen die Polizei und Verschwörung gegen die staatliche Sicherheit.

Der tunesische Präsident Kais Saied, hier ei einem Auftritt im Juni 2023
Harter Kurs gegen Kritiker und politische Gegner: der tunesische Präsident Kais Saied Bild: ZUMAPRESS.com/picture alliance

"Von freien Wahlen kann keine Rede sein"

"Die wichtigsten Voraussetzungen für freie Wahlen sind nicht erfüllt", meint Riad Chaibi, Oppositionspolitiker und Berater von Ghannouchi im Gespräch mit der DW. Das politische Klima sei geprägt von Verhaftungen, Prozessen und Haftstrafen.  

Ähnlich sieht es Ezzeddine al-Hazqi, einer der Gründerväter des oppositionellen Parteienbündnisses "Nationale Heilsfront". Präsident Kais Saied habe keine politischen Erfolge erzielen können, so al-Hazqi im DW-Gespräch. "Er sieht jetzt keine andere Lösung mehr als seine Gegner verhaften zu lassen." Saied habe inzwischen auch volle Macht über die Justiz, so der Oppositionspolitiker. "Von freien Wahlen kann in Tunesien keine Rede sein."

Tatsächlich kann Präsident Kais Saied, der 2021 im einstigen Vorzeigeland des "Arabischen Frühlings" das Parlament zunächst suspendieren und später komplett auflösen lies, vor allem hinsichtlich der wirtschaftlichen Probleme Tunesiens keine großen Erfolge aufweisen. So liegt die Arbeitslosigkeit bei 15 Prozent, rund vier der zwölf Millionen Tunesier leben unterhalb der Armutsgrenze.

Plakat mit dem Porträt von Rached Ghannouchi, dem Vorsitzende der Ennahda-Partei, hier auf einem Plakat am Sitz der Partei, April 2023
Seit Monaten in Haft: Rached Ghannouchi, der Vorsitzende der Ennahda-Partei, hier auf einem Plakat am Sitz seiner Partei in Tunis, April 2023Bild: Hasan Mrad/DeFodi Images/picture alliance

Zweifelhafte Gesetzgebung

Laut einer Analyse des Think Tanks Brussels International Center vom Mai dieses Jahres gehen die juristischen Risiken für potentielle Kandidaten auf ein bereits im September 2022 erlassenes Gesetzesdekret zurück, dass die Meinungs- und Pressefreiheit ins Visier nehme. Dazu dienten vorgeschobene Anklagepunkte wie etwa die Produktion, Förderung oder Verbreitung "falscher Nachrichten" oder "Gerüchte". Diese kann mit einer Haftstrafe von bis zu fünf, im Falle von Amtsträgern sogar bis zu zehn Jahren geahndet werden. 

Klar scheint: Kandidaten dürften dadurch eingeschüchtert, Kandidaturen erschwert werden. Das Think Tank sieht noch einen weiteren Grund: "Derzeit fehlt es den erklärten Präsidentschaftskandidaten an nennenswerter Wählerunterstützung, da viele prominente Oppositionsfiguren ihre Teilnahme von der Freilassung politischer Gefangener und einer Rückkehr zur Verfassung von 2014 abhängig machen", heißt es in der Analyse des Centers.

Hinzu kommt, dass auch die Zulassungsvoraussetzungen der Kandidatur verschärft wurden. So wurde die Altersgrenze möglicher Kandidaten von 35 auf 40 Jahre heraufgesetzt. Das hindert etwa die derzeit 35 Jahre alte Politikerin Olfa Hamdi, ehemals Präsidentin der tunesischen Fluggesellschaft Air Tunisia und Gründerin der "Dritten Republikanischen Partei", an einer Kandidatur. Die Entscheidung sei nicht nur verfassungswidrig, sondern nach geltendem Wahlrecht auch illegal, kritisierte sie auf dem Kurznachrichtendienst X.

Auch Doppelstaatler - in Tunesien meist Personen, die im Besitz eines tunesischen und zugleich eines französischen Passes sind - sind von der Kandidatur ausgeschlossen. "Diese neu definierten Voraussetzungen hindern eine ganze Reihe von Personen, sich als Kandidat registrieren zu lassen", sagt Malte Gaier, Leiter des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Tunis.

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Vor wenigen Tagen hatte Präsident Saied bekanntgegeben, dass die Wahlen am 6. Oktober stattfänden. Seine eigene Kandidatur hingegen hat er bislang noch nicht offiziell erklärt. Dass er das absehbar tun wird, gilt in Tunesien allerdings als wahrscheinlich. Vertrauen könne er auf weiterhin auf hohe Zuspruchwerte und eine große Popularität zumindest in Teilen der Bevölkerung, sagt Experte Gaier.

"Alles andere als gute Entwicklung"

Umso erstaunlicher sei, dass Saied unter diesen Umständen zu derart repressiven Maßnahmen greife, sagt Maria Josua, die am German Institute for Global and Area Studies (GIGA) in Hamburg zur politischen Entwicklung Tunesiens forscht. Zumal noch eines hinzukomme: "Die Parteienlandschaft ist relativ zersplittert, kein Kandidat hat wirklich ernsthafte Siegeschancen." Es erscheine ihr deshalb so, als meine Saied es sehr ernst mit seinem Anspruch auf Alleinherrschaft. "Wir haben hier Wahlen ohne eine echte Wahlmöglichkeit unter verschiedenen Kandidaten." Dennoch versuche der Präsident, zumindest die Fassade echter Wahlen aufrechtzuerhalten, so die Expertin aus Deutschland. In Wirklichkeit führe er das Land jedoch immer weiter in die autokratische Richtung. Für Tunesien sei dies sei "alles andere als eine gute Entwicklung", so Maria Josua.

Offen ist derzeit zudem, in welchem Ausmaß der Ablauf der Wahltags am 6. Oktober selbst transparent und fair bleiben wird. Präsident Saied hatte sich Ende 2022 bei der ersten Parlamentswahl nach Auflösung der vorherigen  Abgeordnetenkammer gegen internationale Wahlbeobachter ausgesprochen. Wie er dies bei den Präsidentschaftswahlen halten wird, bleibt vorerst abzuwarten.

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika
Tarak Guizani Freier Korrespondent Tunesien