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PolitikVietnam

Vietnam: "Super-gealtert" in weniger als 25 Jahren

David Hutt
24. Januar 2025

In Vietnam sinken die Geburtenraten. Das südostasiatische Land will dagegen angehen, denn die derzeitige Entwicklung könnte am Ende auch der Wirtschaft schaden.

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Vietnamesische Schulkinder in einem Klassenzimmer
Demographische Alterung: Seit den 1980er Jahren hat sich der Anteil der Kinder an der vietnamesischen Gesellschaft nahezu halbiertBild: picture alliance/dpa/VNA/XinHua

Vietnams Geburtenrate schrumpft. Im vergangenen Jahr erreichte sie ein neues Rekordtief: Im Schnitt brachte jede Frau nur im Durchschnitt gerade 1,91 Kinder zur Welt. Zum dritten Mal in Folge blieb das Geburtenniveau damit unter 2,1 - und das vor dem Hintergrund einer boomenden Wirtschaft.

Die vietnamesische Bevölkerung zählt derzeit rund 100 Millionen Menschen. Das dürfte allerdings nicht so bleiben: Die staatliche Nachrichtenagentur Vietnam News Agency zitierte den stellvertretenden Direktor der Bevölkerungsbehörde des Gesundheitsministeriums, Pham Vu Hoang, mit der Aussage, die Bevölkerung könnte Mitte des Jahrhunderts zu schrumpfen beginnen.

In den Metropolen ist diese Entwicklung bereits spürbar. In Ho-Chi-Minh-Stadt, dem südlichen Wirtschaftszentrum des Landes, sank die Geburtenrate vietnamesischen Nachrichtenagenturen zufolge von 1,39 Kindern pro Frau im Jahr 2022 auf nur noch 1,32 im Jahr 2023. Im Jahr 2024 dürfte sie sich nochmals reduziert haben.

Auf diese Entwicklung hat der Stadtrat kürzlich mit Maßnahmen zur Förderung höherer Geburtenraten reagiert. Dazu zählen unter anderem Zuschüsse für Frauen unter 35 mit zwei Kindern und kleine Finanzhilfen für Untersuchungen während der Schwangerschaft und kurz nach der Geburt, die Familien mit niedrigem Einkommen erhalten können. Diese Maßnahmen sollen künftig noch ausgebaut werden - in der Hoffnung, die Geburtenrate bis 2030 auf 1,6 steigern zu können.

Eine vietnamesische Mutter mit ihrem Kind, Hanoi, 2024
Vietnamesische Frauen bringen immer weniger Kinder zur Welt - Szene aus Hanoi, 2024Bild: Hau Dinh/AP Photo/picture alliance

Ökonomische Folgen 

Staatliche Medien warnten bereits zuvor vor einer "demografischen Zeitbombe". Ein Report des Marktforschungsunternehmens Ipsos mit dem Titel  "Generation Myths & Realities 2024" analysierte die wirtschaftlichen Auswirkungen der drohenden Bevölkerungskrise. Diese bringe für Marken und Unternehmen "Herausforderungen wie auch Chancen" mit sich.

Vietnam ist attraktiv für westliche Investoren, die nicht nur in China aktiv sein wollen. Der Geburtenrückgang scheint ihnen bislang allerdings kein Kopfzerbrechen zu bereiten. Im Gegenteil: Das südasiatische Land setzt seinen rasanten Aufstieg fort. Im vergangenen Jahr konnte es einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von sieben Prozent vorweisen. Zwar gingen die Investitionen aus dem Ausland im Vergleich zum Vorjahr um drei Prozent auf 38 Milliarden Dollar (36,7 Milliarden Euro) zurück. Sollten die Handelsspannungen zwischen den USA und China unter der Trump-Administration aber eskalieren, dürfte viel westliches Kapital nach Vietnam fließen. Politisch strebt Vietnam derzeit ausgeglichene Beziehungen zu seinen internationalen Partnern an. 

Er habe nicht gehört, dass europäische Unternehmen angesichts der demografischen Probleme Vietnams vor Investitionen dort zurückschreckten, sagt Chris Humphrey, Exekutivdirektor des EU-ASEAN Business Council, der DW. Allerdings erwarte er, dass Hanoi Maßnahmen in Bereichen wie der Altersvorsorge, der Produktivitätssteigerung und der Automatisierung sowie Investitionen in das Gesundheitssystem ergreife, um die Probleme einer alternden Gesellschaft in den Griff zu bekommen.

Ähnlich sehen es Branchenexperten. Soll das Land weiterhin Investoren anziehen, müsse sich die vietnamesische Regierung auf die Kernthemen der Wirtschaftsreformen konzentrieren. "Die Demografie ist zwar ein Teil der Gleichung - aber eben nur ein Teil", sagt Dan Martin von dem Beratungsunternehmen Dezan Shira & Associates.

Für die Investoren spielten weitere Faktoren eine Rolle, so Martin zur DW. "Vietnams starkes Wirtschaftswachstum, seine Einbindung in Handelsabkommen, seine Rolle in regionalen Lieferketten - all das macht es weiterhin zu einem attraktiven Zielland".

Ende der "demografischen Dividende"?

Im Jahr 1986, als Vietnam nach Jahrzehnten einer katastrophalen Planwirtschaft seine marktwirtschaftlichen Reformen einleitete, waren fast 40 Prozent der Bevölkerung unter 16 Jahre alt. Das durch eine junge und große Erwerbsbevölkerung angekurbelte Wachstum war das Fundament der wirtschaftlichen Entwicklung.

Heute befindet sich Vietnam im Ranking der weltweit stärksten Volkswirtschaften auf Rang 32. Doch anders als früher machen Kinder heute nur etwa ein Fünftel der Bevölkerung aus. Und der Anteil der 15- bis 64-Jährigen wird Prognosen zufolge von 69 Prozent im Jahr 2020 auf 63 Prozent im Jahr 2050 sinken.

Sorge angesichts fallender Geburtenrate

Im Jahr 2020 stellten die über 65-Jährigen lediglich 8,4 Prozent der Bevölkerung. Dennoch wird sich Vietnam laut Prognosen bis 2034 in eine "gealterte" Gesellschaft verwandeln. Dieser Begriff gilt für Gesellschaften, in denen 14 Prozent der Bevölkerung 65 Jahre oder älter sind. Als "super-gealtert" gilt eine Gesellschaft, wenn der Anteil 20 Prozent übersteigt. Das dürfte in Vietnam bis 2049 der Fall sein.

Experten warnen, ein schrumpfender Arbeitskräftepool werde aller Voraussicht nach die Produktivität senken und das Wirtschaftswachstum verlangsamen. Eine alternde Bevölkerung werde zudem die Staatsressourcen stärker belasten. Zugleich sinke die  Zahl der steuerzahlenden Arbeitnehmer.

Einer Studie der Weltbank aus dem Jahr 2022 zufolge könnten die Rentenausgaben Vietnams von derzeit zwei Prozent des BIP auf 3,6 Prozent im Jahr 2050 und sogar 5,6 Prozent im Jahr 2080 steigen. Die Rentenüberschüsse des Landes könnten in diesem Szenario in den 2040er Jahre aufgebraucht sein.

Vietnam hinter Thailand

Bereits 2017 warnte der Internationale Währungsfonds, Vietnam laufe Gefahr, "zu altern, bevor es reich wird". Zwar mögen die Bevölkerungsprobleme des Landes nicht so gravierend sein wie in einigen Nachbarländern. Dennoch dürfte Vietnam Probleme haben, bis zum Jahr 2034 - dem Datum, von dem an seine Gesellschaft voraussichtlich "überaltert" sein wird - wirtschaftlich hinreichend aufzuholen.

Thailand wurde bereits 2020 zu einer "gealterten" Gesellschaft. Damals lag das BIP bei rund 7000 Dollar pro Kopf. Als das weitaus wohlhabendere Singapur im Jahr 2017 zu einer "gealterten" Gesellschaft wurde, betrug das BIP 61.000 Dollar pro Kopf. Zum Vergleich: Vietnams BIP pro Kopf betrug 2023 nur 4300 Dollar.

Blick in einen Fertigungsbetrieb in Haiphong, 2016
Mit seinen Nachbarn konkurriert Vietnam um ausländische Investitionen - Blick in einen Fertigungsbetrieb in Haiphong, 2016Bild: Thomas Koehler/photothek/picture alliance

Mögliche Gegenmaßnahmen

Seit Jahrzehnten praktiziert Vietnam eine komplexe Zwei-Kind-Politik. In deren Rahmen können Angestellte des Staates oder staatlicher Unternehmen wegen der Geburt eines dritten Kindes entlassen werden. Auch Mitglieder der regierenden Kommunistischen Partei wurden aus der Partei ausgeschlossen, wenn sie mehr als zwei Kinder hatten. Bereits seit Mitte der 2010er Jahre debattiert die kommunistische Regierung über die eine Aufhebung dieser Politik.

Derzeit arbeitet die vietnamesische Regierung an einem Bevölkerungsgesetz, das der Nationalversammlung in diesem Jahr vorgelegt werden soll. Dieses soll Maßnahmen zur Förderung der Geburtenrate und möglicherweise zur Aufhebung von Strafen für Familien mit einem dritten Kind enthalten. 

Adaptiert aus dem Englischen von Kersten Knipp.

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