Von X zu Bluesky: User kehren Elon Musk den Rücken
16. November 2024Am Tag nach der US-Wahl könnte der Kurznachrichtendienst X (ehemals Twitter) 281.600 User verloren haben, schätzt das Analyseunternehmern Similarweb. Inzwischen haben Konkurrenzprodukte die Charts der App-Downloads gestürmt.
Zu den Gewinnern des X-odus scheint Bluesky zu gehören. Im Laufe einer Woche verzeichnete das Unternehmen, ironischerweise ein ausgegliedertes Twitter-Projekt, mehr als eine Million neue Nutzer. Mit nunmehr 15 Millionen Accounts ist Bluesky immer noch ein kleines Lichtlein unter den sozialen Medien.
Bluesky und Thread führen App-Charts an
Doch umso überraschender ist, dass die Plattform in dieser Woche auf den ersten Platz der Rangliste im Apple App Store geschossen ist. Gleich dahinter: Threads. Die X-Konkurrenz stammt wie die damit verknüpfte Plattform Instagram aus dem Hause Meta Platforms.
Ob die User der Social-Media-Plattform von Elon Musk nur zusätzliche Optionen oder eine Auszeit suchen, oder ob sie X für immer den Rücken kehren, ist noch unklar. Fest steht, dass X nicht zum ersten Mal aktive Nutzer verliert. Schon als Musk das damalige Twitter übernommen hatte, gaben eine Reihe von Unternehmen und Einzelpersonen ihren Rückzug bekannt. Seit Dezember 2022 hat X nach Schätzungen des Analyseunternehmens Emarketer rund zehn Prozent aktive Nutzer verloren, übrig sind noch 330 Millionen.
Für viele aber, meint Bart Cammaerts, Kommunikations- und Demokratieforscher an der London School of Economics, sei Musks finanzieller und rhetorischer Einstieg in den Wahlkampf des mittlerweile zum US-Präsidenten gewählten Donald Trump der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht habe: "Dies ist in gewisser Weise ein Wendepunkt", sagt er im Gespräch mit der DW.
Eine seit langem schwelende Entwicklung könnte dazu beigetragen haben, dass sich die Nutzer abwenden, vermutet Cammaerts: Kaum noch Moderation bei provokanten Inhalten und Fakenews, Musks eigene Rhetorik und seine aktive Teilnahme an der Verbreitung von Falschbehauptungen sowie die künftige Ausrichtung von X. "Dass wir jetzt so viele Leute sehen, die diesen Schritt machen, ist eine Kombination von Faktoren, die es schon länger gibt", sagt Cammaerts.
Medien, Prominente, Marken haben genug von X
Diese Woche kündigte die britische Zeitung "The Guardian" an, keine Beiträge mehr auf X zu veröffentlichen, die bestehenden Konten aber nicht zu löschen. Die amerikanischen Medienunternehmen NPR und PBS sind diesen Schritt, zumindest teilweise, bereits im vergangenen Jahr gegangen. Auch die Australian Broadcasting Corporation hat ihr X-Angebot von Dutzenden auf nur noch vier Kanäle reduziert: Nachrichten, Sport, chinesische Sprache und "Masterbrand"-Profile.
Hinzu kommt eine Reihe Prominenter: Die US-Schauspielerinnen Jamie Lee Curtis und Bette Midler haben ihre X-Konten gelöscht, sind aber weiterhin auf anderen Plattformen präsent. Damit folgen sie den Beispielen von Elton John, Jim Carrey, Whoopi Goldberg und Gigi Hadid, die der Plattform kurz nach der Übernahme durch Musk im Jahr 2022 den Rücken kehrten.
Andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens haben ähnliche Absichten geäußert, darunter der ehemalige CNN-Nachrichtensprecher und heutige YouTube-Streamer Don Lemon und die demokratische Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez. Was diese Persönlichkeiten eint, ist eine politische Tendenz.
Im Jahr 2023 hatten zudem mehrere große Firmen ihre Werbung auf der Plattform gestoppt und dies mit der steigenden Zahl hasserfüllter Inhalte begründet, was Musk öffentlich anprangerte. Dazu gehören auch die Berliner Filmfestspiele und der Fußball-Bundesligist FC St. Pauli aus Deutschland. Anfang 2024 kündigten mehr als 50 weitere gemeinnützige Organisationen aus Deutschland ihren X-it über die Kampagnen-Website byebyeelon.de an.
