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PolitikUngarn

Ungarns Außenpolitik: "Wut und Scham statt Interessen"

4. Oktober 2024

Ungarns Premier Viktor Orban hat ein Gefühl der Entfremdung vom Westen und ist tief verletzt über die Kritik an ihm. Diese Befindlichkeit bestimmt auch die ungarische Außenpolitik, sagt der Politologe Andras Hettyey.

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Zwei Männer in Anzug (Viktor Orban und Donald Trump) zeigen die "Daumen-hoch"-Geste
Beste Freunde: Ungarns Premier Viktor Orban und der ehemalige US-Präsident Donald Trump am 12.07.2024 in Mar-a-Lago in FloridaBild: Viktor Orban via X via REUTERS

DW: Im Juli 2024 ging während des NATO-Gipfels in Washington ein Foto der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni viral. Sie starrt Ungarns Ministerpräsidenten Viktor Orban entsetzt und scheinbar angewidert an. Wie symbolträchtig ist dieses Foto für Orbans Image in Europa?

Andras Hettyey: Es ist absolut symbolträchtig. Ungarn ist innerhalb der eigenen Bündnissysteme völlig isoliert, sowohl in der NATO als auch in der Europäischen Union. Das gilt ungeachtet dessen, dass es Orban gelungen ist, im Europäischen Parlament die Fraktion der Patrioten für Europa aufzustellen. Entscheidend ist, dass es auf politischer Ebene keinen oder nur einen minimalen Kontakt zu den großen EU-Ländern Deutschland und Frankreich gibt und dass die Meinungsverschiedenheiten in den meisten Fragen erheblich sind.

Glauben Sie, dass Viktor Orban das ändern will, indem er zum Beispiel die Bühne als amtierender EU-Ratspräsident nutzt?

Ganz im Gegenteil. Ich glaube, dass die ungarische Regierung nichts mit Politikern oder Parteien zu tun haben will, die nicht so denken wie sie. Als Partner bleiben ihr derzeit die Fico-Regierung in der Slowakei, eine eventuelle FPÖ-Regierung in Österreich, die Parteien der von Orban mitgegründeten Fraktion der Patrioten im Europaparlament und Donald Trump. Alle anderen sind gewissermaßen disqualifiziert. Die vielleicht einzige Ausnahme ist noch Emmanuel Macron, mit dem Orban eine Art Männerfreundschaft pflegt. Alle anderen zählen nicht.

Porträt eines Mannes mit Brille
Der ungarische Politologe Andras HettyeyBild: Zsolt Bogar/DW

In einem Interview sagten Sie einmal, dass zwischen Viktor Orban und der Europäischen Union vor allem eine emotionale Entfremdung besteht und die außenpolitischen Entscheidungen in Ungarn wesentlich durch diese Entfremdung bestimmt werden. Was meinen Sie damit?

Orbans außenpolitische Entscheidungen werden oft aus einer innenpolitischen Perspektive heraus interpretiert, also, dass Orban macht, was bei den ungarischen Wählern beliebt ist. Oder dass Orban die ungarischen Interessen auf der Grundlage einer Kosten-Nutzen-Analyse bestimmt. Ich halte diese Erklärungen für nicht sehr stichhaltig. Ich denke, dass die emotionale Entfremdung, die sich im Zuge der ständigen Angriffe auf die ungarische politische Führung entwickelt hat, eine viel größere Rolle spielt. Fidesz-Anhänger sprechen praktisch seit Orbans erster Regierung in den Jahren 1998 bis 2002 von einer Flut ungerechtfertigter Kritik wie die, dass Orban in der deutschen Presse immer wieder als Nationalist und Chauvinist bezeichnet wurde. Dann kamen sein Zwei-Drittel-Wahlsieg 2010 und die Jahre mit der Aufregung um das Mediengesetz, die Migrationskrise und die offensichtlich berechtigte westliche Kritik am Demokratieabbau. Unabhängig vom Auslöser - fest steht, dass die Entfremdung existiert und die Orientierung der ungarischen politischen Führung ernsthaft beeinflusst.

Wie wirkt sich das auf die ungarische Außenpolitik aus?

Die ungarische Führung hat das Gefühl, dass sie immer in eine Situation gerät, in der man versucht, Ungarn mit irgendeiner Kritik an den Pranger zu stellen. Das führt unvermeidlich zu unterdrückter Wut, die sich mit Scham mischt, wenn sie wieder kritisiert werden. Dieser Kreislauf aus Wut und Scham hat zur Folge, dass die ungarischen Interessen, die als rational und in Stein gemeißelt definiert werden, in Wirklichkeit sehr emotional und konstruiert sind. Ein Beispiel: Orban hätte als Erster für den NATO-Beitritt Schwedens stimmen müssen, weil das Land eine der modernsten Streitkräfte Europas in die NATO einbringt und der Beitritt absolut im Interesse der Sicherheit Ungarns gewesen wäre. Statt dessen kam es zu einer Seifenoper mit vielen Episoden, nur weil sich die Schweden unschön über die ungarische Rechtsstaatlichkeit geäußert haben.

Das Gesicht eines Mannes im Halbschatten
Entscheidet in den meisten außenpolitischen Fragen allein: Ungarns Premier Viktor Orban, hier beim NATO-Gipfel in Spanien am 30.06.2022Bild: Beata Zawrzel/ZUMA/picture alliance

Der wichtigste Grund, warum die ungarische Regierung in einer Reihe von außenpolitischen Fragen Grenzen überschreitet, ist also, dass sich Viktor Orban beleidigt fühlt?

