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Wirtschaft 2008: Verrücktes Jahr

Rolf Wenkel29. Dezember 2008

Das Jahr 2008 war ziemlich turbulent, was die Wirtschaft anbelangt. Das Wort Finanzmarktkrise ist wohl das am häufigsten gebrauchte Wort des Jahres. Ein Rückblick.

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Karikatur auf einer Dollarnote (Foto: AP)
Zum Haare raufen: Die Banken in der KreditklemmeBild: AP
Bundeswirtschaftsminister Michael Glos (Foto: dpa)
Bundeswirtschaftsminister Michael Glos: "Bin ich Moses?"Bild: picture-alliance/ dpa

Ein verrücktes Jahr, dieses Jahr 2008. Oder hätte sich jemand am Anfang dieses Jahres träumen lassen, dass ihm mal Begriffe wie Kreditklemme, Rettungsschirm oder gar Finanzmarktstabilisierungsfonds von den Lippen kommen? Aber der Reihe nach. Angefangen hat das Jahr eigentlich wie immer: “Bin ich Moses oder der Propheten einer oder wächst mir Gras in der Tasche? Die Zukunft ist wie immer ungewiss", sagt Wirtschaftsminister Michael Glos im Frühjahr bei der Vorstellung seiner Jahresprognose. Womit er recht behalten sollte. Danach allerdings taucht er ab, fordert gelegentlich mehr Netto vom Brutto für die Bürger, weil Wahlkampf in Bayern ist. Aber zur globalen Finanzmarktkrise ist eigentlich das ganze Jahr über nichts von ihm zu hören. Die ist im Frühjahr sowieso scheinbar noch in weiter Ferne.

Im Januar erreicht der Ölpreis erstmals die 100-Dollar-Marke. Der finnische Handy-Hersteller Nokia kündigt die Verlegung seines Bochumer Werkes nach Rumänien an - aus Kostengründen. 2.300 Arbeitsplätze sind weg. Wenige Tage später meldet Nokia einen Rekordgewinn von 7,2 Milliarden Euro. Ein einziger Angestellter, Jérôme Kerviel, beschert der französischen Großbank Société Générale einen Verlust von knapp fünf Milliarden Euro mit Wetten auf Aktienindices.

Post vom Staatsanwalt

Klaus Zumwinkel (Foto: dpa)
Klaus Zumwinkel: "Zahle gerne meine Steuern"Bild: AP

An einem nebligen Februarmorgen steht eine ganze Armada von Polizeifahrzeugen vor unserer Tür. Aber der Besuch gilt nicht der Deutschen Welle, sondern dem benachbarten Post-Tower. Der Staatsanwalt lässt das Büro von Klaus Zumwinkel durchsuchen, sowie seine Villa in Köln. Ihm wird vorgeworfen, über eine private Stiftung in Liechtenstein Steuern in Höhe von rund 1,2 Millionen Euro hinterzogen zu haben. Im Radio hatte er mal gesagt: "Ich bin im Rheinland geboren, fühle mich hier sehr wohl und zahle hier auch meine Steuern." Was dann wohl doch nicht ganz richtig war. Wenig später tritt er von seinem Vorstandsposten bei der Post und weiteren Ämtern zurück.

Das Ende einer Karriere. Derweil geraten Steueroasen wie Liechtenstein immer mehr in die Kritik. "Es ist doch nicht hinnehmbar, dass wir hier in Europa Steueroasen haben, die letztlich indirekt zum Steuerbetrug anleiten", sagt Ronald Pofalla, Generalsekretär der CDU. Der Fürst von Liechtenstein ist beleidigt und weint Krokodilstränen, doch dann wird es wieder ruhig um die Steueroasen. Obwohl Zumwinkel kein Einzelfall ist. Auf einer CD, die jemand an die deutschen Behörden verkauft hat, schlummern die Daten von Hunderten Steuersündern. Manche erstatten noch rechtzeitig Selbstanzeige und können so auf Straffreiheit hoffen, bei anderen stehen Prozesse an - aber das ist vermutlich der Stoff für den nächsten Jahresrückblick.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Die Preise laufen aus dem Ruder

Ölpreis auf Rekordhoch

Ein Radfahrer passiert eine Tankstelle in Hamburg (Foto: AP)
Benzin und Diesel auf dem HöhenflugBild: AP

Im Frühsommer jedenfalls beschäftigt die Bürger in Deutschland etwas ganz anderes. Die Preise laufen aus dem Ruder. Benzin und Diesel sind so teuer wie noch nie. Ein Liter Super kostet 1,60 Euro, ein Liter Diesel 1,58 Euro. Die Mineralölkonzerne weisen alle Schuld von sich, schließlich ist der Ölpreis auf fast 150 Dollar pro Barrel gestiegen. Spekulanten, die ihr Kapital aus dem maroden Immobilienmarkt abziehen, heizen eine neue Blase an.

