Unerwünschte Fecht-Europameisterschaften
16. Juni 2023Die Entscheidung, Fechterinnen und Fechter aus Russland und seinem Verbündeten Belarus wieder zuzulassen, sorgt seit Monaten für Chaos und Unsicherheit bei denjenigen, die sich für die Olympischen Spiele in Paris im nächsten Jahr qualifizieren wollen. All dies wird sich zuspitzen, wenn im bulgarischen Plowdiw die Europameisterschaften im Fechtsport ausgetragen werden - allerdings nur in den Einzelwettbewerben, die vom ursprünglichen Gastgeberland Polen nach Plowdiw verlegt wurden. Der Turnier-Termin wurde in letzter Minute festgelegt, was die Vorbereitungen der Fechter in ganz Europa beeinträchtigt.
Diese Entscheidung trifft die ukrainischen Fechter besonders hart, denn sie werden gemäß dem von der ukrainischen Regierung im vergangenen April verhängten Sportboykott nicht an den Wettkämpfen teilnehmen, in denen die Russen antreten. "Es ist sehr schwierig", sagte Olga Kharlan, Bronzemedaillengewinnerin bei den Olympischen Spielen 2021 in Tokio, der DW. "Ich würde gerne antreten, es ist sehr wichtig für die Olympiaqualifikation. Es ist unsere Zukunft. Auf der anderen Seite wollen wir der Welt auch zeigen, dass ein Land, das ein Terrorstaat ist, nicht an Wettbewerben teilnehmen kann, wenn der Krieg noch andauert. Das ist im Moment unmöglich."
Auf der Seite eines Landes
Kharlan sagt, dass sie sich nun auf eine zweite - oder besser gesagt die ursprüngliche - EM konzentrieren wird, die Ende des Monats bei den Europa-Spielen im polnischen Krakau (21. Juni bis 2. Juli) stattfindet. Da die russischen und belarussischen Fechter jedoch von den Organisatoren der Spiele mit einem Teilnahmeverbot belegt wurden, entschied der Internationale Fechtverband (FIE), dass die Einzelwettbewerbe nicht für die Olympiaqualifikation zählen werden.
Das ist ein großes Problem für Kharlan und ihre Landsleute, da die Kontinentalmeisterschaften einen großen Teil der Ranglistenpunkte ausmachen, die über die Teilnahme an den Olympischen Spielen entscheiden. Sie sagt, dass ihre individuellen Chancen nun "praktisch ruiniert" sind. "Wie wir sehen, tut die FIE alles, damit die Russen zurückkommen", sagt Kharlan. "Wegen dieses Landes haben sie alles geändert. Sie zwingen den ganzen Kontinent, zu einem anderen Wettbewerb zu gehen. Das ist eine totale Parteinahme für ein Land."
Sport arbeitet mit Russen und Belarussen zusammen
Das derzeitige Chaos im Fechtsport scheint im Widerspruch zu den jüngsten Äußerungen von Thomas Bach, dem Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), zu stehen. Er sagte bei einer Versammlung von Sportfunktionären im vergangenen Monat, dass viele Sportarten die Empfehlungen seiner Organisation "sehr erfolgreich" umgesetzt hätten, und sprach von "Pessimisten, die den Leuten weismachen wollen, dass es nie funktionieren wird."
Die IOC-Empfehlungen erlauben zwar die Teilnahme als Neutrale Athleten und Athletinnen, verbieten aber Mannschaften aus Russland und Belarus (weshalb es in Plowdiw keine Mannschaftswettbewerbe geben wird), sowie Personen, die den Krieg aktiv unterstützt haben oder beim Militär unter Vertrag stehen, anzutreten. Im Moment ist mit dieser Situation niemand zufrieden - nicht einmal die Russen.
Nach dem Votum der FIE im März, das Verbot für Russen und Belarussen aufzuheben, versuchte der russische Fechtverband zu klären, wer in Mannschaften antreten darf - allerdings ohne Erfolg. Wochen und Monate vergingen, Wettkämpfe, bei denen um olympische Ranglistenpunkte gefochten wurde, kamen und gingen.
Vergangenen Monat legte die FIE eine Liste der überprüften Sportler vor. Es fehlten Sofya Velikaya und Sofia Pozdniakova, beide Olympiasiegerinnen in der Säbeldisziplin in Tokio, aber - und das ist für die Empfehlungen des IOC entscheidend - beide Mitglieder von CSKA Moskau, dem Armeeverein aus der russischen Hauptstadt. "Die Liste enthält keine Namen, die in der Welt des Sports bekannt sind", sagte Verbandschef Ilgar Mamedow damals gegenüber der staatlichen russischen Nachrichtenagentur TASS. "Wahrscheinlich fühlen sie sich in dieser Situation als Opfer, aber das sind sie nicht", sagte Kharlan.
Ukrainer absichtlich ausgeschlossen?
Von den insgesamt 17 russischen Fechterinnen, die von der FIE zur internationalen Teilnahme zugelassen wurden, reisen sechs nach Bulgarien. Dazu gehören die niedrig eingestuften Alena Lisina und Anna Smirnova. Und das, obwohl es hieß, Russland sei nicht bereit, die Bedingungen der FIE zu akzeptieren.
Stanislav Pozdnyakov, Chef des Russischen Olympischen Komitees und Vater der abgelehnten Sofia Pozdniakova, hatte zuvor die Liste als "Farce" bezeichnet und einen Boykott angedeutet. "Unsere Fechter werden nur unter gleichen Bedingungen wie die Athleten anderer Länder teilnehmen, ohne erfundene und unrechtmäßige Parameter und andere künstliche Hindernisse", schrieb Pozdnyakov in den sozialen Medien.
In Fachkreisen wird vermutet, dass Russland absichtlich nur in Disziplinen wie der von Kharlan gemeldet hat, in denen die ukrainischen Fechter am stärksten sind - wohl wissend, dass dies deren Teilnahme verhindern und somit die Chancen auf eine Olympiaqualifikation schmälern könnte.
"Das ergibt Sinn, ich sehe im Moment keinen anderen Grund", sagt Kharlan, die dennoch nach Plowdiw gefahren ist, für den Fall, dass die Russen in ihrer Disziplin nicht antreten. "Warum nehmen sie nicht an den anderen Waffen teil? Das ist doch seltsam, oder?", fragt die Ukrainerin. Es ist ein schwacher Trost für sie und andere, dass auch ihre wichtigsten Konkurrentinnen aus Russland nicht dabei sein werden.
"Für mich ist das alles keine Freude, sondern Gerechtigkeit", sagte Kharlan. "Denn es gibt im Moment viel Ungerechtigkeit gegen mein Land und gegen mich persönlich. Diese Leute vertreten die Armee, sie werben für Putin in allen Bereichen. Sie müssen verstehen, dass es für sie im Moment nicht an der Zeit ist, irgendwohin zu gehen, weil ihr Land Menschen tötet."
Aus dem Englischen adaptiert