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Politik

Venezuelas Krise kommt nach Brasilien

Marina Estarque
16. Dezember 2016

Erst Haitianer, jetzt Venezolaner: Brasilien gilt in Lateinamerika als Zufluchtsort, auch wenn es selbst in der Krise steckt. Mehr als 77.000 Venezolaner flohen seit 2015 über die Grenze. Aus Boa Vista Marina Estarque.

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Brasilien 'Especial Venezuela – special report'
Die 18-jährige Estefani starb in Venezuela fast an Unterernährung. Heute lebt sie mit ihrer Muttter in Boa VistaBild: DW/K. Andrade

Zwei Tage lang hatte Estefani Benavides nichts mehr gegessen, dann brach sie zusammen. Die 18-jährige Studentin aus Venezuela wurde ohnmächtig neben einem Eimer gefunden. Es war der Eimer, in dem sie Wäsche wusch. 

Ihre Mutter Yusmaris erfuhr von dem Vorfall in Brasilien. "Ich musste sie abholen", sagt die 32-Jährige, die seit vier Monaten in der Stadt Boa Vista lebt. Sie zeigt auf ihre Tochter, die an einer Ampel Fensterscheiben von wartenden Autos wäscht. 

Nach Angaben des brasilianischen Justizministeriums sind Yusmaris und Estefani zwei von rund 77.000 Venezolanern, die zwischen Januar 2015 und September 2016 nach Brasilien gekommen sind. Sie flüchten vor der extremen Wirtschaftskrise Venezuelas, die zu Versorgungsengpässen im ganzen Land geführt hat. 

Es fehlt an allem: Nahrungsmittel, Medikamente und Hygieneartikel. Die Inflation nähert sich in diesem Jahr der 1000 Prozent Marke. Venezuelas Präsident Niolas Maduro bekämpft die Krise auf seine ganz eigene Art: Er ließ am 13. Dezember die Landesgrenzen schließen, damit kein "Geld außer Landes" geschafft wir. Für die Bevölkerung bedeutet dies, dass es noch schwieriger geworden ist, dem Chaos im Land zu entkommen. 

Venezuela am Rande des Kollaps

"Alle wollen weg"

Als Yusmaris ihre Tochter Estefani nach Brasilien holte, wäre beinahe die ganze Familie mitgekommen: "Alle wollen weg aus Venezuela, mittlerweile nehmen sie nur noch einmal am Tag eine Mahlzeit ein. Ich hatte Reis dabei, und sie fingen fast an zu weinen, weil sie schon so lange keinen Reis mehr gegessen haben."

Erst Haiti, nun Venezuela: Brasilien ist trotz eigener Wirtschaftskrise das Ziel für viele Flüchtlinge aus lateinamerikanischen Nachbarländern. Nach Angaben des nationalen Flüchtlingsrates Conare (Comitê Nacional para os refugiados) stellten zwischen 2010 und 2015 in Brasilien 82.894 Flüchtlinge einen Antrag auf Asyl, etwas mehr als die Hälfte davon waren Haitianer (48.371).  

Angesichts der großen Anzahl von Asylbewerbern änderte Brasilien seine Politik. Seit Ende 2015 gelten Haitianer nicht mehr als Flüchtlinge. Sie können in ihrem Heimatland aus humanitären Gründen ein Visum beantragen und dann legal als Migranten einreisen. Dies hat zu einem erheblichen Rückgang der Migration geführt, auf dem Landweg reisen kaum noch Haitianer ein.

Brasilien 'Especial Venezuela – special report'
Der Nächste bitte: Eine brasilianische Polizeibeamtin nimmt die Ausweise venezolanischer Flüchtlinge entgegenBild: DW/K. Andrade

Fluchtursache Armut

Auch die Asylbewerber aus dem Nachbarland Venezuela gelten rechtlich nicht als Flüchtlinge. Zwischen 1993 und 2016 erhielten nur elf Venezolaner politisches Asyl. Dennoch leben laut Schätzungen rund 30.000 Venezolaner im Bundeststaat Roraima, die meisten in der Grenzstadt Pacaraima oder in der Landeshauptstadt Boa Vista.

