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Von der Fischerei zum Rentnerparadies

4. September 2011

Strukturwandel, Vergreisung, Rechtsradikalismus: Egal welche Partei die Landtagswahl am 4. September gewinnt, sie ist um ihren Job nicht zu beneiden. Aber wenigstens die Natur meint es gut mit Mecklenburg-Vorpommern.

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Fischerfest in Freest (Vorpommern) (Foto: Bernd Gräßler/DW)
Bild: DW

Die Sonne strahlt, über dem Freester Hafenbecken dreht sich ein Riesenrad , in die frische Seeluft mischt sich der Duft von gebratenen Flundern, und die Wiesen hinter den Dünen sind mit Autos vollgestellt. Der kleine Ostsee-Ort Freest feiert wie jedes Jahr im August mit tausenden Gästen sein Fischerfest. Was die vielen Touristen nicht wissen: Die Fischer kämpfen seit Jahren ums wirtschaftliche Überleben. In diesem Jahr haben sie deshalb an ihre Hütten Schilder gehängt: "EU-Fischereipolitik erteilt Berufsverbot" oder "Rettet die Fischerei in M-V".

Michael Schütt, Geschäftsführer der Fischereigenossenschaft "Peenemündung", vor einem Plakat "Rettet die Fischerei in M-V" (Foto: Bernd Gräßler/DW)
Michael Schütt, Geschäftsführer der Fischereigenossenschaft "Peenemündung"Bild: DW

In Mecklenburg-Vorpommern gab es vor zwei Jahrzehnten noch rund 900 Küstenfischer, heute sind es gerade mal reichlich 300. Schuld seien vor allem die niedrigen Fangquoten, sagt Michael Schütt, Geschäftsführer der Fischereigenossenschaft "Peenemündung": "Früher war die Heringssaison drei Monate lang, in diesem Jahr hatten wir die Quote, die uns die EU vorschreibt, schon nach zwei Wochen ausgeschöpft". Brüssel schere alle über einen Kamm, beklagt Schütt: "Wir mit unseren kleinen Kuttern sind wirklich nicht schuld, wenn die Weltmeere überfischt sind - hier bei uns gibt es noch genug Hering." In diesem Jahr hat die Stimmung der Fischer einen Tiefpunkt erreicht. "Nur noch 9000 Tonnen Ostsee-Hering dürfen wir fangen", sagt der 46jährige Betriebswirt. 1999, als er Chef wurde in der Genossenschaft, war es noch das Zehnfache.

Wenig Hoffnung auf die Politiker

Kürzlich hatte Mecklenburg-Vorpommerns SPD-Landwirtschaftsminister Till Backhaus in Brüssel versucht, Verbesserungen für seine Küstenfischer zu erreichen, doch ohne Ergebnis. Auch die bevorstehenden Landtagswahlen machen den Fischern wenig Hoffnung, denn "egal wer in Schwerin regiert" - so Michael Schütt - "gegen Brüssel kommen sie nicht an".

Wahlwerbung von CDU, NPD bei Anklam(Foto: Bernd Gräßler/DW)
Wahlwerbung von CDU und NPDBild: DW

Die Meinung, es mache wohl kaum einen Unterschied, welche der großen Parteien in Schwerin das Sagen habe, ist weit verbreitet. Viele Bürger sehen ihr kleines Land als Spielball von Globalisierung und EU-Bürokraten. Gemessen daran sind die derzeitigen Umfragewerte für die rechtsradikale NPD, die sich als letzter Vertreter "deutscher Interessen" aufspielt, mit etwa 4 Prozent noch erstaunlich niedrig. Allerdings lagen die Prognosen vor fünf Jahren ähnlich, doch am Wahltag zog die NPD dann mit 7,3 Prozent in das Schweriner Landesparlament ein. Wer derzeit durch Vorpommern fährt, kann sie nicht übersehen, die - wegen drohender Abrißgefahr - besonders hoch angehängten Plakate der Rechten.

Post von der NPD

Die NPD habe sich sein Land als Aufmarschbasis auserkoren, sagt der sozialdemokratische Ministerpräsident Erwin Sellering, der ebenso wie sein Herausforderer Lorenz Caffier von der CDU ein bundesweites Verbot der Rechtsaußen-Partei fordert.

Die Freester Fischer hatten vor einigen Monaten einen Brief der NPD-Landtagsfraktion bekommen mit der Ankündigung, man werde alles dafür tun, "dass sich unser Volk von der EU-Geißel losreißen kann". Als in der Eisengießerei im vorpommerschen Torgelow Mitte August mitgeteilt wurde, aus Kostengründen rund 50 Jobs an polnische Arbeiter zu vergeben, zogen NPD-Mitglieder mit einem Transparent "EU-Wahnsinn stoppen!" vor das Werk und forderten, die europäische Arbeitnehmerfreizügigkeit aufzukündigen. Einige Tage später tauchten dann auch Landtagsabgeordnete von Linken, SPD und CDU vor dem Werkstor auf und entrollten ein Transparent: "NPD-Parolen helfen hier nicht weiter".

Aber was hilft weiter? Das fragen sich viele der 1,65 Millionen Menschen in dem nordostdeutschen Bundesland, das fast 12 Prozent Arbeitslosigkeit und die niedrigsten Löhne Deutschlands hat und aus dem jedes Jahr 14.000 meist jüngere Leute abwandern.

Tourismusbranche mit Niedriglöhnen

Seit dem Zusammenbruch der DDR vollzieht sich im ostdeutschen Küstenland ein radikaler Strukturwandel. Nicht nur die Fischerei droht auf der Strecke zu bleiben. Auch die kleinen, hochmodernen Werften in Wismar, Rostock, Stralsund oder Wolgast haben es schwer gegen die staatlich subventionierten Konkurrenten in Südkorea und China. Und die Landwirtschaft, deren gelbe Rapsfelder und grüne Wiesen die Landschaft prägen, gibt mit ihren großen Flächen und ihrer modernen Technik nur noch wenigen Menschen Arbeit.

Als zukunftsträchtig gelten die Windenergiebranche, aber auch die Biotechnologie, doch den Mangel an gutbezahlten Arbeitsplätzen können sie nicht ausgleichen.

Landschaft in Mecklenburg-Vorpommern (Blick über die Dänische Wieck bei Greifswald) (Foto: Bernd Gräßler/DW)
Landschaft in Mecklenburg-Vorpommern bei GreifswaldBild: DW

Glücklicherweise hat die Natur Mecklenburg Vorpommern mit einigem Reichtum gesegnet: Mit einer langen Küste mit feinsandigen Stränden und den Kreidefelsen auf Deutschlands größter Insel Rügen, mit der Halbinsel Usedom, mit Seen und Naturparks im Binnenland - allesamt im Sommer Ferienziel Nr. 1 der Deutschen. Drei von vier Arbeitsplätzen sind heute in der Dienstleistungsbranche angesiedelt, vor allem im Tourismus. Aber sie werden oft schlecht bezahlt, und auch dies ist ein Thema im Wahlkampf. Während die CDU vor allem an das soziale Gewissen der Unternehmer appelliert, fordern SPD und Linke einen gesetzlichen Mindestlohn. Den könnte allerdings nicht die Landesregierung in Schwerin einführen - für so etwas ist die Bundesregierung in Berlin zuständig.

Milliarden aus Brüsseler Geldtöpfen

In der EU zählt Mecklenburg-Vorpommern noch bis 2013 zu den sogenannten "Ziel-1-Fördergebieten", weil das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf unter 75 Prozent des europäischen Durchschnitts liegt. Von 2007 bis 2013 fließen deshalb 2,5 Milliarden Euro aus Brüsseler Töpfen. Auch zur Sanierung des Fischereihafens Freest steuerte die Europäische Union einst acht Millionen Euro bei. "Wenn wir durch die Brüsseler Heringsquoten ruiniert sind, bleibt uns wenigstens ein schmucker Museumshafen", spottet ein Freester.

Die Porträts der Spitzenkandidaten von SPD und CDU, Ministerpräsident Erwin Sellering (r, SPD) und Innenminister Lorenz Caffier (l, CDU) (Foto: picture-alliance/ZB)
Spitzenkandidaten: Ministerpräsident Erwin Sellering (r, SPD) und Innenminister Lorenz Caffier (l, CDU)Bild: picture-alliance/ZB

Abgesehen vom Ärger über die oft ausländerfeindlichen Wahlparolen der NPD ist der Wahlkampf allerdings zum Gähnen langweilig: Die Landesregierung hat in entscheidenden Dingen ohnehin nur geringen politischen Spielraum, zudem sind die beiden Hauptkonkurrenten SPD und CDU derzeit miteinander eng verbandelt, denn sie regieren gemeinsam in einer großen Koalition. Die meisten Leute hier gehen davon aus, dass der Sozialdemokrat Erwin Sellering mit den Christdemokraten als Juniorpartner im Herbst weiter regieren und die Linke in der Opposition bleiben wird. Der bundesweite Trend dürfte dafür sorgen, dass die Grünen auch in den letzten Landtag einziehen, in dem sie bisher noch nicht vertreten sind, während die FDP an der 5-Prozent-Hürde scheitern könnte.

Vergreisung im Zeitraffer

"Wenn die Welt untergeht, so ziehe ich nach Mecklenburg, denn dort geschieht alles 50 Jahre später", soll der deutsche Reiskanzler Otto von Bismarck 1885 gesagt haben. Der Spruch wird gern zitiert, doch er ist längst überholt. Denn Mecklenburg-Vorpommern ist heute Vorreiter bei der tiefgreifendsten Veränderungen in der deutschen Gesellschaft: dem demographischen Wandel. Die "Vergreisung" vollzieht sich sozusagen im Zeitraffer, weil eine niedrige Geburtenrate, die Abwanderung junger Menschen und der Zuzug von Pensionären auf der Suche nach Seeluft und Ruhe zusammenfallen. Wurden 1990 immerhin noch 23.500 Kinder geboren, sind es heute nur rund 13.000, das Durchschnittsalter der Bevölkerung stieg im gleichen Zeitraum von 36 auf 46 Jahre.

Während die Jugend gen Westen abwandert, zieht es Pensionäre aus der ganzen Bundesrepublik in den ostdeutschen Norden. Spötter reden schon vom "Rentnerparadies", und die Landesregierung versucht, aus der Not eine Tugend zu machen und fördert die sogenannte "Gesundheitswirtschaft": Seniorenheime, Rehabilitations-Kliniken, Wellness- und Gesundheitshotels schießen wie Pilze aus der Erde. Immerhin schaffen sie das, was Mecklenburg-Vorpommern am nötigsten braucht: neue Arbeitsplätze.

Autor: Bernd Gräßler

Redaktion: Hartmut Lüning