Orbáns Antisemitismusproblem
16. Dezember 2020Nazi-Vergleiche aus Budapest häufen sich in den vergangenen Wochen. Doch was Szilárd Demeter, Direktor des Budapester Petőfi-Literaturmuseums und loyaler Anhänger Orbáns, Ende November in einem Meinungsartikel für das regierungsnahe Online-Portal Origo schrieb, hatte eine neue Qualität. Er nannte den US-amerikanischen Börsenmilliardär ungarisch-jüdischer Herkunft George Soros einen "liberalen Führer" und Europa "seine Gaskammer". In der seien die Polen und Ungarn die "neuen Juden", das Giftgas ströme aus der "Kapsel der multikulturellen offenen Gesellschaft". Der Aufschrei im In- und Ausland war groß. Demeter entschuldigte sich zwar halbherzig und zog seinen Artikel zurück. Seinen Posten musste er jedoch nicht räumen.
Vorfälle wie diese bringen der Orbán-Regierung regelmäßig Antisemitismusvorwürfe ein. Die Reaktionen aus Budapest auf solche Anschuldigungen sind nicht zimperlich. Juden lebten in Ungarn unvergleichlich sicherer und freier als in Westeuropa, heißt es üblicherweise von Seiten der ungarischen Regierung. Kürzlich schrieb Orbán sogar, "Fälle von offener Bedrohung und Übergriffen gegenüber jüdischen Menschen, wie sie heutzutage in Deutschland passieren, sind in Ungarn unvorstellbar".
"Diese Regierung ist nicht antisemitisch"
Tatsächlich gibt es in Ungarn, anders als beispielsweise in Frankreich oder Deutschland, kaum Fälle von Gewalt gegen Juden und jüdische Einrichtungen. Laut einer Studie der EU-Grundrechteagentur (FRA) von 2018, fühlten sich die in Ungarn lebenden Juden sicherer als die in allen anderen EU-Ländern. Lediglich dreizehn Prozent gaben an, Angst zu haben, in naher Zukunft Opfer körperlicher Gewalt zu werden. Zum Vergleich: In Frankreich befürchteten das 58, in Deutschland 47 Prozent der Befragten.
"Diese Regierung ist nicht antisemitisch", sagt András Kovács, Professor für Jewish Studies an der Central European University (CEU) in Budapest, im Gespräch mit der DW. Allerdings bediene sie sich, wie zum Beispiel bei der seit Jahren andauernden Kampagne gegen George Soros, antisemitischer Stereotype.
Immer wieder hofiert Orbáns Regierung auch Persönlichkeiten, die sich antisemitisch äußern. Mehrfach zeichnete sie beispielsweise den rechtsnationalistischen Historiker Ernő Raffay aus, zuletzt im August dieses Jahres. Raffay verglich 2015 Migranten aus mehrheitlich muslimischen Ländern mit jüdischen Zuwanderern im 19. Jahrhundert. Die hätten sich damals "vermehrt" und die Ungarn aus vielen Bereichen der Gesellschaft "verdrängt". "Das sollte uns [Ungarn] eine Lehre sein", befand Raffay.
Juden als "stinkende Exkremente"
Explizit antisemitisch äußerte sich in der Vergangenheit auch der Publizist Zsolt Bayer. Vor Jahren bezeichnete er den ungarischen Pianisten András Schiff und den deutschen Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit - stellvertretend für Juden - als "stinkende Exkremente" und schrieb, dass während des so genannten "Weißen Terrors" rechter ungarischer Freikorps in den Jahren 1919/20 leider nicht genügend Linke und Juden umgebracht worden seien.
Bayer ist kein Außenseiter, sondern Fidesz-Mitbegründer und ein enger Freund von Orbán. Er wurde 2013 wegen eines antisemitischen Artikels zu einer Geldstrafe verurteilt. Drei Jahre später erhielt er "in Anerkennung seiner journalistischen Tätigkeit" das Ritterkreuz, einen der höchsten Orden Ungarns. Mehr als 30 Ordensträger gaben ihre Auszeichnung damals aus Protest zurück, darunter auch András Heisler, der Vorsitzende des Verbandes der jüdischen Gemeinden in Ungarn (Mazsihisz).
"Diese Leute haben einen sehr schlechten Einfluss auf unsere Gesellschaft", sagt Heisler im Gespräch mit der DW. "Wir würden uns wünschen, dass die Regierung sich in Zukunft von ihnen distanziert".
Verhaltene Kritik aus Israel
Wahrscheinlich ist das nicht. Dass Antisemiten wieder toleriert werden, passt zur geschichtsrevisionistischen Politik der Orbán-Regierung. Immer wieder hat sie versucht, Ungarns Rolle im Holocaust zu relativieren, ob mit Statuen, Denkmälern oder Museen. Schon seit längerem gehören antisemitische Autoren wie der in Rumänien als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilte Albert Wass zur empfohlenen Lektüre in ungarischen Schulen.
Aus Israel kommt dazu nur selten Kritik. Der Grund: Viktor Orbán und Israels Premierminister Benjamin Netanjahu sind eng befreundet. Beide haben gemeinsame politische Interessen, stehen der EU kritisch gegenüber und haben George Soros zum Feind erklärt.
Antisemitismus auch in der Opposition
Doch auch die ungarische Opposition hat mitunter ein Antisemitismus-Problem. Im Oktober etwa stellte eine gemeinsame Oppositionsliste László Bíró von der einst rechtsextremen, inzwischen gemäßigteren Jobbik-Partei für eine Nachwahl im Nordosten Ungarns auf. Bíró hatte einige Jahre zuvor auf seiner Facebook-Seite von "jüdischem Wucherkapital" gesprochen und die ungarische Hauptstadt "Judapest" genannt. Bíró entschuldigte sich mehrfach für seine Aussagen. Dennoch schadete der Fall der Glaubwürdigkeit der Oppositions-Allianz.
Für regierungsnahe Medien war er ein gefundenes Fressen. Sie nutzen die Causa Bíró seither als Totschlagargument, sobald Orbán und Fidesz Antisemitismus vorgeworfen wird. Auch der Mazsihisz-Vorsitzende András Heisler war in diesem Zusammenhang Zielscheibe von Attacken. Er kritisiere zwar die Regierung, schweige aber zu Antisemitismus in der Opposition, hieß es in regierungsnahen Medien.
Heisler bestreitet das. Und bezieht eindeutig Stellung: "Das Problem, nicht nur in Ungarn, sondern in ganz Mittelosteuropa ist, dass Politiker aus allen Lagern die 'Judenkarte' spielen, wenn es für sie politisch nützlich ist", sagt er. Deshalb richtet er vor dem Wahlkampf im Frühjahr 2022 einen Appell an alle Parteien. Seine Bitte: Sie mögen einfach auf antisemitische Parolen verzichten.