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"Vergessenes Dagestan"

18. März 2004

- Ramasan Abdulatipow zur komplizierten politischen, wirtschaftlichen und kriminellen Situation in der Republik

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Moskau, 18.3.2004, NESAWISSIMAJA GASETA, russ., Ramasan Abdulatipow

Der Verfasser des Artikels, Ramasan Gadschimuradowitsch Abdulatipow, ist Mitglied des Föderationsrates und Vorsitzender der Versammlung der Völker Russlands.

In den letzten Jahren wurden in Dagestan einige hochrangige Beamte, Politiker und Mitarbeiter der Rechtschutzorgane ermordet. Im März dieses Jahres eröffneten kriminelle Elemente buchstäblich eine Jagd auf Milizionäre: In den letzten zwei Wochen wurde ein halbes Dutzend Verbrechen begangen, es sind Opfer zu beklagen. Es gibt jetzt die gefährliche "Gewohnheit zu morden".

Leider ist das keine "Zuspitzung der Situation im Frühjahr". Diese Situation ist in Dagestan nicht heute entstanden, sie hat sich in den letzten 10 Jahren herausgebildet. Beunruhigende Signale gibt es ständig. Aber jeder versucht, die Lage nicht nur zu beschönigen, sondern sie zu "verschleiern" und weit weg zu schieben. Diese Signale gab es 1993, als zwei meiner Partner bei den Wahlen in den Föderationsrat ermordet wurden, die gab es 1998, als es zu einer Aggression (der tschetschenischen Separatisten – MD) geben Dagestan kam. Es gibt viele Signale, aber ie werden weder von den Machthabern in Dagestan noch in Machatschkala, im föderalen Bezirk oder Moskau erhört. Reagiert wird auf die Situation in Dagestan bislang nur so: die Militärkräfte wird verstärkt, die Finanzmittel werden erhöht. Niemand wagt es jedoch, die Lage von Grund aus zu ändern. Deshalb hat sich das Volk versteckt, es reagiert nicht mehr darauf.

Das Problem der Republik besteht darin, dass Dagestan in diesen Jahren so auch keine legitime Macht bekommen hat. Legitime was das Vertrauen des Volkes betrifft. Die Machthaber und das Volk sind in der Republik äußerst weit von einender entfernt, jeder lebt sein eigenes Leben. Zusammen kommen das Volk und die Machthaber lediglich bei Tragödien, Begräbnissen und vielleicht bei einigen Feierlichkeiten.

Die Machtorgane, darunter auch die Rechtsschutzorgane, handeln in der Republik in der Regel nicht gemäß den Gesetzen, sondern gemäß Begriffen. Das führt dazu, dass sich die Menschen, die mit der Willkür der Machthaber selbst und mit Rechtlosigkeit konfrontiert werden, wegen Ausweglosigkeit auf solche Aktionen wie Morde einlassen. Ferner ist es in der Republik nicht gelungen, die kriminellen Strukturen zu besiegen. (...) Aber wir dürfen nicht vergessen, dass nicht nur Milizionäre Opfer der Mörder sind. Es geht um Dutzende Anschläge, denen Minister, Abgeordnete zum Opfer fielen. Auch der Mufti der Republik wurde ermordet. Die Patrone ist für viele an der Macht und weit von der Macht entfernt zum wichtigsten und zugänglichstem Mittel bei der Lösung der einen oder anderen Probleme geworden. Die Macht und die kriminelle Welt sind allmählich zusammengewachsen.