Ja, ich denke, das ist so. Hinzu kommt aber auch, dass in Ungarn in über achtzig Prozent der außenpolitischen Fragen Viktor Orban allein entscheidet. In anderen Ländern gibt es einflussreiche Parteilobbys, Koalitionspartner, eine starke Opposition und eine kritische Presse, die auch die transatlantische und europäische Politik in einem bestimmten Fahrwasser halten. In Ungarn gibt es keine solchen Gegengewichte.

Orban macht sich Freunde eher im Osten und im globalen Süden als im Westen. Sollte man das auch mit dieser westlichen Entfremdung erklären oder glaubt er wirklich an die neue Weltordnung?

Orban glaubt nicht nur, sondern meint auch zu spüren, dass die Asiaten im Kommen sind und dass die Ungarn da mitspielen müssen. Und wenn jemand das in Frage stellt und sagt, dass es dort nur böse Diktaturen gäbe und Ungarn das nicht übersehen dürfe, dann kommt wieder diese emotionale Entfremdung ins Spiel. Die ungarische Führung hat die Nase so voll vom Westen, dass sie den Aufstieg des Ostens herbeisehnt. Und wenn Viktor Orban dorthin geht, rollt man ihm den roten Teppich aus, es gibt gegenseitigen Respekt und niemand kritisiert jemals die ungarische politische Situation.

Stichwort Ungarns Russland- und Ukraine-Politik: Es gibt zwei westliche Narrative dazu. Das eine besagt, dass Orban "Putins Pinscher" und "Russlands Trojanisches Pferd" ist, ein Sicherheitsrisiko innerhalb der EU. Das andere ist etwas nachsichtiger: Orban sei ein Sturkopf, der am Ende aber immer einlenkt und für Sanktionen oder die EU-Mitgliedschaft der Ukraine stimmt. Da schwingt auch Hoffnung mit, dass sich am Ende immer alles einrenkt.

Ich sehe die Situation schwerwiegender: Die ungarische Außenpolitik befindet sich auf einem Kurs, wo sich nichts mehr einrenkt. Wir haben schon lange aufgehört, alles zu betonen, was uns mit dem Westen verbindet. Weder die gemeinsamen historischen Aspekte, noch die gemeinsamen Erfolge, noch die gemeinsamen Aufgaben. Noch vor zwei Jahren haben wir nur die EU kritisiert, nicht die NATO. Jetzt ist auch die NATO dabei: Was immer sie auch tut - nichts ist richtig. Aber um die Frage zu beantworten: Orban ist niemandes Trojanisches Pferd. Er würde sich von niemandem etwas vorschreiben lassen, das ist seiner Persönlichkeit fremd.

Porträt zweier Männer (Viktor Orban und Wladimir Putin) im Anzug, die sich die Hand geben und lächeln
Ungarns Premier auf "Friedensmission": Viktor Orban und der russische Präsident Wladimir Putin am 5.07.2024 in MoskauBild: Valeriy Sharifulin/SNA/IMAGO

Was konnte Orban realistischerweise erwarten, als er in den ersten Tagen der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft zu einer "Friedensmission" in die Ukraine und dann nach Russland reiste?

Natürlich wollte er auch ein Player und in den Nachrichten sein. Aber von Orbans Putin-Besuch war von vornherein so sehr nichts zu erwarten, dass es dem Westen eher so vorkam, als wolle Orban ihm eins auswischen. Die Aussage Orbans, dass die Kommunikationskanäle offen gehalten werden müssen, macht keinen Sinn, denn sie sind offen. Man könnte sich aber auch fragen, was "Friedensmission" im Zusammenhang mit einem Land bedeutet, das nicht daran denkt, an einer Friedenskonferenz teilzunehmen, und dem es bisher nicht gelungen ist, die These zu widerlegen, dass es nur die Sprache der Gewalt versteht.

Auf politischer Ebene waren die ungarisch-deutschen Beziehungen vielleicht noch nie so schlecht wie derzeit. Kommendes Jahr finden in Deutschland Bundestagswahlen statt, und die Chancen stehen gut, dass Friedrich Merz, der Vorsitzende der CDU, neuer Bundeskanzler wird. Würde ein Regierungswechsel die deutsch-ungarischen Beziehungen verbessern?

Ich sehe dafür keine wirkliche Chance. Die Beziehungen zur CDU haben sich um 2019/20 herum sehr verschlechtert. Es kommen keine christdemokratischen Politiker mehr nach Ungarn, und jetzt macht auch die CSU die gleiche Politik. Es könnte für sie zu einem Stimmenverlust bei den Wählern führen, wenn sie sich gemeinsam mit Orban zeigen. Der europäische Mainstream hat Orban bereits aufgegeben, sie warten auf einen Wechsel in Ungarn.

Dr. Andras Hettyey, Jahrgang 1983, ist seit 2024 Dozent am Lehrstuhl für Politische Theorie und Europäische Demokratieforschung an der deutschsprachigen Andrassy Universität in Budapest. Er studierte von 2001 bis 2008 Geschichte und Germanistik an der ELTE Universität Budapest, sowie Internationale Beziehungen an der Andrassy Universität. Von 2012 bis 2023 arbeitete Hettyey an der Universität für Öffentliche Verwaltung (NKE) in Budapest und war dort zuletzt Dozent am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und Diplomatie. Sein Forschungsschwerpunkt sind die ungarische Außenpolitik seit 1990 und vor allem die deutsch-ungarischen Beziehungen sowie die Rolle von Emotionen in internationalen Beziehungen.

Das Interview führte Zsolt Bogar.

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Zsolt Bogar Redakteur bei DW Ungarisch. Hauptinteressen: ungarische und europäische Politik und Wirtschaft.