Und nicht nur das - sie entdecken auch die Wetten auf steigende Preise bei Agrarprodukten. Die Nahrungsmittelpreise schnellen weltweit in ungekannte Höhen. Schuld ist wie so oft schon die Globalisierung. Immer mehr Menschen profitieren von ihr, haben wachsende Einkommen - und wachsende Ansprüche an die Küche. Joachim von Braun, Generaldirektor des Internationalen Instituts für Ernährungspolitik-Forschung in Washington, bringt es auf einen kurzen Nenner: "Die Welt konsumiert mehr als das, was sie produziert.“

Und das, was produziert wird, wird teilweise noch zu Biosprit verarbeitet, anstatt hungrige Mägen zu füllen. Eine verrückte Welt. Wovon die Deutschen aber vergleichsweise wenig mitbekommen. Denn hierzulande liefern sich die großen Lebensmittel-Handelsketten einen gnadenlosen Konkurrenzkampf, der die Preise niedrig hält.

Euro auf einsamen Höhen

Bündel von Dollarnoten (Foto: AP)
Der Dollar war im Frühsommer so billig wie noch nieBild: AP Graphics

Vergleichsweise niedrig fällt für die Europäer auch die Import-Rechnung aus - für alles, was in Dollar bezahlt werden muss. Ende Juni steigt der Euro nämlich auf ein Rekordhoch von 1,65 Dollar. Das freut die Urlauber - und lässt die exportorientierte deutsche Wirtschaft zittern. Zunächst trifft aber die Dollarschwäche die deutsche Wirtschaft weniger stark als gedacht: Schließlich gehen fast zwei Drittel der deutschen Exporte in die Eurozone. Und hier ist die deutsche Industrie in den vergangenen Jahren preislich sehr wettbewerbsfähig geworden.

Doch weil einige EU-Länder, vor allem Italien und Frankreich, stärker von der Dollarschwäche getroffen werden, könnte das bald doch auf die deutsche Konjunktur zurückwirken, sagt David Milleker, Chefvolkswirt von Union Investment: "Diese Drittländer-Effekte werden es dann sein, die die Nachfrage nach deutschen Exporten erheblich dämpfen werden."

Gegen Ende des Jahres jedoch kommt der Euro von seinen einsamen Höhen herunter. Wodurch sich die Deutschen vermutlich in diesem Jahr noch einmal Exportweltmeister nennen dürfen, bevor China diesen Titel übernimmt. Letztendlich ein müßiger Streit. Denn beide Exportnationen werden Federn lassen müssen, weil die Bankenkrise immer mehr Opfer fordert und in eine globale Rezession mündet.

Kreditanstalt für Wertverlust

Logo der Kreditanstalt fuer Wiederaufbau (Foto: AP)
Kreditanstalt für Wiederaufbau: "Ärgerlicher Fehler"Bild: AP

Im März muss die amerikanische Großbank J.P. Morgan Chase der Investmentbank Bear Stearns unter die Arme greifen, die sich mit Schrotthypotheken verspekuliert hat. Im September übernimmt die US-Regierung die Kontrolle über die Hypotheken-Giganten Fannie Mae und Freddie Mac - der Anfang eines beispiellosen Rettungs-Marathons, dessen Ende immer noch offen ist. Kurz danach der "Schwarze Montag" an der Wall Street: Die Investmentbank Lehman Brothers ist pleite.

"Jetzt höre ich heute früh in den Nachrichten, dass die Kreditbank für Wiederaufbau kurz vor der Pleite der Lehman-Bank noch mal 300 Millionen überwiesen hat, futsch sind sie, tolle Experten, kann ich nur sagen.“ Gregor Gysi, der Vorsitzende der Linkspartei, hat richtig gehört: Die staatliche Förderbank KfW überweist mehr als 300 Millionen Euro an Lehman Brothers, obwohl die Pleite schon bekannt war. "Das ist mehr als verwunderlich und ärgerlich", sagt Thorsten Albig, Sprecher des Finanzministers. Entsetzen und Spott allenthalben: KfW, Kreditanstalt für Wertverlust, dichtet ironisch der Vorsitzende des Haushaltsausschusses des Bundestages, Otto Fricke.

In den USA geraten unterdessen der Versicherungsriese AIG und die Sparkasse Washington Mutual ins Taumeln, die Regierung kündigt ein 700 Milliarden Dollar schweres Rettungspaket für die Finanzbranche an. Doch auch in Deutschland ist die Finanzkrise längst angekommen. Mehrere öffentliche Landesbanken müssen Milliarden abschreiben, der Immobilienfinanzierer Hypo Real Estate ist nur durch eine Regierungsbürgschaft von 35 Milliarden Euro zu retten, die nur eine Woche später auf 50 Milliarden Euro aufgestockt werden muss.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: In der Kreditklemme

Rettungspakete geschnürt

Bundeskanzlerin Angela Merkel (Foto: AP)
Bundeskanzlerin Angela Merkel: "Sache der Banken"Bild: AP