Es ist an der Zeit, nicht nur die ewigen Fragen - was tun? und wer ist schuld? – zu stellen, sondern diese auch zu beantworten. Meiner Meinung nach sind für die Lage in der Republik sowohl die lokalen Machtorgane als auch das föderale Zentrum verantwortlich. Im Verhältnis 60 zu 40. Bei den 60 Prozent handelt es sich um den Zustand, das Wesen und das Vorgehen der lokalen Machthaber, bei den übrigen 40 Prozent um die föderalen Machtorgane in den Regionen, die sich von der lokalen Spezifik entfernt haben und der lokalen Bevölkerung keine Rechenschaft schuldig sind. Dieser Teil der Machtvertikale ist zu weit vom Zentrum enternt und hat sich auch von der lokalen Macht distanziert. Dabei spreche ich in erster Linie vom Rechtsschutzsystem. Dieses ist praktisch herrenlos geworden nachdem eine Reihe von Änderungen an der geltenden Gesetzgebung vorgenommen wurde, darunter bei den Strukturen des Innenministeriums, den Steuerdiensten usw. Der Gedanke war nicht schlecht, tatsächlich ist es jedoch zum Fiasko gekommen. (...)

Das Komplizierteste steht uns jedoch noch bevor. Wie bekannt wird in Dagestan im Jahr 2005 zum ersten Mal das Oberhaupt der Republik bei direkten Wahlen bestimmt. Wir sind aus einem einfachen Grund zu einem harten Kampf verdammt – weil wir all die Jahre diese Form der Willensbekundung der Bürger Dagestans abgelehnt haben. Fast 10 Jahre lang wurde die Durchführung von allgemeinen Wahlen immer wieder aufgeschoben. Abgehalten wurden lediglich zahlreiche Referenden. Stets hat man sich auf deren Ergebnisse berufen. Jetzt, wo sich der Wahlprozess "lenken" lässt, ist man zur Schlussfolgerung gekommen, dass der Wahlprozess in der Republik den Gesetzen der Russischen Föderation angepasst werden muss. An das Referendum hat man sich gar nicht erinnert. Unterdessen behaupte ich seit 10 Jahren, dass – solange es noch nicht zu spät ist – allgemeine Wahlen abgehalten werden müssen. Es ist unzulässig, noch zwei Jahre zu warten.

Ich befürchte, dass diese Verzögerung uns teuer zu stehen kommen wird. Es werden bestimmt Versuche unternommen werden, den Präsidentschaftswahlen in der Republik eine ethnische Nuance zu verleihen. Auch anderes ist zu erwarten. Es wird einen verbissenen Kampf um das Präsidentenamt geben, obwohl man meiner Meinung nach nicht um den Posten des Präsidenten, sondern um die Erneuerung des Wesens der dagestanischen Macht kämpfen muss. Man muss übereinkommen und nicht versuchen, den Schuldigen zu finden. Sollte das nicht der Fall sein, erwarten Dagestan komplizierte Zeiten. Das Eigentum der Republik wurde praktisch unter den Beamten aufgeteilt, als Ergebnis kann lediglich von Schattenwirtschaft die Rede sein. Dieses Eigentum arbeitet nicht für das Volk und die Wirtschaft der Republik. Wieso wundern wir uns eigentlich, dass Dagestan zu den Republiken des Landes gehört, die die meisten Subventionen bekommen?

Der Präsident und dessen Mannschaft müssen sich unverzüglich in die Situation einmischen, das Problem nicht auf die lange Bank schieben. Dagestan ist für Russland eine äußerst wichtige Region. Es muss möglichst schnell die legitime Macht gebildet werden, solange sich die Macht als solche nicht endgültig diskreditiert hat.

Heute kann von einer traurigen Tatsache die Rede sein: Die derzeitigen Machthaber Dagestans haben es gelernt, auf hohem Niveau lediglich zwei Veranstaltungen durchzuführen – Wahlen und Begräbnisse. Die unglaubliche Wahlbeteiligung bei den letzten Präsidentschaftswahlen hat das noch einmal bestätigt. Bemerkt muss jedoch auch werden, dass sich die Einwohner der Republik ganz besonders Wladimir Putin gegenüber verhalten, der vor dem Hintergrund der Befreiung Dagestans von tschetschenischen Banditenverbänden an die Macht kam. (lr)