Von Brüdern zu Feinden
20. Oktober 2012
Der erste indische Premierminister Jawaharlal Nehru war nach dem verlorenen Krieg mit China der Prügelknabe: Zu blauäugig sei er gewesen, zu naiv, er habe die Zeichen falsch gedeutet - die indische Presse sparte nicht mit Häme. "Nehru hat seine Fehleinschätzung nie verwunden", sagt Joachim Betz, Asienexperte beim GIGA-Institut in Hamburg. Immer wieder hätten die indischen Militärs auf die schlechte Bewaffnung der indischen Truppen hingewiesen. "Auch darauf, dass das Terrain eigentlich zugunsten Chinas ausfällt. Indien liegt strategisch an den Berghängen, muss mit seinen Truppen also empor kriechen, und China kann aus der Höhe agieren", erklärt Politikwissenschaftler Betz.
Schätzungen zufolge waren die chinesischen Truppen etwa fünf bis zehn Mal so stark wie die indischen, als sie am 20. Oktober 1962 an zwei Stellen - im Osten und Westen der Grenze - angriffen. Sie drangen dabei weit in das Gebiet des heutigen indischen Bundesstaates Arunachal Pradesh und in einen Teil der Himalaya-Region Kashmir vor. Einen Monat dauerte der Krieg. Insgesamt wurden etwa 2000 Menschen getötet.
Historische Dimension
Der Krieg traf Indien unvorbereitet. Aber er hatte eine lange, komplizierte Vorgeschichte, die mehrere Jahrhunderte zurückreicht. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstand die Kolonie Britisch-Indien. Sie umfasste die heutigen Länder Indien, Pakistan und Bangladesch sowie Teile von Myanmar. Um 1835 kam es zwischen Großbritannien und Russland zum sogenannten Great Game. Dabei ging es um die Vormachtstellung in Zentralasien. Russland versuchte sein Einflussgebiet weiter Richtung in Süden auszudehnen. Tibet geriet zwischen die Fronten der beiden Reiche. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde Tibet britisches Protektorat. Doch 1912 erneuerte China seinen Anspruch auf Tibet, das aber 1913 seine Unabhängigkeit erklärte. 1914 verzichtete Großbritannien bei der Konferenz von Shimla, an der neben Tibet auch China teilnahm, auf seine Ansprüche. Henry McMahon, Außenminister Britisch-Indiens, handelte eine Grenzlinie mit China aus: die nach ihm benannte McMahon-Linie. Diese mehr als 3000 Kilometer lange Grenze wurde von China im Gegensatz zu Indien aber nur als vorläufige Grenzziehung betrachtet: "China betrachtete die McMahon-Linie als koloniale Grenze, die mit Wegfall der Kolonialmächte obsolet geworden ist", so Betz.
Von Brüdern zu Feinden
1947 erlangte Indien mit Pakistan die Unabhängigkeit von Großbritannien, 1949 wurde die Volksrepublik China gegründet. China-Expertin Anuradha Chenoy von der Jawaharlal-Nehru-Universität in Neu Delhi sagt, dass China und Indien nach ihrer Staatsgründung eigentlich die Probleme der kolonialen Vergangenheit überwinden wollten und zunächst sehr freundschaftliche Beziehungen pflegten: "Nehru hatte eine Vision. Indien und China sollten Freunde sein." Seine Begründung: Beide Länder hätten viele Gemeinsamkeiten, beide hätten gelitten und könnten daher eine asiatische Achse binden. Der Slogan von "Hindi Chini Bhai Bhai", Indien und China sind Brüder, machte die Runde.
1954 vereinbarten beide Länder die "Fünf Grundsätze der friedlichen Koexistenz". China war sogar bereit, die McMahon-Linie als Grenze zu akzeptieren. Im Gegenzug sollte Indien seine Ansprüche auf die Region Aksai Chin aufgeben, in die China bei seiner Annexion Tibets vorgedrungen war und die es nun kontrollierte. Indien ging auf diesen Vorschlag nicht ein, antwortete äußerst scharf. "Da ging es nicht um den territorialen Gewinn. Aksai Chin ist auch heute ökonomisch völlig uninteressant", gibt Asienexperte Betz zu bedenken. Vielmehr brauchte China die Region, um seine weiter westlich gelegenen Gebiete verkehrstechnisch an den Rest des Riesenreiches anschließen zu können. "Fakt ist, dass in beiden Ländern der Nationalismus zunahm", fasst Politikwissenschaftlerin Chenoy zusammen. Immer wieder kam es in der Folge zu kleineren Scharmützeln an der Grenze. 1959 floh der Dalai Lama aus Tibet, Indien gewährte ihm Asyl: ein neuer Stachel im Fleisch in den bilateralen Beziehungen.
Eskalation verhindert
Interessanterweise erklärten Indien und China einander niemals offiziell den Krieg. Beide Seiten versuchten, den Konflikt relativ begrenzt zu halten. Die Auseinandersetzung wurde weltweit mit großer Sorge betrachtet, da sich zeitgleich die Kuba-Krise entwickelte. Der Kalte Krieg, die Konfrontation zwischen kommunistischer und demokratischer Grundordnung wie auch im Fall von Indien und China, erreichte eine neue Qualität. Am 20. November 1962 verkündete China einseitig einen Waffenstillstand und zog sich zwanzig Kilometer hinter die McMahon-Linie zurück. "Von selbst", betont China-Expertin Chenoy. Indien hatte zuvor die USA um militärische Hilfe gebeten. War es die Angst vor einer Eskalation des Konflikts, die Sorge um die immer schwieriger werdenden Witterungsbedingungen auf dem höchsten Schlachtfeld der Welt? Oder reichte es China, Indien seine Schwäche vorgeführt zu haben und es reichte deshalb die Hand? Das konnte die Geschichtsschreibung bislang nicht eindeutig klären.