Ein Tropfen auf den heißen Stein. Denn das Finanzsystem insgesamt ist immer noch gefährdet, sogar mehr denn je. Denn weil keine Bank wweiß, wie viele faule Eier der Wettbewerber in seiner Bilanz hat, tendiert die Bereitschaft, sich untereinander kurzfristig Geld zu leihen, gegen Null. Der so genannte Interbankenhandel kommt zum Erliegen, das Wort von der Kreditklemme macht die Runde. Sechs große Notenbanken senken in einer gemeinsamen Aktion die Leitzinsen, nachdem sie zuvor ohne großen Erfolg Milliardenbeträge in den Geldmarkt gepumpt haben. Immer mehr Bürger machen sich Sorgen um ihre Spareinlagen. Am 13. Oktober schließlich spannt die Bundesregierung einen gigantischen Rettungsschirm im Volumen von 500 Milliarden Euro über die Banken. "Jetzt ist es an den Banken, die angebotenen Hilfen auch wirklich in Anspruch zu nehmen", sagt die Kanzlerin.

Doch die zögern erst einmal. Denn staatliche Hilfen in Anspruch zu nehmen, das käme ja dem Eingeständnis des Scheiterns gleich. Und das will zum Beispiel Josef Ackermann, Chef der Deutschen Bank, für sein Institut auf keinen Fall eingestehen. Was Finanzminister Peer Steinbrück ziemlich ärgert: "Ich finde es sehr erstrebenswert, mehr als das, wünschenswert, wenn Herr Ackermann deutlich machen würde, auch öffentlich, dass er zu den Unterstützern dieser Konstruktion gehört. Zumal er maßgeblich daran mitgewirkt hat, auch in Gesprächen mit mir.“

Vom Saulus zum Paulus

Finanzminister Peer Steinbrück (Foto: AP)
Verärgert über Deutsche Bank Chef Ackermann: Finanzminister Peer SteinbrückBild: AP

Staatshilfen gibt es natürlich nicht umsonst - sie sind an Bedingungen geknüpft. Keine Bonuszahlungen mehr, keine Dividenden für die Zeit der Sanierung, keine Kapitalspritze höher als zehn Milliarden Euro, kein Manager-Gehalt mehr über 500.000 Euro. Wenig später macht Josef Ackermann einen Rückzieher: "Ich bin heute hier absolut vom Saulus zum Paulus geworden. Ich glaube, dass Aufsichtsbehörden die Pflicht haben sollten, Geschäftsmodelle kritisch zu hinterfragen. Denn was wir gesehen haben in vielen Ländern, auch hier in Deutschland, da muss man sich eigentlich fragen, wie so solche Geschäftsmodelle über so lange Zeit möglich waren.“

Die Bankenkrise greift indes langsam, aber sicher auf die Realwirtschaft über. Als erstes melden die Autobauer Absatzeinbrüche und verordnen ihren Mitarbeitern Kurzarbeit, der Chemieriese BASF legt 80 Produktionsanlagen still, die GM-Tochter Opel bittet die Regierung um eine Bürgschaft. Die EU-Kommission beschließt ein Konjunkturpaket von rund 200 Milliarden Euro, die Bundesregierung will der Wirtschaft mit 50 Milliarden Euro unter die Arme greifen. Das Wort Konjunkturprogramm vermeidet sie allerdings. "Wir wollen jetzt sicherstellen, dass möglichst viele Arbeitsplätze erhalten werden können und möglichst viele Branchen ihre gute Entwicklung fortsetzen können," sagt Angela Merkel.

Robuster Arbeitsmarkt

Ford, Chrysler und GM: Die großen Drei auf Betteltour in Washington (Foto: AP)
Ford, Chrysler und GM auf Betteltour in WashingtonBild: AP

Ein verrücktes Jahr 2008. Die Banken fallen wie die Dominosteine, der IWF korrigiert seine Wachstumsprognose nach unten, Großbritannien und die USA stehen vor einer Rezession, die Weltwirtschaft vor einer Abkühlung. In Osteuropa und Lateinamerika ziehen westliche Investoren Geld ab, weil sie es daheim zum Stopfen der Löcher brauchen, die Unternehmen verordnen sich überall drastische Sparprogramme, in den USA drohen GM, Ford und Chrysler pleite zu gehen.

Gibt es denn gar nichts Positives zu berichten? Doch, doch, denn jede Medaille hat zwei Seiten. Die sinkende Nachfrage lässt zum Beispiel den Ölpreis unter 50 Dollar fallen, der Höhenflug des Euro ist gestoppt, die Nahrungsmittelpreise geben nach, die Inflation in Europa hat ihren Höhepunkt überschritten. Und der Arbeitsmarkt in Deutschland zeigt sich erstaunlich robust: Zwei Mal, im Oktober und im November, lag die Zahl der Arbeitslosen unter drei Millionen. Das ist doch was, oder?