In Boa Vista teilen sich Yusmaris und Estefani für umgerechnet 98 Euro im Monat ein Zimmer mit sechs anderen Landsleuten. Ihre Tage verbringen sie wie viele andere an den Straßenkreuzungen von Boa Vista: Wenn die Autos bei rot halten, bieten sie selbstgemachtes Brot, Erdbeeren und Wasser zum Verkauf an, oder sie putzten die Scheiben.

"Besser ich bin hier, als drüben ohne Essen. Die Leute in den Autos machen sich zwar lustig über mich, schütten mir Wasser ins Gesicht oder überfahren mich fast. Aber ich bin stolz, dass ich meiner Familie jeden Monat Lebensmittel schicken kann", erzählt Yusmaris, die ihre zwei jüngeren Kinder, 14 und 16 Jahre alt, noch bei Verwandten in ihrer Heimatstadt Maturín in Venezuela gelassen hat.

Asyl im Nachbarland

Trotz der geringen Erfolgsaussichten hat auch Yusmaris einen Asylantrag in Boa Vista gestellt, denn dies ist für Migranten der schnellste und günstigste Weg, sich registrieren zu lassen. Seit 2012, als nur ein einziger Asylantrag von einem Venezolaner vorlag, ist die Zahl der Gesuche auf 1805 Fälle gestiegen. Bis ein Bescheid vorliegt, können zwei Jahre vergehen.

Wegen der großen Nachfrage ist die Ausländerbehörde in Boa Vista chronisch überlastet. Bereits im Morgengrauen stehen dutzende Venezolaner Schlange, um ihren Asylantrag einreichen zu können. Vor ein paar Monaten war die Schlange so lang, dass nur noch Termine für 2018 vergeben wurden. Mittlerweile werden 50 Fälle pro Tag abgehandelt, zirka 4000 Termine müssen noch abgearbeitet werden. 

Brasilien 'Especial Venezuela – special report'
Die beide venezolanischen Frauen Johandra und Kaerlis teilen sich ihre Unterkunft mit sechs anderen Landsleuten.Bild: DW/K. Andrade

Viele Venezolaner beantragen auch Asyl, weil der Weg über das Migrationsgesetz bürokratisch aufwendiger ist. Um eine reguläre Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen, müssen die Antragsteller zum Beispiel nachweisen, dass sie einen Job haben, Familienangehörige in Brasilien leben oder dass sie einen brasilianischen Ehepartner haben.

Einreisen als Tourist

"Asyl zu beantragen, ist tatsächlich erst einmal der einfachere Weg. Bis eine Entscheidung über den Antrag gefallen ist, kann sich die Situation im Heimatland bereits verbessert haben und man kann wieder zurück. Oder man hat vielleicht einen Brasilianer geheiratet oder ein Kind mit einem Brasilianer und kann bleiben", sagt Gustavo de Frota Simões, der an der Bundesuniversität von Roraima Professor für Internationale Beziehungen ist.

Da Venezuela Teil des südamerikanischen Staatenbundes Mercosur ist, brauchen venezolanische Staatsbürger kein Visum, um einzureisen. Sie dürfen sich 90 Tage als Touristen im Land aufhalten und müssen an der Grenze lediglich den Grund ihrer Reise angeben. 

"Die Menschen aus Venezuela sind keine Flüchtlinge im eigentlichen Sinn, sie fliehen nicht vor politischer, ethnischer oder religiöser Verfolgung in ihrer Heimat. Sie sind Wirtschaftsmigranten", meint der Leiter der polizeilichen Migrationsstelle von Roraima, Aguiar Ribeiro.

Vertreter von Flüchtlingsorganisationen fordern von der Regierung, auf die Krise in Venezuela zu reagieren. Wie nach dem Erdbeben in Haiti solle Brasilia auch für Flüchtlinge aus Venezuela humanitäre Visa ausstellen.

Schwester Telma Lage, Anwältin und Koordinatorin des Migrationszentrums der Diozöse von Roraima, findet: "Diese Menschen kommen nicht her, um einen Job zu finden und ein besseres Leben zu haben. Sie flüchten vor Hunger."

(Adaption: Ines Eisele/ Astrid Prange)