Vom Aushängeschild zur "nationalen Schande"
2. Oktober 2010Die Commonwealth Games - die vom 3.-14. Oktober 2010 in der indischen Hauptstadt Neu Delhi stattfinden - waren das Prestigeobjekt der indischen Regierung. Nach den Asienspielen 1982 sollte diese Großveranstaltung Indiens Olympiabewerbung sein. Doch unfertige Bauten, ein wegen der hygienischen Zustände noch bis vor kurzem als unbewohnbar geltendes Athletendorf und Bedenken wegen der fehlenden Sicherheitsstandards haben dem Image Indiens sehr geschadet.
"Viele Menschen in Indien haben trotz aller Armut und Rückständigkeit im Land davon geträumt, etwas auf die Beine zu stellen, mit dem sich Indien in der Welt einen Namen machen kann", sagt Politikwissenschaftler Yogendra Yadav aus Neu Delhi. Doch dieser Plan sei grandios gescheitert. Als die ersten Meldungen über Korruption und andere Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit den Commonwealth Games ans Licht kamen, hätte die indische Bevölkerung das Vertrauen verloren. "Heute kenne ich nicht einen einzigen Menschen, der sich wirklich auf die Spiele freut."
Absagen und Pannen am laufenden Band
Knapp 60 Nationen des Commonwealth, zu dem Großbritannien und seine ehemaligen Kolonien gehören, wollten ihre Topstars nach Delhi schicken. Doch in den vergangenen Tagen hagelte es Absagen. So sind beispielsweise der jamaikanische Sprint-Olympiasieger Usain Bolt, der britische Weitspringer Phillips Idowu sowie die australischen Tennisspieler Leyton Hewitt und Samantha Stosur nicht dabei. Und auch die australische Weltmeisterin im Diskuswerfen, Dani Samuels, zog ihre Teilnahme zurück. Ihr sei es zu riskant, sie könne es nicht rechtfertigen, in Delhi anzutreten, begündete die Sportlerin ihre Absage. "Für mich gibt es einfach zu viele Gefahren, die meine Gesundheit oder sogar mein Leben gefährden können. Und das kann ich einfach nicht aufs Spiel setzen."
"Indiens Schande" titelten die indischen Zeitungen dann auch, als vor wenigen Tagen eine Fußgängerbrücke und Teile eines Stadiondaches einstürzten. Die englischsprachige Hindustan Times sprach von einem Alptraum, von dem jeder gehofft hatte, dass er nie eintreten würde. Indien sei erniedrigt und bloßgestellt worden, hieß es. Und dennoch versuchten Politiker wie die Ministerpräsidentin von Delhi, Sheila Dikshit, die Gemüter zu beruhigen. Natürlich sei es möglich, dass sich aufgrund heftiger Regenfälle und Überschwemmungen Wasser ansammle oder Risse in Gebäuden entstünden, aber das heiße noch lange nicht, dass die gesamten Spiele schlecht organisiert seien. "Natürlich gibt es Schwächen. Aber das ist doch verständlich. Schließlich ist die gesamte Organisation der Spiele ein riesiges Projekt."
Suche nach dem Sündenbock
Schätzungen gehen davon aus, dass die Spiele mehr als sechs Milliarden Dollar gekostet haben, ein Vielfaches mehr als geplant. Anders als im zentralistisch organisierten China hat sich die Regierung um Premierminister Manmohan Singh erst spät in die Organisation eingeschaltet. Bis vor vier Wochen durfte der Chef des Organisationskommitees, Suresh Kalmadi, ein enger Vertrauter Singhs und der Vorsitzenden der Kongresspartei, Sonia Gandhi, ungestört schalten und walten. Singh gilt als ausgewiesener Wirtschafts- und Finanzexperte, der 1991 als Finanzminister den Grundstein für Indiens wirtschaftlichen Aufschwung legte.
Doch wegen seiner leisen Stimme und seines fast schüchternen Auftretens wird ihm oft Führungsschwäche vorgeworfen. Die chaotische Vorbereitung der Spiele wird dennoch nicht auf ihn zurückfallen, vermutet der Politikwissenschaftler Yogendra Yadav. Man habe sich über die Führungsqualitäten des Regierungschefs schon im Vorfeld lustig gemacht, und daran werde sich auch danach nichts ändern. Aber aus Sicht Yadavs ist das auch gar nicht der springende Punkt. "Ich finde es lächerlich, den Erfolg einer Regierung mit einem sportlichen Event zu verbinden. Ich finde es viel wichtiger zu fragen, was diese Regierung bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der Inflation erreicht hat und ob sie ihren Bürgern ein Gefühl von Sicherheit bieten kann."
Zwischen Kritik und trotzigem Stolz
Doch anstatt solche Aspekte in den Fordergrund zu stellen, kritisiert der Politikwissenschaftler, wollten "einige wenige lieber ein Spektakel organisieren, dass die gesamte Welt ins Staunen versetzen sollte". Die meisten Menschen in Indien sind inzwischen ziemlich genervt, dass es außer den Commonwealth Games und der schlechten Organisation kein anderes Thema mehr zu geben scheint. "Baufirmen und Politiker haben im Namen der Entwicklung und Verschönerung Delhis eine Menge Geld ausgegeben. Und wir müssen dafür bluten", klagt dieser Mann in Neu Delhi. Ein anderer fügt hinzu, dass aufgrund der Spiele auch die Preise in der Stadt angezogen hätten. Zumindest vereinzelt gibt es aber auch andere Stimmen. "Vergesst doch mal euren Zorn und eure Wut und seid stolze Inder", mahnt eine Frau. Für sie steht trotz aller Pannen und Skandale nur eine zentrale Frage im Vordergrund: "Wie viele Länder können schon von sich behaupten, die Commonwealth Games ausgerichtet zu haben?"
Autorin: Priya Esselborn
Redaktion: Esther Broders