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PolitikUngarn

Ungarns Ratspräsidentschaft: Will Orban die EU verlassen?

27. Dezember 2024

Sechs Monate lang hatte Ungarn den EU-Ratsvorsitz inne. Das halbe Jahr war geprägt von Viktor Orbans umstrittener "Friedensmission" in Russland, seinem Kampf gegen "Brüsseler Bürokraten" und seinem Sonderweg in Europa.

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Belgien Brüssel 2024 | Ungarns Premier Orban gibt Pressekonferenz nach EU-Gipfel
Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban während eines EU-Gipfels am 8.11.2024 in BudapestBild: Denes Erdos/AP/picture alliance

Viktor Orbans EU-Ratspräsidentschaft geht in diesen Tagen zu Ende. Nominell übernimmt zwar immer ein Mitgliedsland der Europäischen Union den sechsmonatigen Vorsitz im EU-Rat. Doch in Ungarns Fall kann man getrost von einer Person sprechen - denn in der ungarischen Regierungspolitik zählt allein und ausschließlich Orban. Er setzt die Themen, bestimmt die Wortwahl und entscheidet, manchmal bis hinunter in die kleinteiligsten Verwaltungsvorgänge.

So auch während der diesjährigen ungarischen Ratspräsidentschaft. Sie begann am 1. Juli 2024. Zu diesem Zeitpunkt herrschte diplomatisch seit längerem eine gewisse Orban-Müdigkeit in Europa. Bei wichtigen Initiativen und Absprachen, vor allem zur Unterstützung der Ukraine, war Ungarns Premier wegen seiner fortgesetzten Veto-Politik umgangen worden - er stand als Störenfried am diplomatischen Rand, das allgemeine Empörungslevel war abgeflaut.

Sechs Monate später lässt sich sagen, dass Orban den Vorsitz im EU-Rat mit kontroversen Aussagen, Auftritten und Initiativen maximal genutzt hat, um die Empörungsflut wieder anschwellen zu lassen. Seine Hetze gegen die "Brüsseler Bürokraten" hat ein ungekanntes Ausmaß erreicht. Sie gipfelte wenige Tage vor Ende des Ratsvorsitzes in einer infamen Behauptung: "Brüssel will aus Ungarn Magdeburg machen", sagte Orban am 21.12.2024 während seiner traditionellen internationalen Jahresend-Pressekonferenz an die Adresse der EU.

Orbans "Friedensmission"

Das Land, das die EU-Ratspräsidentschaft innehat, soll, so steht es zumindest auf dem Papier, für eine gute, harmonische Zusammenarbeit der EU-Mitgliedsländer und der EU-Institutionen eintreten. Es soll für eine Kontinuität der EU-Agenda sorgen und die EU-Gesetzgebung voranbringen. Es kann Prioritäten setzen, soll aber nicht eigene Interessen verfolgen, sondern im Sinne der Gemeinschaft der EU-Staaten agieren.

Ungarn hatte zwar Prioritäten seiner Ratspräsidentschaft formuliert, darunter die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der EU, eine bessere Erweiterungspolitik für die Westbalkan-Region sowie die Eindämmung der illegalen Migration. Doch Viktor Orban nutzte die EU-Ratspräsidentschaft vor allem für seine eigene Politik.

Viktor Orban und Wladimir Putin geben sich die Hand
Ungarns Premier Viktor Orban und der russische Präsident Wladimir Putin am 5.7.2024 in MoskauBild: Valeriy Sharifulin/SNA/IMAGO

Gleich am Anfang beispielsweise für eine nicht abgesprochene diplomatische Initiative zur Beendigung des "slawischen Bruderkrieges", wie er Russlands Krieg gegen die Ukraine nennt. Vier Tage nach Beginn der Ratspräsidentschaft fuhr er nach Moskau und besuchte ohne Koordination mit der EU und der NATO den russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin. Orban sprach von einer "Friedensmission". Drei Tage vorher war er zu seinem ersten bilateralen Besuch in Kyjiw gewesen. Auch dort hatte man offenbar nichts von Orbans geplanten Besuch in Russland gewusst.

Der Westen als "Kriegstreiber"

Die "Friedensmission" löste Aufschreie und Kopfschütteln aus, da Ungarn international praktisch kein diplomatisches Gewicht besitzt und wegen seiner jahrelangen hartnäckigen antiukrainischen und prorussischen Haltung zumindest für die Ukraine kein akzeptabler Vermittler ist. Auch innerhalb der NATO gilt Ungarn wegen seiner prorussischen Haltung nicht mehr als verlässlicher Partner. Gleichwohl setzte Orban seine "Friedensmission" bislang unbeirrt fort. Erst vor wenigen Tagen schlug er nach einem Telefonat mit Putin einen "Weihnachts-Waffenstillstand" und einen großen Gefangenenaustausch vor.

Begleitet war die "Mission" immer wieder von Anschuldigungen gegen den "kriegstreiberischen Westen", laut Orban der wahre Schuldige am Krieg Russlands. Zugleich lobte Ungarns Premier den ehemaligen und künftigen US-Präsidenten Donald Trump immer wieder als einen "Mann des Friedens" und den "einzigen auf dem Planeten", der in der Lage sei, den Krieg in der Ukraine zu beenden.

