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Martinowitsch: "Jede Revolution findet im Inneren statt"

Iryna Ignatjuk
30. September 2021

Im DW-Interview erklärt der Autor, warum sein auf Deutsch erschienenes Buch "Revolution" in Belarus faktisch verboten ist. Und wie es um die Zukunft seiner Heimat steht.

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Viktor Martinowitsch steht mit verschränkten Armen lächelnd vor einem großen Plakat mit der Aufschrift Literaturhaus München.
"Angst und Liebe kennen keine Geografie" - Viktor MartinowitschBild: Iryna Ignatjuk

Viktor Martinowitsch ist einer der bekanntesten jungen belarussischen Schriftsteller. Sein Roman "Revolution" ist im Frühjahr 2021 auf Deutsch erschienen. In seiner Heimat ist das Buch jedoch faktisch verboten. In Deutschland hingegen kommt der Roman sogar auf die Bühne: Für April 2022 ist die Premiere am Hamburger Schauspielhaus geplant. Die DW hat mit dem Schriftsteller bei der Buchpräsentation im Literaturhaus München gesprochen.

DW: Seit den Protesten und Repressionen 2020 schaut Europa vermehrt auf Ihre Heimat. Dies gilt auch für die belarussische Literatur. Warum, denken Sie, ist Ihr Roman "Revolution" auch für deutsche Leser interessant?

Viktor Martinowitsch: Wir müssen eingestehen, dass Belarus auf der europäischen Landkarte bislang nicht existierte. Niemand kannte unsere Schriftsteller, und unsere Theaterstücke wurden auf europäischen Bühnen nicht aufgeführt. In einem Land, das es nicht gibt, kann man tun und lassen, was man will. Und das Wichtigste: Niemand erfährt davon!

Aber jetzt beginnt man uns, Belarussen, zu lesen. Dabei ist natürlich die Qualität der Bücher ausschlaggebend. Wenn uns Bücher gelingen, mit denen sich auch Europäer angesprochen fühlen, dann werden wir bestehen. Menschen sind überall nur Menschen, hier gibt es nichts speziell Belarussisches. Angst und Liebe kennen keine Geographie. Es macht mich traurig, wenn wir mit unserem Schmerz Handel treiben. Das sollten wir nicht tun, er ist eine schnell verderbliche Ware. Schmerz umgibt uns um ein Vielfaches mehr, als die Ohren, die bereit sind, sich diesen anzuhören. Wir müssen von Schönheit erzählen, weil Schönheit bleibt. Dies sind die Ziele, die ich mir selbst setze, während ich auf den europäischen Buchhandel zugehe.

Obwohl "Revolution" nicht von den Protesten in Belarus handelt, wurde der Roman dort faktisch verboten. In den Buchläden kann man ihn nicht kaufen, Lesungen sind verboten. Warum?

Buchcover Revolution  Viktor Martinowitsch
Deutsche Ausgabe des Romans "Revolution" von V. MartinowitschBild: Voland & Quist

Es ist ein Buch über die Natur der Macht. Vielleicht haben solch umfangreiche Ausführungen darüber, was Macht und Unterwerfung bedeuten, aber auch darüber, warum die Verweigerung von Freiheit so verführerisch ist, irgendjemandem missfallen. Aber wahrscheinlich war einfach nur ein Instinkt am Werk. Das Wort "Revolution" auf dem Buchcover sollte offenbar verbannt werden. Das finde ich bitter, denn das Buch trägt keine Schuld und hat ein solches Schicksal nicht verdient. Vielmehr nutzt es allen: Sowohl denjenigen, die es untersagt haben, als auch denjenigen, die es nicht ernsthaft betrachten wollen, weil es nicht von den belarussischen Protesten handelt. In dem Buch wird eigentlich alles verhandelt, auch um die Situation in Belarus im Jahr 2020. Nur ist die Handlung eben fiktiv. Ich sehe mich nicht als Dokumentarfilmer. Für mich ist interessant, von etwas zu erzählen, was es schon immer gab und immer geben wird.

Vor einem Jahr haben Sie nicht daran geglaubt, dass die belarussischen Proteste erfolgreich sein würden. Dennoch hielten Sie sie für einen Wendepunkt - verbunden mit Hoffnung. Haben die Belarussen jetzt noch Hoffnung?

Ich glaube, dass nur Gutes die Welt zum Besseren verändern kann. Gewalt, selbst Vergeltung, führt nicht zum Triumph irgendeiner Tugend. Wenn man anfängt, das Gesetz nach dem zu brechen, der es zuerst gebrochen hat, dann schafft man keine Gesellschaft, in der Gerechtigkeit und Ordnung herrschen. Daher liegt die Hoffnung auf denjenigen, die all das Unrecht gesehen und begriffen haben und ihr Handeln nun so gestalten, dass möglichst wenig Böses in ihm steckt. Denn jede Revolution findet im Inneren des Menschen statt, im menschlichen Herzen. Darauf hoffe ich. Sklaven machen keine Revolution, Sklaven können nur rebellieren. Jeder Aufstand kann von einer ausgebildeten Armee niedergeschlagen werden.

Haben Sie als Schriftsteller im Zuge der Protestbewegung eine gewisse Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit empfunden?

Viktor Martinowitsch
Viktor Martinowitsch hat zwölf Jahre an "Revolution" geschriebenBild: Dirk Skiba

Ich habe mich bemüht, dass meine Worte niemanden dazu bringen, sein eigenes Schicksal zu zerstören. Anfangs betrachteten viele Intellektuelle es als Pflicht eines Schriftstellers, Menschen zu irgendetwas aufzurufen. Aber da ich mir damals keine Illusionen machte, wie auch jetzt nicht, war mir klar, dass ich mit einem maßlosen Enthusiasmus das Schicksal von Menschen, die mir glauben, hätte ruinieren können.

Wie haben Sie es geschafft, diese Zeit selbst zu überstehen?

Für mich als kreativen Menschen, der alles sehr intensiv erlebt, war das sehr schwer. Das alles konnte mich nicht kalt lassen. Dieses Eintauchen führte zu einem sehr schweren Trauma. Wenn einem die Vorstellung von Rechtmäßigkeit und Verantwortung als Folge eigenen Handelns genommen wird und einem stattdessen das Bild einer Welt geboten wird, in jedem einzelnen schreckliche Dinge widerfahren können, dann kann man damit nur schwer umgehen. Wir werden noch lange die Folgen der Ereignisse in Belarus auslöffeln.

Ihnen wird nachgesagt, dass Sie über eine gute Voraussicht verfügen. Wie lautet Ihre Prognose über die nahe Zukunft von Belarus?

Ich habe aufgehört, meine Hoffnungen mit den aktuellen Entwicklungen in Belarus zu verbinden und suche stattdessen Freude an unvergänglichen Dingen, zum Beispiel in der Literatur, in der Kultur. Ich bin nicht dazu bestimmt, jetzt etwas zu verändern. Meine Aufgabe besteht darin, eine Art kulturelles Produkt zu schaffen, das vielleicht irgendwann im Chor der Leute mitspielen wird, die ein neues Belarus hervorbringen werden, das ich jedenfalls nicht mehr erleben werde. Aber das ist keine Prognose, sondern ein allgemeines Gefühl. Die Szenarien, die in meinem Kopf schwirren, behalte ich für mich. Sie sind sehr pessimistisch.

Das Gespräch führte Iryna Ignatjuk.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk