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PolitikAfrika

Vergessene Krisen: Das Leid im Verborgenen

13. Januar 2022

Viele Krisen spielen sich versteckt vor den Augen der Weltöffentlichkeit ab. Die Folge: Weniger Unterstützung für Notleidende. Die Hilfsorganisation CARE will das ändern und stellt wieder zehn vergessene Krisen vor.

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Guatemala I Honduras Migranten
Migranten aus Honduras versuchen über die Grenze Guatemalas in Richtung USA zu gelangen (Januar 2021)Bild: Sandra Sebastian/AP/picture-alliance

Die Victoriafälle ganz im Süden Sambias sehen wie ein gigantischer Wasservorhang aus. Mit mehr als 1700 Metern ist das UNESCO-Weltkulturerbe der breiteste Wasserfall der Welt. Der Sprühregen der Wassermassen des Sambesi-Flusses, die eine 110 Meter tiefe Schlucht hinabstürzen, ist so riesig, dass er den anliegenden Regenwald bewässert. Ein grandioses Naturschauspiel, dessen Wasserreichtum jedoch in maximalen Kontrast zum Rest Sambias steht.

Denn wie viele andere Länder im südlichen Afrika wird Sambia von langanhaltenden Dürreperioden heimgesucht. Regelmäßig verdorren Ernten. Unterernährung ist unter den 18,4 Millionen Einwohnern weit verbreitet.

Chronische Krise in Sambia

"Dort erleiden 1,2 Millionen Menschen Hunger und 60 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze", sagte die Kommunikationsleiterin von CARE Deutschland, Sabine Wilke, der DW. "Das ist für uns eine klassische chronische Krise." Es habe keinen Krieg oder etwa ein Erdbeben gegeben, "wo man sagen kann, da fing die Krise an. Aber wir erleben in Sambia wie auch in anderen Ländern die dramatischen Auswirkungen der klimatischen Veränderungen, also wiederholte und stärkere Dürren. Davon können sich die Menschen nicht mehr erholen und sind auf humanitäre Hilfe angewiesen", sagt Wilke.

Sabine Wilke, CARE Deutschland
Suffering-in-Slicence-Co-Autorin Wilke: "Wir möchten ein Zeichen setzen"Bild: CARE Deutschland

So dramatisch die Lage Sambia ist, so wenig wird international über sie berichtet. Damit gehört sie zu jenen Krisen, die sich weitgehend im Verborgenen abspielen. Über sie informiert CARE in ihrem jährlichen Bericht "Suffering In Silence". Die Medienanalyse listet zum sechsten Mal zehn Krisen auf, die mindestens eine Million Menschen betroffen haben und am wenigsten in internationalen Online-Medien genannt wurden.

Signal der Mitmenschlichkeit

"Wir möchten damit ein Zeichen setzen, dass humanitäre Krisen nicht nur abhängig von ihrer politischen Relevanz oder ihrer Präsenz in den Medien Aufmerksamkeit benötigen, sondern dass, egal wo und wie viele Menschen leiden, die Welt hinschauen muss", sagt Sabine Wilke, die auch Mitautorin von "Suffering in Silence" ist.

Dafür wertete die Hilfsorganisation in Zusammenarbeit mit dem Medienbeobachtungsdienst Meltwater 1,8 Million Online-Artikel in englischer, deutscher, französischer, arabischer und spanischer Sprache aus. Die Krisen wählte CARE unter anderem auf der Basis von UN-Zahlen und eigenen Daten aus.

Nach Sambia wurde demnach am wenigsten über Notlagen in der Ukraine, Malawi, der Zentralafrikanischen Republik und Guatemala informiert. Gefolgt von Kolumbien, Burundi sowie Niger, Zimbabwe und Honduras. Im Jahr 2020 stand Madagaskar auf Platz eins.

Die aufgelisteten Länder sind allesamt Opfer eines verhängnisvollen Krisen-Mixes aus Klimawandelfolgen, Corona-Pandemie, Naturkatastrophen und kriegerischen Konflikten. Und doch meist irritierend blinde Flecken in der eigentlich informationsgierigen, sich immer schneller drehenden Nachrichtenwelt. Die Lage dieser Länder enthüllt ebenfalls die "globale Ungerechtigkeit", wie CARE in "Suffering in Silence" schreibt: "Im Zugang zu Impfstoff, zu Hilfsprogrammen für wirtschaftliche Ausfälle und in der Versorgung von kranken Menschen."

Ukraine zeitweise aus dem öffentlichen Fokus

Dass die Ukraine an zweiter Stelle der vergessenen Krisen genannt wird, überrascht zunächst. Erklärt sich aber aus dem Berichtszeitraum, der sich aus Produktionsgründen von Anfang Januar bis Ende September 2021 erstreckte. Monate, in denen der Konflikt mit Russland noch nicht so hochkochte und in den Medien präsent war wie derzeit.

