Noch heute kehren Überlebende an den Ort des Schreckens zurück.
18. April 2010"Schalom" singen die Jungen und Mädchen, die auf der Bühne im Zelt der Begegnung stehen. Mit dem hebräischen Wort für Frieden begrüßt der Chor der Paul-Dessau-Schule aus Zeuthen die Überlebenden des Konzentrationslagers Sachsenhausen. Gerührt hören die ehemaligen Häftlinge zu, die alle weit über 80 Jahre alt sind. Sie haben weite Wege und Strapazen auf sich genommen, um bei den mehrtägigen Gedenkveranstaltungen dabei sein zu können.
Für die Teenager ist es ein ganz besonderer Auftritt mitten auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte. Kurz zuvor hat der Historiker und Gedenkstättenleiter Günter Morsch die vielen Gäste begrüßt, zuerst natürlich die Überlebenden, die aus zahlreichen europäischen Ländern angereist sind, aber auch aus Israel. Für die sei es besonders wichtig, ihre Erlebnisse an die junge Generation weitergeben zu können, sagt Morsch. Und für die Jüngeren wiederum sei es "ein unglaubliches Glück, dass sie mit diesen Menschen noch zusammen sein können, ihnen zuhören können, Dinge fragen können, die niemand beantworten kann, außer die Zeitzeugen selbst", sagt Morsch weiter.
Als 16-Jähriger in Sachsenhausen
Einer von ihnen ist Vladimir Woewodschenko aus der Ukraine. Im Alter von 16 Jahren kam er ins KZ Sachsenhausen, als 19-Jähriger erlebte er Ende April 1945 die Befreiung, nachdem ihn seine Peiniger zusammen mit rund 33.000 Leidensgenossen auf den sogenannten Todesmarsch geschickt hatten. Viele Mithäftlinge starben dabei an Hunger, Kälte, Entkräftung oder wurden von Bewachern erschossen.
Überlebt hätten fast nur die Jüngsten, weil sie die Qualen noch am ehesten ertragen konnten, erzählt der inzwischen 84-jährige Vladimir Woewodschenko. Aufrecht steht er auf der Bühne, neben ihm seine Dolmetscherin, und berichtet eine halbe Stunde über die Grausamkeiten, verübt von Deutschen an Häftlingen aus ganz Europa.
Ein Häftling wird zu Tode gepeitscht
Ein russischer Häftling sei mit 50 Peitschen-Hieben bestraft worden, weil er während der Zwangsarbeit ein Leder-Stück von einem Pferdesattel gestohlen habe. "Er verstummte, er war schon tot. Aber die zwei SS-Männer haben ihre Schläge weiter ausgeteilt, denn das war der Befehl", erinnert sich der Ukrainer. Anschließend habe man den Toten sogar noch aufgehängt.
Vor 16 Jahren sei er erstmals zum Gedenken an den Ort zurückgekehrt, wo ihm seine Jugend genommen worden sei, erzählt Woewodschenko weiter.
65 Jahre sind seit der Befreiung vergangen, inzwischen habe er seine Einstellung zu Sachsenhausen verändert. "Das ist ein verfluchter Ort, aber für mich ist es auch ein heiliger Ort." Hier trifft der ehemalige KZ-Häftling auf seine Weggefährten, die in der schlimmsten Zeit ihres Lebens in eine Schicksalsgemeinschaft gezwungen wurden. "Egal, aus welchem Land sie kommen, sie sind alle Brüder für mich. Und ich bin froh, dass ich hierher kommen kann", sagt Woewodschenko.
Überlebende sorgen sich um Zustand der Gedenkstätte
Jedes Jahr sind es weniger Überlebende, die sich zum Gedenken treffen. Dieses Mal sind es noch weit über hundert. Im Dezember 2009 verstarb der langjährige Präsident des Internationalen Sachsenhausen-Komitees, Pierre Gouffault. Kurz vor seinem Tod hatte er an die Bundesregierung appelliert, die Sanierung und Neugestaltung der Gedenkstätte weiter voranzutreiben. Denn trotz aller, von den Überlebenden auch anerkannten, Bemühungen und Fortschritte ist das gesamte Konzept noch längst nicht umgesetzt.
Empört sind die Überlebenden vor allem über den Zustand des ehemaligen Appellplatzes, wo die Häftlinge bei Wind und Wetter strammstehen mussten. Dort stehen Warnschilder, weil eine große Mauer einsturzgefährdet ist. In einer Erklärung zum 65. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Sachsenhausen haben Vladimir Woedwodschenko und die anderen Überlebenden ihre Sorge zum Ausdruck gebracht.
Neo-Nazis verüben Brandanschlag
Zur Geschichte der Gedenkstätte Sachsenhausen gehört auch das Speziallager, das die Sowjets nach dem Zweiten Weltkrieg eingerichtet haben und in dem weit über 10.000 Häftlinge ums Leben kamen. Darüber wird bei Rundgängen über das weitläufige Gelände ebenso informiert, wie über den 1992 von Neo-Nazis verübten Brandanschlag auf die sogenannten jüdischen Baracken Nummer 38 und 39. Sie wurden wieder errichtet, Brandspuren sind noch immer sichtbar – absichtlich, erläutert eine Mitarbeiterin einer Schüler-Gruppe.
Frauke Gläser und Susanna Stark gehen am Tag der Begegnung mit ehemaligen Häftlingen über das Gelände. Beide studieren Geschichte, das Thema ist ihnen vertraut. Leicht fällt ihnen die Begleitung der Überlebenden dennoch nicht. Sie hätten sich darüber unterhalten, was man fragen und was man erwarten könne, wenn etwa die Überlebenden zu den jüdischen Baracken gehen, wo sie gewohnt haben.
Letzte Generation der Zeitzeugen
Überrascht und beeindruckt sind die beiden von der Offenheit, mitunter auch dem Humor, mit dem manche Überlebende über die schlimmen Erfahrungen im KZ Sachsenhausen berichten. "Uns geht das ja schon so, dass uns das kaputt machen würde, wenn man sich immer wieder vor Augen führt, was passiert ist", meint Susanna Stark. Und wahrscheinlich sei es für diese Menschen erst recht so, weil die ihr ganzen Leben lang damit leben müssten.
Frauke Gläser und ihre Freundin gehören wohl zur letzten Generation von Schülern und Studenten, die so viele Überlebende treffen können. Wenn die letzten gestorben sein werden, bleiben als Alternative die Zeitzeugen-Interviews, die schon seit Jahren aufgezeichnet werden.
Autor: Marcel Fürstenau
Redaktion: Christian Walz