MEGA: "Make Europe Great Again"

Auch sein zweites wichtiges Projekt begann Ungarns Premier gleich am Anfang der EU-Ratspräsidentschaft. In Anlehnung an Donald Trump trägt es den Namen "Make Europe Great Again", abgekürzt MEGA, und besteht in der Gründung der rechtsnationalistisch-populistischen Fraktion "Patrioten für Europa" im Europaparlament. Dort ist sie seit Juli 2024 die drittstärkste Fraktion und hat die wichtigsten europäischen Rechtspopulisten als Mitglieder, darunter neben Orbans Fidesz den französischen Rassemblement National, die niederländische Freiheitspartei und die österreichische FPÖ.

Andrej Babis, Herbert Kickl, Viktor Orban vor einem lila Vorhang, der Mann in der Mitte hält eine aufgeklappte Mappe mir einem Dokument in den Händen
Gründung des neuen rechtspopulistischen Bündnisses "Patrioten für Europa" am 30.6.2024 in Wien: der tschechische Ex-Premier Andrej Babis, der österreichische FPÖ-Vorsitzende Herbert Kickl und Ungarns Premier Viktor OrbanBild: TOBIAS STEINMAURER/APA/picturedesk.com/picture alliance

Diese Internationale der Nationalisten wird getragen von migrationsfeindlichen und souveränistischen Positionen. Orban selbst spricht davon, dass man "Brüssel erobern" müsse, um Europa vor dem Verfall und dem Untergang zu retten. In Wirklichkeit scheint Orban jedoch an irgendeiner Art von gemeinsamem Europa immer weniger interessiert. Denn in den vergangenen Monaten propagierte er für Ungarn immer nachdrücklicher das Konzept der "wirtschaftlichen Neutralitätspolitik".

Kritik an "wirtschaftlicher Blockbildung"

Das ist mehr als nur eine Fortsetzung der "Öffnung nach Osten", wie die ungarische Wirtschaftspolitik vor einigen Jahren hieß. Orban kritisiert die EU für ihre "wirtschaftliche Blockbildung" und ist überzeugt, dass Europa in seiner jetzigen Form im globalen Wettbewerb nicht überleben kann. Er sieht Asien und die BRICS-Staaten als künftige geopolitische Zentren und glaubt, dass sie als die wirtschaftlich Stärkeren die Regeln bestimmen werden.

Obwohl Orban den Westen pausenlos auf moralisch-ideologischer Grundlage beschimpft, plädiert er dafür, dass Ungarn als kleines Land gute und ideologiefreie Beziehungen zu den Macht- und Wirtschaftszentren der Welt unterhält, vor allem zu China und Russland. Daneben wünscht er sich auch gute Beziehungen zur Türkei, zu Belarus, Israel, Serbien, Mazedonien, Albanien und einigen Staaten im Nahen Osten - allesamt Länder, die von ähnlichen Führern gelenkt werden wie er selbst.

"Klein-Ungarn ist unzureichend"

In einer neuen Weltordnung - wie Orban sie sieht - scheint er auch eine Revision der europäischen Nachkriegsgrenzen nicht mehr auszuschließen. Immer wieder deutet er vage an, dass eine derartige Revision auch zugunsten Ungarns verlaufen könne und man darauf vorbereitet sein müsse. So wie im Juli 2024 während seiner jährlichen programmatischen Rede im siebenbürgischen Tusnad, in der er seine entwicklungspolitischen Visionen für das kommende Jahrzehnt umriss. Die "ungarische Großstrategie" dürfe "nicht von Klein-Ungarn ausgehen", sie müsse "alle von Ungarn bewohnten Gebiete umfassen". "Nur Klein-Ungarn als Rahmen ist unzureichend", so Orban.

Viktor Orban hebt die Hände hebt scheint zu schreien
Ungarns Premier Viktor Orban bei seiner jährlichen programmatischen Rede im siebenbürgischen Tusnad am 27.7.2024Bild: Alexandru Dobre/AP Photo/picture alliance

Ende 2024 wird Ungarn die EU-Ratspräsidentschaft an Polen übergeben. Das Land war ein enger politischer Verbündeter, bis die Wählerinnen und Wähler die rechtspopulistischen Machthaber im Herbst 2023 abwählten. Die Beziehungen der beiden Länder sind derzeit auf einem historischen Tiefpunkt.

Dass zwischen Ungarn und Polen derzeit Welten liegen, zeigte sich auch an Weihnachten. Orban bezeichnete den russischen Diktator Wladimir Putin, wegen Kriegsverbrechen mit internationalem Haftbefehl gesucht, in einem Weihnachtsinterview mit der regierungsnahen Zeitung Magyar Nemzet als "unseren korrekten Partner". Polens Premier Donald Tusk war fassungslos - und erinnerte in einem Post auf X an ein neuerliches russisches Kriegsverbrechen: An Heiligabend und am ersten Weihnachtsfeiertag hatte Russland Wohnhäuser in Krywyj Rih, der Heimatstadt des ukrainischen Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyj, und Energieanlagen in der gesamten Ukraine mit Dutzenden Raketen und Drohnen bombardiert.

Porträt eines lächelnden Mannes mit Brille und blonden Locken
Keno Verseck Redakteur, Autor, Reporter