"Die Ukraine hat im November und Dezember noch mal wesentlich mehr Aufmerksamkeit bekommen, gerade in den europäischen Medien. Und wahrscheinlich würde sie dann so in diesem Jahr nicht mehr auf der Liste erscheinen", erläutert CARE-Autorin Wilke.

Wie in den bisherigen CARE-Analysen liegen die meisten vergessenen Krisen in Afrika. Sechs waren es 2021. Neben Sambia und der  Zentralafrikanischen Republik, die wegen des anhaltenden Bürgerkriegs "Dauergast" der vergessenen Krisen ist, sticht Malawi hervor. Das Land belegt den dritten Platz vor der Zentralafrikanischen Republik.

Mehr als eine Million Menschen hungern in Malawi. 39 Prozent der Kinder unter fünf Jahren sind aufgrund von Mangelernährung unterentwickelt. Knapp die Hälfte aller Kinder geht nicht einmal vier Jahre lang zur Schule. Die Corona-Impfkampagne kommt nur schleppend voran. Zusätzlich belastet die hohe Zahl an HIV-Infektionen. Knapp zehn Prozent der 19,3 Millionen großen Bevölkerung sind infiziert, darunter viele Kinder.

Malawi I Schwangere auf dem Weg zur Untersuchung in Simika
Schwangere auf dem Weg zur Untersuchung in Malawi: Hunger, Corona, viele HIV-InfektionenBild: Thoko Chikondi/AP/picture alliance

Zunehmende Femizide in Honduras

Außer den Kindern leiden die Frauen am meisten unter den Krisen. CARE beobachtet das besonders in Honduras. Knapp ein Drittel der rund zehn Millionen Einwohner ist auf humanitäre Hilfe angewiesen. Fehlende Jobs, die zunehmende Verbrechensrate sowie die Korruption im Staat treibt insbesondere die jüngere Generation ins Ausland. "In Honduras spricht man oft davon, dass die Armut weiblich ist, denn meist sind es Frauen, die mit den Kindern zu Hause zurückbleiben", schreiben die CARE-Autoren.

Zugleich sei die Gewalt gegen Frauen seit der Pandemie weiter stark angestiegen. "Statistiken aus dem Jahr 2021 verzeichnen alle 29 Stunden einen Femizid in Honduras." Laut CARE kommen, auf 100.000 Einwohner gerechnet, in dem Land 6,7 Frauen gewaltsam ums Leben. Die Zahl der ermordeten Frauen "ist um 50 Prozent höher als jene für ganz Lateinamerika."

Dass die vergessenen Krisen trotz aller Dramatik so wenig Schlagzeilen produzierten, lässt sich nur teilweise damit begründen, dass infrastrukturschwache Krisenregionen für Reporter schwer erreichbar sind. Oder dass ein Ereignis vor der eigenen Haustüre die Menschen mehr interessiert als eines in der Ferne.

Kopfschütteln über mediale Themensetzung

Vielmehr löst besonders das Medienverhalten bei den Autoren des CARE-Berichts Kopfschütteln aus: "Die globale Gewichtung der Berichterstattung lässt uns bei allem Verständnis und Wissen über Nachrichtenfaktoren dann doch staunen. So gab es in Online-Medien mehr als 360.000 Berichte über das Interview von Prinz Harry und seiner Frau Meghan mit Oprah Winfrey. Über die mehr als eine Million Menschen in Sambia, die unter akuter Ernährungsunsicherheit leiden, hat es gerade einmal 512 Veröffentlichungen gegeben".

Bild-Kombo Oprah Interview mit Meghan und Harry Reaktionen
Online-Schlagzeilen über Winfrey-Interview mit Prinz Harry und Gattin Meghan: "Staunen über Gewichtung"

Dabei sorgt die mediale Präsenz für unmittelbare Konsequenzen in den Krisenländern. Sie ist eine Währung, die über Tod oder Leben entscheiden kann. "Wenn Krisen Aufmerksamkeit bekommen, dann bekommen sie politische Aufmerksamkeit und werden entsprechend in den politischen Foren behandelt", sagt CARE-Kommunikationschefin Wilke.

Ernüchternde Logik der Krisenhilfe

Außerdem schauten Geber für Hilfsleistungen wie die Europäische Kommission darauf, welche Krisen besonders wahrgenommen würden. "Aber", fährt Sabine Wilke fort, "wir merken es immer wieder, dass man im Gespräch mit Gebern, erst einmal erklären muss, warum denn Sambia? Da haben wir gar nichts von gehört in diesem Jahr. Und so gibt es eine sehr direkte Logik: weniger Aufmerksamkeit, weniger finanzielle Mittel, weniger Möglichkeiten Leid zu lindern."

Ralf Bosen, Redakteur
Ralf Bosen Autor und Redakteur