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PolitikUkraine

Vom Knast an die Front: Wie die Ukraine Gefangene rekrutiert

Igor Burdyga | Anna Psemyska
6. Juli 2024

Viele Straftäter in der Ukraine ziehen den Schützengraben dem Gefängnis vor. Rekrutierer werben sie für ihre Brigaden an. Wie unterscheidet sich die Mobilisierung von Gefangenen in der Ukraine und in Russland?

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Gefangene in einer Haftanstalt in der Nähe von Kiew schauen auf eine blau-gelb bemalte Wand
Gefangene in einer Haftanstalt in der Nähe von KiewBild: Igor Burdyga/DW

Seit Beginn der Häftlingsmobilisierung in der Ukraine Mitte Mai ist jeder neunte der rund 27.000 Gefangenen in Justizvollzugsanstalten "vorzeitig freigekommen, um sich direkt an der Verteidigung des Landes zu beteiligen", wie es offiziell heißt. "Freiheit" ist für die rund 3000 Männer allerdings nicht ganz das richtige Wort. Bewacht von der Nationalgarde werden sie zunächst zu einem Einberufungsamt gebracht, um einen Vertrag mit den Streitkräften abzuschließen. Von dort geht es weiter zum Truppenübungsplatz, wo aus ihnen Soldaten werden sollen.

Lang ersehnter Fronteinsatz

Viele von ihnen wollten schon seit dem Beginn von Russlands umfassender Invasion der Ukraine an die Front und wandten sich an die Gefängnisleitung, die zuständigen Behörden, Abgeordnete und Menschenrechtsaktivisten. Der Dienst an der Waffe war jedoch für Personen, die zu einer Freiheits- oder Bewährungsstrafe verurteilt worden waren, verboten. In den ersten Monaten nach Kriegsbeginn konnten noch mehrere hundert Männer aus dem Gefängnis in die Kaserne überstellt werden, weil deren Fälle von den Gerichten noch nicht behandelt worden waren. Doch dann stoppte die Mobilisierung von Gefangenen.

Im Wachturm eines ukrainischen Gefängnisses ist ein Wärter zu sehen
Wachturm eines ukrainischen GefängnissesBild: Igor Burdyga/DW

Serhij Jonuschas ist der Vorsitzende des Parlamentsausschusses für Strafverfolgung. Er sagt, damals habe Jewgenij Prigoschin, der Gründer der berüchtigten russischen "Wagner-Gruppe", gerade damit begonnen, Straftäter aus russischen Gefängnissen zu rekrutieren. Außerdem habe das russische Verteidigungsministerium die "Storm-Z"-Brigaden gebildet, die hauptsächlich aus Häftlingen bestehen.

Jonuschas zufolge gab es zunächst ethische Bedenken dagegen, auch in der ukrainischen Armee Sträflinge einzusetzen. Doch Ende Mai 2024 verkündete er im Hof eines Gefängnisses in der Region Kiew dann doch eine Gesetzesänderung, die nun auch der Ukraine die Mobilisierung von Gefangenen ermöglicht.

"Innerhalb von zwei Wochen haben wir 4564 Anträge von Straftätern aus dem ganzen Land erhalten. Das ist mehr als wir insgesamt geplant hatten", sagt die stellvertretende Justizministerin Olena Wysozka.

Kriegsdienst nicht jedermanns Sache

Die Prüfung der Anträge dauert etwa eine Woche. Gefangene mit Verletzungen sowie HIV- oder Tuberkulose-Patienten werden von den Anstaltsärzten aussortiert. Ob Häftlinge überhaupt für den Militärdienst in Frage kommen, hängt auch davon ab, wofür sie verurteilt wurden.

Nach heftigen Debatten hatten sich die Parlamentarier in Kiew darauf geeinigt, niemanden in die Armee aufzunehmen, der wegen Verbrechen gegen die nationale Sicherheit, wegen Terrorismus, vorsätzlichen Mordes an zwei oder mehr Menschen, Angriffen auf Polizisten oder Militärs, Verkehrsunfällen mit Todesfolge infolge Trunkenheit, sexueller Gewalt oder besonders schweren Korruptionsdelikten verurteilt wurde.

