1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Glaube

...und sie sangen ein neues Lied...

16. Oktober 2021

Warum das Singen in den Gottesdiensten so wichtig ist. Und warum mir vor allem das Neue Geistliche Lied am Herzen liegt.

https://p.dw.com/p/41WDV
500 Jahre Reformation: Martin Luther als Liederdichter - Kirchenchor
Bild: picture-alliance/dpa/P. Seeger

Wie gut das tut. Mal wieder richtig singen. Mit anderen. Laut, vielleicht sogar mehrstimmig. Im Hofheimer Exerzitienhaus haben wir das Glück eines großen Gartens, also konnten wir während der letzten Monate die Gottesdienste ins Freie verlegen. Begleitet von einem Akkordeon konnten wir singen. Mit gebührendem Abstand versteht sich.

Nicht erst in den letzten Monaten, aber da ganz besonders, wurde mir klar, wie wichtig für mich das Neue geistliche Lied geworden war. Es war anfangs der Siebziger, als sich nach dem II. Vatikanischen Konzil in der katholischen Kirche nach und nach die Liturgiereform durchsetzte. Die Welt von heute sollte in der Verkündigung aufgegriffen und ins Gebet genommen werden. Aber das Liedgut stammte weitgehend aus der Barockzeit oder aus dem 19. Jahrhundert. Hier klaffen Anspruch und Wirklichkeit auseinander.

Zuerst gab es Widerspruch gegen das Neuen Geistliche Lied. Noch 1965 untersagte der Kölner Kardinal Josef Frings das Musizieren von Jazz, Negro Spirituals und „geistlichen Schlagern“ in der katholischen Kirche, ein Jahr später sprach sich auch die Deutsche Bischofskonferenz gegen diese Art Musik aus. Aber beflügelt durch den frischen Wind des Konzils war die Bewegung nicht mehr aufzuhalten: eine zeitgemäße Liturgie braucht zeitgemäße Lieder.

Ein Blick in die Kirchengeschichte mag zeigen, dass bisher jede geschichtliche Periode neue Ausdrucksformen des geistlichen Liedes schuf. Im Anfang gab es weder den gregorianischen Choral noch Orgeln in den Kirchen und schon gar nicht die Orchestermessen. Neue Stilarten wurden in der Kirche oft vehement bekämpft (z. B. der mehrstimmige Gesang oder die orchestrale Begleitung), sie brauchten alle Zeit, um akzeptiert zu werden.

Selbstverständlich gibt es im großen Pool des Neuen Geistlichen Liedes auch negative Ausreißer. Oberflächliche, banale Texte finden sich ebenso wie schlagerhafte Melodien und Rhythmen. Wer genau hinsieht, stellt aber fest, dass dies doch die Ausnahmen sind und das Neue Geistliche Lied insgesamt aus den Kinderschuhen entwachsen ist. Viele der Lieder haben theologisch aussagekräftige Texte voller Poesie. Im neuen Gotteslob findet sich eine große Zahl in der Art des NGL, die inzwischen zum Standard der Liturgie in vielen Gemeinden gehört.

Mein persönliches Interesse gehört den Texten. Lieder sind Gebete, Glaubenszeugnisse, Zeichen der Gottesverbundenheit. Sie bedürfen einer sensiblen Sprache, die Irdisches mit Himmlischem, Zeitgemäßes mit Ewigem verbindet. Eine Sprache, die Gott „weiß“, verletzt das spirituelle Empfinden ebenso wie ein Sprache, die Gott banalisiert.

Ich selbst hatte das Glück, dass mich der begnadete Kirchenmusiker und Komponist Winfried Heurich (der hunderte von Neuen Geistlichen Liedern vertonte und den Ehrgeiz hatte, den gregorianischen Choral mit Jazz zu „versöhnen“) anwarb und in den diözesanen „Arbeitskreis Kirchenmusik und Jugendseelsorge“ mitnahm. So machte ich erste Schritte als Textschreiber für geistliches Liedgut. In der Folgezeit entstanden eine Reihe von Liedern, Geistlichen Musikspielen, Oratorien in Zusammenarbeit mit Komponistinnen und Komponisten. Eine besondere Herausforderung war das ökumenische Oratorium EINS, für das ich gemeinsam mit dem evangelischen Pfarrer Eugen Eckert das Libretto geschrieben habe. Vorgesehen war die Aufführung des Oratoriums mit vielen tausenden Sängerinnen und Sängern im Frankfurter Stadion anlässlich des Ökumenischen Kirchentages 2021. Weil dies die Pandemie nicht zuließ, wurde das Oratorium als Video aufgezeichnet und über den Kanal des Ökumenischen Kirchentages am 14. Mai 2021 ausgestrahlt. Für die rund 25.000 ZuschauerInnen war auch dies ein besonderes Erlebnis.

Geschlechtergerechte und inklusive Sprache ist ein „Muss“ für neue Liedtexte. Ausdrücke wie „Herr“ oder „Allmächtiger“ sollen ebenso vermieden werden wie die einseitige Anrede der „Väter“ oder „Brüder“. Gendern im Neuen Geistlichen Lied? Ja! Nicht mit Sternchen oder Doppelpunkt, das ist nicht singbar, aber es gibt viele Möglichkeiten, alle Geschlechter (und darüber hinaus auch alle Religionen und alle Geschöpfe) einzubeziehen.  

Gut, dass wir in der Kirchenmusik heute eine so große Vielfalt erleben. Der gregorianische Gesang hat ebenso seinen Platz und seine Berechtigung wie die polyphone Musik des Barock und das Neue Geistliche Lied. Genau besehen ist jede Musik „religiös“, weil sie eine Form der Inkarnation darstellt. Darum kommt wohl auch keine Religion ohne Musik und Lieder aus. Musik – das sind eben nicht nur Töne und Schwingungen, Musik transzendiert in die Welt des Unsagbaren und Geheimnisvollen und sie berührt Menschen in ihrer Tiefendimension. Das Neue Geistliche Lied bietet die Chance, dem religiösen Empfinden des heutigen Menschen Raum zu geben, ins Heute zu übersetzen, was Menschen zu allen Zeiten zum Staunen, Denken und Glauben bewegt.

 

Helmut Schlegel OFM, Priester, Medi­tationslehrer, Buchautor und Texter von Neuen Geistlichen Liedern. Bis 2018 leitete er die Meditati­onskirche Heilig Kreuz in Frankfurt-Bornheim, heute begleitet er einzelne und Gruppen auf dem geistlichen Weg.