Untergang einer Familie
29. April 2012Silvia Tennenbaum scheint die Nähe zu Thomas Manns großem Roman bewusst gesucht zu haben. Statt Lübeck ist der Schauplatz jetzt Frankfurt am Main. Hannchen Wertheim, Stammmutter der Familie, erwähnt gleich zu Beginn des Romans, dass sie gerade die "Buddenbrooks" liest. Und das Weihnachtsfest, das die Wertheims im zweiten Kapitel feiern, erinnert in seiner Pracht deutlich an das Weihnachtskapitel Thomas Manns.
Tennenbaum und Mann beschreiben beide den Verfall einer Familie über einen Zeitraum von 42 Jahren hinweg. Aber während bei Mann die großbürgerlichen Buddenbrooks gewissermaßen an ihren inneren Widersprüchen zerbrechen, sind es bei Tennenbaum die äußeren Umstände, die zum Untergang des Wertheim-Clans führen.
Von der Judengasse ins reiche Westend
Eine jüdische Familie, die Weihnachten feiert, das verrät viel über die Wertheims. Es sind assimilierte, deutsche Juden. Wohlhabend, gebildet, kunstsinnig. Eine Familie von Ärzten, Rechtsanwälten und Kaufleuten. Die Wertheims haben sich im 19. Jahrhundert aus der Frankfurter Judengasse langsam hochgearbeitet. 1903, als der Roman einsetzt, ist Moritz Wertheim ein geachteter Textilkaufmann. Er hat fünf Söhne, die höchst unterschiedlich sind.
Nathan, der Älteste, ist Rechtsanwalt. Jacob ist ein Intellektueller und betreibt eine Buchhandlung. Gottfried wird nach einem Vergewaltigungsversuch von der Familie verstoßen und muss in die USA auswandern. Siegmund arbeitet in der Wollgroßhandlung des Vaters. Die zentrale Figur ist Eduard, der jüngste Sohn. Er macht als Bankier und Kunstsammler Karriere und wird nach Moritz' Tod zum Familienoberhaupt. Die Söhne heiraten natürlich und bekommen Kinder. Im Zentrum der insgesamt neun Enkel stehen Nathans Töchter Emma und Helene. Während Emma sich im Laufe der Jahre immer mehr dem Christentum zuwendet, emigriert Helene in die USA.
Der Untergang ist programmiert
Eine jüdische Familie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das ist ein wenig wie die Geschichte von der Titanic. Man weiß, was kommt. Tatsächlich spitzt sich der Roman auf die Ereignisse nach 1933 zu. Das eigentlich spannende an ihm ist, wie die einzelnen Familienmitglieder mit der Judenverfolgung unter den Nazis umgehen. Eduard setzt sich schon früh in die Schweiz ab, sein Bruder Jacob stirbt schließlich in Buchenwald. Schwager Jonas hofft viel zu lange, dass alles halb so schlimm wird. Als die Nazis sein Haus stürmen, nimmt er sich das Leben.
Silvia Tennenbaum hat das große Personentableau der Wertheims jederzeit fest im Griff. Sie erzählt meist in Fünf-Jahres-Schritten. Keine einzige Figur geht ihr dabei verloren. Und jede beschreibt sie mit psychologischer Klugheit und Herzblut zugleich. Selbst die Nebenfiguren wie das Kindermädchen Fraulein Gründlich oder die Köchin Anna sind ebenso liebevoll wie präzise ausgearbeitet. Dabei ist die Erzählung jederzeit auf der Höhe der Zeitgeschichte. Zugleich steckt sie voller Frankfurter Lokalkolorit.
Diesem Umstand verdankt es sich auch, dass der Roman jetzt, nach fast dreißig Jahren, neu aufgelegt wird. Das Buch steht im Mittelpunkt der Aktion "Frankfurt liest ein Buch" und wurde eigens dafür bei Schöffling neu herausgegeben. Das ist ein Glück, denn so haben wir die Gelegenheit, einen wirklich großen Roman neu zu entdecken.
Silvia Tennenbaum: Straßen von gestern. Roman. Verlag Schöffling & Co. 2012; 656 Seiten; ISBN 978-3895614866; 19,95 Euro
Das Hörbuch ist bei Audiobuch Freiburg erschienen. 4 CDs; 19,95 Euro