Vielfältig und aktuell: Jüdisches Kino in Deutschland
12. August 2021"Armee, Reisen, zur Uni gehen, einen Partner finden, nach einigen Jahren heiraten, dann ein gemeinsames Kind. Immer dem Pfad folgen", fasst Rachel zusammen. Nachdenklich blickt sie über den Esstisch. "Ich habe nie gewagt, eine Auszeit zu nehmen und meinen Träumen zu folgen." Mit alten Freunden wie Rachel reflektiert die Regisseurin Yael Reuveny in intimen Porträts über die gemeinsame Vergangenheit und Erwartungen an das Leben. Es sind ehemalige Mitschüler ihrer israelischen Grundschulklasse von 1988, die die Filmemacherin für den Dokumentarfilm "Kinder der Hoffnung" besucht.
Die Vierzigjährige spricht mit ihnen und möchte herausfinden: Wo finden sich Israelis ihres Alters im Zeitstrahl der Landesgeschichte wieder? Welche Hoffnungen hegen und welche Verantwortung spüren sie? Der Wahl-Berlinerin geht es darum, auf diese Weise ein neues Bild ihrer Heimat zu zeichnen. Denn aus den medialen Darstellungen kenne die Öffentlichkeit häufig nur die Extreme ihres Landes. Sie aber wolle "normale" Israelis, wie sie es im DW-Interview formuliert, vorstellen: "Die Abgebildeten in meinem Film sind keine Siedler, keine orthodoxen Juden, keine linken Aktivisten. Sie sind Menschen aus der Mitte der Gesellschaft." Reuveny sagt: "Wenn man Israel verstehen möchte, muss man diese Menschen verstehen."
Die deutsch-israelische Co-Produktion "Kinder der Hoffnung" der vielfach ausgezeichneten Regisseurin Reuveny feiert am 15. August Premiere beim Jüdischen Filmfestival Berlin Brandenburg (JFBB). Internationale Filmschaffende präsentieren vom 12. bis 22. August an Spielorten überall in Berlin und Potsdam ihre Spiel- und Kurzfilme, Serien und Dokumentationen. Die mittlerweile größten Filmtage ihrer Art in Deutschland setzen sich auch in der 27. Ausgabe zum Ziel, die Vielfalt des jüdischen Films zu versammeln und ihre zentralen Fragen zu diskutieren. Beiträge israelischer Künstler und Künstlerinnen wie Reuveny gewähren dabei Einblick in eine Filmlandschaft, die seit den 2000er-Jahren einen bemerkenswerten Aufschwung erlebt.
Stark wachsender Markt
Die Nachfrage nach den inländischen Produktionen steige signifikant, schreibt der Israeli Film Fund, eine der größten Einrichtungen für Filmförderung. Filme und Serien aus Israel feiern mittlerweile auch regelmäßig Erfolge auf den großen Filmfestivals in Europa und Amerika, den wichtigsten Abnehmermärkten. Erst im Juli waren israelische Filmschaffende so zahlreich wie nie in Cannes vertreten. Der Jury-Preis ging an den in Tel Aviv geborenen Star-Regisseur Nadav Lapid für seinen Film "Ahed's Knee".
Verantwortlich für die Erfolge der vergangenen Jahre sei vor allen Dingen die Entwicklung der heimischen Produktionsbedingungen, sagt Naomi Levari. Sie gilt als eine der erfolgreichsten israelischen Produzentinnen in Deutschland und entscheidet als Mitglied des Programmkollektivs über die Auswahl der Beiträge beim JFBB. Levari verweist im DW-Gespräch auf das 2001 verabschiedete Gesetz zur staatlichen Filmförderung: "Hierdurch wurde die Finanzierung von Filmprojekten sichergestellt. All die kreativen Ideen, die zuvor schwierig zu realisieren gewesen waren, konnten nun umgesetzt werden." Gleiches gelte für das Fernsehen, dessen Angebot an Sendern seit 1993 stetig gewachsen sei. "Den Drang, Geschichten zu erzählen, gab es schon immer. Aber die notwendigen Mittel dafür standen einfach lange nicht zur Verfügung." Durch die staatliche Unterstützung seien die Produktionen inhaltlich und technisch deutlich innovativer als in den Jahrzehnten zuvor.