Eine Gruppe Gefangener marschiert draußen in einem ukrainischen Gefängnis
In Gefängnissen wird nach motivierten Kämpfern gesuchtBild: Igor Burdyga/DW

Wer nicht sofort ausgemustert wird, bekommt Besuch von den Personaloffizieren ukrainischer Brigaden. Sie betonen gegenüber der DW immer wieder den grundlegenden Unterschied zwischen ihren Besuchen und der Mobilisierung in russischen Gefängnissen. Es gehe nicht darum, die Gefangenen zum Krieg anzustacheln. Es gelte vielmehr, Freiwillige zu finden, die von sich aus eine bewusste Entscheidung für einen Einsatz an der Front getroffen hätten.

Mit Stand Mitte Juni wurden laut Gerichtsregister mehr als 2800 Anträge von Gefangenen überwiegend positiv beschieden. Aufsehen erregte der allererste Fall von Oleksandr B., einem 36-jährigen Maler aus Charkiw . Er war zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden, weil er sich der Mobilmachung entzogen hatte. Dagegen ging er beim Obersten Gerichtshof in Berufung. Nach einem Monat im Gefängnis in Perwomajsk, das für seine strengen Haftbedingungen berüchtigt ist, beantragte er selbst seine Einberufung zur Armee. Am 20. Mai wurde Oleksandr B. vom Gericht vorzeitig aus der Haft entlassen. Seinem Anwalt zufolge befindet er sich bereits in der Ausbildung.

Rekrutierer touren durchs Land

Ende Mai treffen wir den Bataillonskommandeur Dmytro Kuchartschuk vor einem ukrainischen Gefängnis. Im Herbst 2021 saß er selbst drei Monate hinter Gittern, weil er bei einer politischen Demonstration einen Polizisten geschlagen haben soll. Dem 34-jährigen Kommandeur folgen aus einem weißen SUV ein Armee-Psychologe, ein Kameramann und ein älterer Soldat. Das Team will hier Dutzende Gefangene rekrutieren, meist solche, die nicht ihre erste Haftstrafe verbüßen.

Portrait des Rekrutierers der 28. mechanisierten Brigade aus der Region Odessa
Ein Rekrutierer einer Militärbrigade aus der Region OdessaBild: Igor Burdyga/DW

Doch am Gefängnistor warten bereits zwei Vertreter einer anderen Brigade aus der Region Odessa. Auch sie touren als Rekrutierer durch ukrainische Gefängnisse. "Jemand hat etwas durcheinander gebracht, und wir werden nicht zu den Gefangenen gelassen", erklärt einer der beiden. "Man sagt uns, wir sollten bei uns im Süden rekrutieren. Aber woher sollen wir die Leute nehmen, wenn bei uns auf einen Kilometer Schützengraben nur 15 Mann kommen?"

Eine Frage der Motivation

Nach einigen Stunden kehren die Rekrutierer leicht enttäuscht zurück. Zwar konnte die Gruppe aus Odessa 18 Gefangene für sich gewinnen, und Dmytro Kuchartschuk suchte aus 40 Freiwilligen 17 aus. Doch er findet, seine Sturmbrigade könnte mehr vertragen. "Wir sind eine der wenigen Einheiten, die wissen, wie man mit Sträflingen umgeht. Wir kennen ihre Psyche", glaubt er.

Der emotionale und psychische Zustand, die Bereitschaft zum Kriegseinsatz und die Motivation des künftigen Soldaten seien wichtiger als die Last der Verbrechen der Vergangenheit, meint Kuchartschuk. "Die Menschen, auf die wir in Gefängnissen treffen, wollen ihren Kindern eines Tages sagen können, dass sie während des Krieges nicht im Gefängnis saßen, sondern das Land verteidigt haben", fügt er hinzu. 

In einer anderen Brigade soll in den nächsten Monaten ein eigenes Bataillon aus 600 bis 800 ehemaligen Häftlingen aufgestellt werden, vielleicht sogar mit einem eigenen Ex-Häftling als Kommandeur. "Es herrscht extremer Mangel und auf die von den Einberufungsämtern mobilisierten Männer werden wir noch warten müssen. So können wir jetzt schon Löcher stopfen", sagt der stellvertretende Kommandeur der Brigade, der sich mit seinem Vornamen Wladyslaw vorstellt. Als ehemaliger Staatsanwalt betrachtet er aus Gefängnissen rekrutierte Männer nicht als Kriminelle, die ihrer Strafe entgehen wollen. "Wir arbeiten mit Menschen, die motiviert sind, ihre Pflicht zu erfüllen", sagt Wladyslaw.