Genau den entgegengesetzten Weg geht Vizekanzler Robert Habeck. Der mögliche Kanzlerkandidat der Grünen sagte, er halte es für falsch, die Plattform den "Großmäulern und Populisten" zu überlassen. Habeck hatte vor sechs Jahren seinen Rückzug aus mehreren Sozialen Medien vollzogen. Die Entscheidung begründete er damals mit eigenen Fehlern in den Netzwerken. Nun kündigte er sein Comeback an.
Anstößige Inhalte und Desinformation stoßen scheidende Nutzer ab
Den einen Grund für die Abwanderungsbewegung gibt es sicher nicht, aber viele Aussteiger führen die kontinuierliche Zunahme negativer Inhalte auf der Plattform an. Dazu gehören, wie es der "Guardian" in seiner öffentlichen Erklärung beschrieb, "oft verstörende Inhalte, die auf der Plattform verbreitet oder gefunden werden, einschließlich rechtsextremer Verschwörungstheorien und Rassismus". Die Zeitung merkte aber auch an, dass ihre Ressourcen an anderer Stelle "besser eingesetzt" werden könnten.
"Nachrichtenunternehmen verfügen nicht über unbegrenzte Mittel und das Publikum nicht über unbegrenzte Aufmerksamkeit. Daher müssen sie möglicherweise eine strategische Entscheidung treffen, wenn es eine Plattform gibt, die mit einem hohen Maß an Unsicherheit verbunden ist", sagt Silvia Majo-Vazquez, Forscherin für politische Kommunikation an der Vrije Universiteit Amsterdam. Und sie blickt dabei auf die teils rasante Entwicklung, die Debatten in den Sozialen Medien nehmen können. Mit dem Rückgang an X-Nutzern dürften viele Medien ihre Ressourcen nutzen, um neue Communitys auf anderen Plattformen aufzubauen, die möglicherweise neue Zielgruppen und vielleicht bessere Umgebungen böten, so Majo-Vazquez.
Viele Nutzer sagten, dass andere Kurznachrichtendienste das "Gefühl" des alten Twitter vermittelten - mit weniger Bots und mehr Eins-zu-Eins-Interaktionen, sagt LSE-Forscher Cammaerts: "Wenn alternative Anbieter diese Funktionalitäten bieten können und genügend Leute umsteigen, könnte es ziemlich schnell gehen. Das haben wir in der Vergangenheit auch bei anderen Plattformen wie zum Beispiel Myspace gesehen."
Der Zirkus zieht weiter, wo bleibt der Diskurs?
Wenngleich viele Prominente, Politiker und Unternehmen in neue Soziale Netzwerke umziehen - auch diese Plattformen sind anfällig für negative Interaktionen und toxische Inhalte, die in etablierten sozialen Medien zum Teil bereits vorherrschen.
"In gewisser Weise entscheiden sich die Menschen für das kleinere Übel. Denn all diese Plattformen haben ein Geschäftsmodell, das im Wesentlichen auf die Ausbeutung ausgerichtet ist, auf die Kommerzialisierung sozialer Interaktion. Und das auf eine Weise, in der die Privatsphäre der Nutzer verletzt wird", so Cammaerts. "Sicherlich ist X das schlimmste Beispiel und aus einer Reihe politischer Gründe problematisch, aber das bedeutet nicht, dass die anderen Plattformen zwangsläufig 'die Guten' sind."
Cammaerts meint, es sei dringend an der Zeit, eine - auch kontroverse - Debatte darüber zu beginnen, wie es in Sozialen Medien künftig zugehen soll: "Wie soll unser demokratisches Medienumfeld aussehen? Und können wir es mit demokratischen Mitteln so regulieren, dass es diesem Ideal mehr entspricht als heute?"
Majo-Vazquez prognostiziert, dass die Zahl der geschlossenen Gruppen auf privaten Messenger-Apps wie Whatsapp, Telegram oder Signal weiter zunehmen werde. Damit würden sich die Online-Interaktionen noch weiter vom globalen öffentlichen Platz entfernen, der Twitter früher sein sollte: "Wenn es um Social-Media-Plattformen geht, wird das Umfeld immer fragmentierter", sagt Kommunikationsforscherin Majo-Vazquez. "Die Aufmerksamkeit, hat sich von den großen Plattformen auf viele andere Orte verlagert. Wer als Gewinner aus diesem Prozess hervorgehen wird, wissen wir nicht."
Aus dem Englischen von Jan D. Walter