Umgerechnet mehr als 20 Millionen Euro fließen jährlich aus den öffentlichen Mitteln in die israelische Fernseh- und Filmindustrie. Angesichts der durchschnittlichen Kosten von rund einer Million Euro für eine Spielfilmproduktion handelt es sich um einen überschaubaren Betrag. Aber immerhin: Levari erkennt darin einen wichtigen Grundstein.
Ausgeklügelte Ideen schaffen den Durchbruch
"Im Verhältnis zur Größe des Marktes in Israel und den verfügbaren Budgets, können wir hier einen Erfolg erkennen", schildert Levari ihren persönlichen Eindruck. Was den Produktionen an Geld fehle, machten sie häufig durch ausgeklügelte Ideen wett. Ihre Geschichten adressierten dann nicht nur ein israelisches Publikum, sondern sprächen Themen an, die auch international auf Resonanz stießen. Hinzu komme: Die knappen finanziellen Mittel erzeugten einen gewissen Wettbewerb, in dem vielfältige Ideen um die begrenzten öffentlichen Budgets ringen.
Beim JFBB zielt auch Tal Shmunis auf ein breites Publikum ab, indem er seine persönliche Erfahrung mit Comedy verwebt. Er stellt "Necro-Men" vor, die Abschlussarbeit seines Filmstudiums in Israel und den USA. Die Story ist skurril: Ein muslimisch-jüdisches Betrüger-Duo bietet gegen Geld seine Dienste als Geisteraustreiber an. Die Masche funktioniert bis zu jener Nacht, in der die beiden tatsächlich dem Grauen ins Auge blicken. "Comedy ist etwas mit dem jedes Publikum etwas anfangen kann. Hätte ich einen ernsten, dramatischen Film gemacht, wäre er nicht so effektiv geworden, wie er jetzt ist", sagt Shmunis. Dass die beiden Hauptcharaktere einen unterschiedlichen Glauben haben, sei eine ganz bewusste Entscheidung gewesen: "Meine Heimat Israel ist ein sehr großer Schmelztiegel. Ich fühle mich umgeben von diesen beiden großen Religionen Islam und Judentum. Im Film will ich die beiden Kulturen und Religionen miteinander verbinden, und sie kämpfen gemeinsam gegen das unerwartet auftauchende Böse."
"Welche Geschichte will die Welt von Israel hören?"
Das Mit- und Gegeneinander von Kulturen prägt Israel, ein Land mit neun Millionen Menschen. Viele innere und äußere Auseinandersetzungen machen die Verwundbarkeit des Landes allgegenwärtig. Auf die Filmschaffenden des Landes wirkt sich dieser Umstand ebenfalls aus. Das spiegelt sich im Programm des JFBB wider: Einige Künstlerinnen und Künstler greifen den Nahost-Konflikt auf oder den Holocaust und suchen nach ihrer eigenen Rolle in der Geschichte. Andere bieten neue Erzählweisen an, kritisieren, wie ihnen als Juden oder Israelis zu oft eine Opferrolle zugewiesen wird. Und wieder andere stellen das alltägliche Leben dar, das in Israel, aber auch in einem beliebigen anderen Teil der Welt spielen kann.
Israel könne viele Geschichten erzählen, glaubt Reuveny. "Die Frage ist: Welche Geschichten ist die Welt bereit, von Israel zu hören? In der Vergangenheit mögen das insbesondere Themen wie der Palästina-Konflikt, der Holocaust oder das Militär gewesen sein. Aber ich habe den Eindruck, dass eine Öffnung stattfindet hin zu Familiengeschichten, Liebesgeschichten, die überall stattfinden könnten. Es gibt so viele talentierte Filmschaffende in Israel und sie verdienen es, ihre eigenen Geschichten zu erzählen."