Portrait des Kommandeurs Wladyslaw, der vor einem Gefängnis steht
Kommandeur Wladyslaw will ehemalige Gefangene in einer eigenen Kampfgruppe zusammenfassenBild: Igor Burdyga/DW

Einer dieser Freiwilligen ist der 23-jährige Witalij J. aus Kiew. Im Herbst 2020 hatten ihn Polizisten in der Stadt Luzk mit einem Päckchen synthetischer Drogen festgenommen. Trotz seiner Beteuerung, er habe nur Pakete anderer Leute per Post verschickt, wurde er zu sieben Jahren Haft verurteilt. "Ich wollte schon während des Prozesses in den Krieg ziehen, aber es hieß, man würde mich nicht nehmen. So habe ich zwei Jahre abgesessen. Aber als das Gesetz rauskam, habe ich einen Antrag gestellt. Ich weiß, dass ich bis zum Ende des Krieges in der Armee dienen werde. Aber dort wird es besser sein als im Gefängnis", hofft der junge Mann.

Subkultur in ukrainischen Gefängnissen

Die Pläne, Ex-Häftlinge in eine eigene Kampfgruppe zusammenzufassen, sieht Bataillonskommandeur Kuchartschuk eher kritisch. "Wir werden keine Strafkompanien bilden, das ist inakzeptabel. Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht, die Rekrutierten unter andere Freiwillige zu mischen", sagt Kuchartschuk. Unterstützung erhält er von Oleh Zwilyj, dem Leiter der Menschenrechtsorganisation "Schutz für Gefangene in der Ukraine". Zwilyj setzt sich zwar seit zwei Jahren dafür ein, dass Gefangene in die Armee eintreten können. Allerdings sollten diese dort auf verschiedene Truppenteile verteilt werden. "Gefangene in einer Haftanstalt sind wie Spinnen in einem Glas. Sie werden ihre Konflikte, ihre subkulturelle Hierarchie und ihre Feindschaften auf jene isolierten Spezialeinheiten übertragen", warnt der Aktivist.

Laut Zwilyj sind die kriminellen Subkulturen in den Gefängnissen nicht zu unterschätzen. Es gebe eine Art Selbstverwaltung von Sträflingen, die in einem heiklen Verhältnis zur offiziellen Verwaltung stehe. Deren ungeschriebene Regeln, die sich schon vor einem Jahrhundert herausgebildet hätten, sähen im Normalfall ein klares Verbot des Militärdienstes für sogenannte "ehrenhafte Gefangene" vor. Nur "Berufsverbrecher", also bedeutende Vertreter der organisierten Kriminalität, hätten das "Recht", diese Regeln auszulegen.

Einer von ihnen, Serhij Lysenko, bekannt als Lera Sumskoj, der seit einigen Jahren im Ausland lebt, hatte noch zu Beginn der russischen Invasion im Februar 2022 die ukrainischen Kriminellen aufgefordert, den Staat zu verteidigen. "Er berief sich dabei auf eine Regel, wonach es die Pflicht jedes 'ehrenhaften Diebes' sei, als Reaktion auf einen Angriff zurückzuschlagen", erläutert Zwilyj.

Allerdings wurde die Beteiligung einiger "Berufsverbrecher" an der Rekrutierung russischer Gefangener für die Einheiten der russischen "Wagner-Gruppe" und des russischen Verteidigungsministeriums "Storm-Z" von anderen Unterwelt-Bossen scharf kritisiert. Darüber hatte das spezialisierte russischsprachige Portal "Prime Crime" unter Berufung auf verbreitete Anweisungen jener Bosse berichtet.

Streitpunkt Geld

Widerstand gegen die Mobilisierung von Sträflingen komme auch aus den Führungen der Haftanstalten, sagt Zwilyj. "Ihre Finanzierung hängt von der Zahl der Gefangenen ab, außerdem arbeiten viele von ihnen der heimischen Produktion zu, was den Anstalten erhebliche Gewinne einbringt", so der Aktivist. Er weiß auch von Beschwerden von Gefangenen über Korruption. Demnach würden Gefängnisleiter Bestechungsgelder für die Einreichung von Anträgen auf vorzeitige Entlassung verlangen, im Blick auf den zu erwartenden hohen Sold für den Einsatz an der Front.

Doch die Autoren des neuen Gesetzes bleiben optimistisch. Justizminister Denis Maljuska schätzt das "Mobilisierungspotential" in den ukrainischen Gefängnissen auf 20.000 Mann. Er schließt nicht aus, dass künftig einige Einschränkungen zur Rekrutierung bei bestimmten Straftaten aufgehoben und das Gesetz auch auf verurteilte Frauen ausgeweitet werden könnte.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk