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Vor 85 Jahren: Hitler-Deutschland überfällt Polen

31. August 2024

Mit dem Angriff auf Polen 1939 begann der Zweite Weltkrieg. Adolf Hitler nutzte eine Propagandalüge als Vorwand, um loszuschlagen. Ein historischer Wendepunkt, der Bezüge zur Gegenwart hat.

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Mehrere Soldaten drücken mit Gewalt einen Schlagbaum zur Seite.
Werhmachtsoldaten reißen eine Barriere an der deutsch-polnischen Grenze niederBild: AP/picture alliance

Am Abend des 31. August 1939 besetzen SS-Soldaten den deutschen Radiosender im oberschlesischen Gleiwitz (heute Gliwice, Polen). Sie strahlen eine auf Polnisch verfasste Botschaft aus, die zu einer bewaffneten Aktion gegen das nationalsozialistische Deutschland aufruft. Es soll der Anschein erweckt werden, dass polnische Soldaten den Sender angegriffen und besetzt hätten. Um das zu untermauern, hinterlassen die Männer der "Schutzstaffel" des deutschen Diktators Adolf Hitler die Leiche eines inhaftierten polnischen Zivilisten, der zu diesem Zweck vorher ermordet worden war. Der fingierte Überfall ist Teil einer Reihe ähnlich inszenierter Grenzprovokationen. Denn Hitler will einen Kriegsgrund, um Polen zu erobern. In seiner rassistischen Ideologie träumt er von neuem "Lebensraum" für die Deutschen im Osten.

Beginn des Zweiten Weltkriegs: Hitlers Rede im Reichstag

Keine 24 Stunden später, am Morgen des 1. September, überfällt die deutsche Wehrmacht Polen - ohne Kriegserklärung. Am gleichen Tag gibt Hitler vor dem Reichstag in Berlin eine Erklärung ab, die über den gleichgeschalteten Nazi-Rundfunk fast jeden deutschen Haushalt erreicht:

"Polen hat nun heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch durch reguläre Soldaten geschossen. Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen! Und von jetzt an wird Bombe mit Bombe vergolten! Wer mit Gift kämpft, wird mit Giftgas bekämpft. Wer sich selbst von den Regeln einer humanen Kriegführung entfernt, kann von uns nichts anderes erwarten, als dass wir den gleichen Schritt tun. Ich werde diesen Kampf, ganz gleich gegen wen, so lange führen, bis die Sicherheit des Reiches und bis seine Rechte gewährleistet sind."

Hitler auf der Rednertribüne im Reichstag, neben unter hinter ihm sitzen Vertreter der Nazi-Regierung unter einem Hakenkreuz
In seiner Rede vor dem Reichstag vermeidet Hitler das Wort Krieg und erklärt, die Wehrmacht hätte auf polnische Aggression hin zurückgeschossenBild: picture-alliance/dpa

Das Reichspropagandaministerium gibt die Parole aus, dass in Überschriften von Berichten das Wort Krieg nicht vorkommen dürfe. Gemäß der Rede des Führers "schlagen wir nur zurück", heißt es. Eine Lüge dient als Vorwand für einen Angriff, der zum Zweiten Weltkrieg führen wirdDas vermeintliche Opfer ist in Wahrheit der Täter.

Der inszenierte Überfall auf den Sender Gleiwitz sollte drei Zielen dienen, schreibt der Leiter der Abteilung Zeitgeschichte der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung, Matthias Oppermann, der DW: "Erstens musste die keineswegs kriegsbegeisterte deutsche Bevölkerung davon überzeugt werden, dass Polen den Krieg provoziert hatte, er also unvermeidlich war. Zweitens sollte auch das Ausland, vor allem Großbritannien und Frankreich, von dieser Sichtweise überzeugt werden. Und drittens ging es um das Bild in der Geschichte. Hitler wollte einen propagandistischen Anlass, hielt dessen Glaubwürdigkeit aber für unwichtig, da die Geschichte von den Siegern geschrieben werde."

Polen: Wo begann der Zweite Weltkrieg wirklich?

Polens Bündnispartner Frankreich und Großbritannien durchschauen Hitlers Manöver. Zwei Tage nach dem Einmarsch erklären sie Deutschland den Krieg. Doch die militärische Hilfe für Polen bleibt aus - in Folge einer Mischung aus militärischer Vorsicht, politischem Zögern und strategischer Fehlkalkulation.

Der Einmarsch der Roten Armee und die Besetzung Polens

Schnell und äußerst brutal rückt die Wehrmacht vor. Polen bleibt kaum Zeit zur Verteidigung. Zudem verfügen die Deutschen über ein Vielfaches an Panzern und Flugzeugen. "Teilweise sind die Polen noch mit richtigen Reiterkolonnen gegen Maschinengewehrstellungen angerannt. Ich weiß auch noch, dass diese Kavallerieattacke sogar die erste Linie von uns überrannte. Aber anschließend sind sie direkt auf Panzer gestoßen und dann war es natürlich aus", erinnerte sich der frühere Wehrmachtsoldat Albert Sefranek in einem Video des Online-Zeitzeugenportals vom Haus der Geschichte in Bonn.

Am 17. September marschiert auch die Rote Armee der Sowjetunion in Polen ein. Hitler und der sowjetische Diktator Josef Stalin hatten kurz vor dem Krieg im sogenannten Hitler-Stalin-Pakt vereinbart, einander nicht anzugreifen und Polen unter sich aufzuteilen. Im weiteren Verlauf des Krieges lässt Hitler auch die Sowjetunion angreifen.

Ribbentrop steht im Anzug mit verschränkten Armen vor einer Wand und lächelt. Direkt neben ihn Stalin in einer weißen Uniformjacke ebenfalls lächelnd.
Josef Stalin (r.) und Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop bei der Unterzeichnung des Nichtangriffspaktes zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion Bild: akg-images/picture-alliance

Vier Wochen nach dem Einmarsch in Polen kapituliert Warschau. Die Nazis feiern ihre "Blitzkrieg-Taktik". Der Überfall und die deutsche Besatzung kosten mehr als fünf Millionen polnischen Staatsbürgern das Leben, der weitaus größte Teil sind Zivilisten. In den von den Nazis errichteten Konzentrationslagern werden Juden und viele andere Menschen aus ganz Europa ermordet. Rund die Hälfte der sechs Millionen Juden, die ums Leben kommen, sind polnische Staatsangehörige.

Der Überfall auf Polen belastet das deutsch-polnische Verhältnis auf Jahrzehnte. "In Deutschland wird immer wieder unterschätzt, wie grausam und total der deutsche Krieg in Polen geführt wurde, neben der Vernichtung der polnischen Jüdinnen und Juden eben auch gegen polnische Zivilisten, gegen die Intelligenz, gegen den Klerus", erklärt Andrea Löw vom Institut für Zeitgeschichte der DW. "Unglaublich viele polnische Familien hatten Opfer zu beklagen und dies wurde allzu lange in Deutschland nicht genügend zu Kenntnis genommen."

Die Folgen des Überfalls für die heutige Politik

Die Schuld am Grauen des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust wirken sich aber auf die Außen- und Verteidigungspolitik der Bundesrepublik bis heute aus. Auch deshalb wird so intensiv über militärische Hilfe für die von Russland angegriffene Ukraine gestritten. Die Vorstellung, dass deutsche Panzer wieder über fremden Boden rollen könnten, schreckt viele Deutsche ab. 

Im Gleichschritt mit Gewehren über ihren Schultern marschieren Wehrmachtsoldaten über eine Straße.
Wehrmachtsoldaten marschieren durch die polnische Hauptstadt WarschauBild: Edisto Images/Newscom/picture alliance

Wie schwierig sich aktuelle Politik vor dem Hintergrund deutscher Geschichte gestalten lässt, zeigt auch der Umgang mit der Erdgaspipeline Nord Stream 2, die von Russland nach Deutschland durch die Ostsee verläuft. Der Historiker Oppermann: "Wenn man die heutige Lage betrachtet, darf man nicht vergessen, dass der Hitler-Stalin-Pakt eine Voraussetzung für Hitlers Überfall auf Polen war. Ich halte es daher für politisch, moralisch und psychologisch geboten, dass Deutschland keinen Unterschied zwischen seinen eigenen Sicherheitsinteressen und denen Polens macht." Wenn eine polnische Regierung vor Russland warne, dann wisse sie, warum. "Auch deshalb war es ein schwerer Fehler der deutschen Außenpolitik, das Projekt Nord Stream 2 zu verfolgen", so Oppermann. 

Nord Stream 2 wurde zwar fertiggestellt, ging jedoch nie in Betrieb: Bundeskanzler Olaf Scholz stoppte im Februar 2022 aufgrund der russischen Vorbereitungen des Überfalls auf die Ukraine das Genehmigungsverfahren. Ende September 2022 wurden drei der vier Stränge der Nord-Stream-Pipelines 1 und 2 bei einem Anschlag zerstört. Der vierte Strang wurde stillgelegt.

Bezugspunkte zum russischen Angriff auf die Ukraine

Die Verbrechen von Nazi-Deutschland sind mit nichts vergleichbar. Aber es gibt zumindest Verbindungslinien zwischen damals und heute - wie zum russischen Angriff auf die Ukraine. So waren beide Angriffe propagandistisch vorbereitet. Außerdem zementiere die staatliche Propaganda das Narrativ, "dass Russland eigentlich bedroht sei und sich gegen den Faschismus zur Wehr setzen müsse", sagt Matthias Dembinski, Projektleiter vom Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung im DW-Gespräch. "Es wird dargestellt, als führe Russland einen Abwehrkampf gegen einen Westen, der in der Ukraine faschistische Kräfte unterstützt und Russland an den Rand seiner Existenz drängt."

Pascal Trees vom Institut der Zeitgeschichte sieht gegenüber der DW "militärisch eine Ähnlichkeit am ehesten in dem russischen Versuch, den Krieg schnell - 'blitzartig' zu beenden, was in der Ukraine allerdings gescheitert ist."  

Ein großes mehrstöckiges Gebäude dessen Frontseite fast komplett zerstört ist
Das Kinderkrankenhaus Okhmatdyt in Kiew nach einem russischen Raketenangriff Bild: Anastasiia Shepeleva/DW

Historische Erfahrungen können eine große Rolle bei der Orientierung in der Gegenwart spielen. "Die wichtigste Lehre ist, dass liberale Demokratien nicht glauben dürfen, einen Tyrannen, der an der Spitze eines auf Krieg gerichteten Regimes steht, beschwichtigen zu können", erklärt Matthias Oppermann von der Konrad-Adenauer-Stiftung. Dies gelinge weder durch politische oder territoriale, noch durch wirtschaftliche Zugeständnisse. "Appeasement funktioniert nicht, sondern nur entschlossene Abschreckung und die Bereitschaft, im äußersten Fall militärische Mittel einzusetzen."  

Ralf Bosen, Redakteur
Ralf Bosen Autor und Redakteur