Ukraine: Wiederaufbaukonferenz wird zur Nothilfekonferenz
28. Mai 2024Wieder bittet Wolodymyr Selenskyj um mehr Flugabwehr für sein Land. Auch bei seinem Besuch in Singapur, wo der ukrainische Präsident mit US-Verteidigungsminister Lloyd Austin Anfang Juni die Lage an der Front bespricht.
Russlands Vorstöße in der Region Charkiw im Nordosten des Landes und die ständige Bombardierung der Infrastruktur des Landes durch vergleichsweise billig produzierte Gleitbomben überschatten die sogenannte Wiederaufbaukonferenz für die Ukraine "URC2024" (Ukraine Recovery Conference 2024) in der deutschen Hauptstadt Berlin. Eigentlich wollte Deutschland mit der Einladung für die zweitägige Konferenz am 11. und 12. Juni ein Signal des Aufbruchs und der Hoffnung für die von Russland angegriffene Ukraine senden: Wiederaufbau mitten im Krieg.
Tatsächlich seien "die Bereitstellung westlicher Flugabwehrsysteme und die Aufhebung westlicher Beschränkungen", das heißt, der Beschuss russischen Gebiets mit westlichen Waffen, die beiden wichtigsten Prioritäten für Kiew derzeit, schreibt die US-Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) in einer jüngsten Analyse.
Kiew hofft, dass weitere rote Linien der westlichen Unterstützerstaaten fallen: bis hin zum Schutz des ukrainischen Luftraums im Westen des Landes durch die Flugabwehr der NATO-Staaten im angrenzenden Polen.
Berlin erwartet 1500 Gäste zur Wiederaufbaukonferenz
Und dennoch: Mindestens 1500 Gäste aus den Unterstützernationen des Landes und aus der Ukraine selbst werden zur Berliner Wiederaufbaukonferenz erwartet.
Doch mit der massenhaften Bombardierung ziviler Infrastruktur wie Strom- und Wärmekraftwerke durch Russlands Gleitbomben seit Anfang März wird die Kluft zwischen dem Anspruch der Konferenz in Deutschland und dem, was die Ukraine jetzt schon als schnelle Nothilfe benötigt, immer größer.
Nothilfe für ukrainische Energieversorgung
Die Ukraine könne derzeit nur "auf die Zerstörung reagieren", sagt der Wirtschaftsexperte Robert Kirchner im DW-Interview. "Von einem breiten, großflächigen Wiederaufbau werden wir wirklich erst dann reden können, wenn die Waffen schweigen", so Kirchner.
Mit der Beratungsagentur Berlin Economics arbeitet Kirchner seit 15 Jahren in der Ukraine, unter anderem im Auftrag der deutschen Regierung. Er ist der bekannteste Wirtschaftsberater der Ukraine aus Deutschland.
"Was wir gegenwärtig tun sollten, ist, die Ukraine bei der Aufrechterhaltung der Energieversorgung, der kritischen Infrastruktur zu unterstützen und gleichzeitig zu sehen, dass die Wirtschaft läuft, soweit es geht", so Kirchner. Dabei müsse der Energiesektor im Fokus stehen.
Russland habe aktuell 90 Prozent der "fossilen Erzeugerkapazitäten" allein des Energiekonzerns DTEK zerstört, gab die Firma des ukrainischen Multimilliardärs Rinat Achmetow zuletzt bekannt. Dabei decken die DTEK-Kraftwerke allein 40 Prozent der ukrainischen Stromversorgung ab.
Ukraine muss bei Stromversorgung Prioritäten setzen
Gleichzeitig gehen die Gleitbomben- und Drohnenangriffe Russlands in der Ukraine weiter. Ende Mai hielt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in Charkiw ein Treffen "zur Vorbereitung auf die Herbst-Winter-Periode" ab.
Wieder muss die Ukraine die Stromversorgung einteilen, nach einer kurzen Zeit des Normalbetriebs Ende 2023. Wieder geht es darum zu entscheiden, wer Strom erhält und zu welcher Zeit und wann nicht. "Kritische Infrastruktureinrichtungen, Krankenhäuser, Militärunternehmen und Unternehmen, die Mobilisierungsaufgaben wahrnehmen, werden vorrangig mit Strom versorgt", legte der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal nach dem Treffen in Charkiw fest.
Katastrophale Aussichten für den Winter
Ukraine-Experte Kirchner fürchtet, dass bis zum Winter die zerstörte Wärmeversorgung nur schwer repariert werden kann. Er verweist darauf, dass in den ukrainischen Großstädten zentrale Wärmekraftwerke aus der Zeit vor der Unabhängigkeit von der Sowjetunion eine große Rolle spielen.
"Wir werden wahrscheinlich im Winter das Problem mit der Wärmeversorgung haben, denn die ist auch zu einem signifikanten Teil zerstört", so Kirchner. "Das merken wir jetzt nicht, oder es stört gerade nicht im Sommer. Es kann aber ein massives Problem im Winter werden. Und wenn das nicht gelöst wird, dann haben wir es möglicherweise mit neuen Fluchtbewegungen zu tun."
Schon bei der jüngsten Offensive Russlands nordöstlich von Charkiw mussten mehr als 11.000 Ukrainerinnen und Ukrainer flüchten, um ihr Leben zu retten. Satellitenaufnahmen zeigen dutzende Leichen auf den Dorfstraßen der zuletzt von den russischen Soldaten eroberten Gebiete.
"Man will sich nicht vorstellen, was passiert, wenn die Abwasserversorgung in einer Großstadt zusammenbricht. Hier sollten Eventualpläne vorbereitet werden", sagt Wirtschafts- und Energieexperte Kirchner im Vorfeld der Wiederaufbaukonferenz in Berlin.
"Fachkräfte-Initiative" für die Ukraine
Eigentlich hofften die deutschen Veranstalter, während der zwei Tage in Berlin die großen Linien festzulegen – für den Wiederaufbau der Ukraine über ein erhofftes Ende des Krieges hinaus. Unter der Überschrift "Menschliche Dimensionen" soll es um die "soziale Erhöhung und Humankapital für die Zukunft der Ukraine" gehen.
Auch die Frage, wie Privatkapital für den Wiederaufbau mobilisiert werden kann, steht ganz oben auf der Agenda der deutschen Entwicklungshilfeministerin Svenja Schulze, deren Ministerium die Konferenz gemeinsam mit dem deutschen Außenministerium organisiert. Sie setze sich für "eine internationale Fachkräfte-Initiative für die Ukraine ein", sagte Schulze Ende April in Berlin.
"Das Wissen, wie man Stromnetze wiederaufbaut, das können sie nicht zerstören", so Schulze mit Blick auf die ununterbrochenen Attacken Russlands auf die zivile Infrastruktur durch Gleitbomben.
Keine Antworten auf deutsche Patriot-Initiative
Auch während der Vorbereitungskonferenz zum Thema Fachkräfteausbildung in Berlin bat der ukrainische Botschafter Oleksii Makeiev dringend um mehr Flugabwehr aus den 50 Unterstützernationen unter Führung der USA. Sein Land brauche "mindestens sieben neue Patriot-Systeme", so Makeiev.
Infrastruktur, die erfolgreich mit westlicher Flugabwehr geschützt wird, muss nicht wiederaufgebaut werden. Doch genau bei der Militärhilfe hakt es seit Monaten schon zwischen Kiew und den westlichen Unterstützernationen.
Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock und Verteidigungsminister Boris Pistorius haben gemeinsam einen Appell an die NATO-Partner gerichtet, mehr Flugabwehr-Systeme in die Ukraine zu schicken, um Großstädte wie Charkiw zu schützen. Deutschland ging voran mit einem weiteren Patriot-System. Seitdem ist es jedoch still.
Wiederaufbaukosten steigen täglich
Zuletzt zeigt sich der deutsche Verteidigungsminister Pistorius bei dem Thema fast schon ratlos. Am Rande eines Besuchs im NATO-Land Lettland an der Grenze zu Russland fragt eine Journalistin, warum noch immer andere Länder in Europa abwarteten, der Ukraine mit mehr Flugabwehr zu helfen. "Ich habe keine Ahnung", so Pistorius, "ich habe keine Ahnung, warum alle zögern."
Und so wird wohl auch die große Wiederaufbaukonferenz für die Ukraine Mitte Juni von der eigentlichen Frage überschattet sein: Wie soll sich die Ukraine erfolgreich gegen Russlands Luftangriffe verteidigen? Für den Ukraine-Berater und Volkswirtschaftler Robert Kirchner ist klar: "Die Angriffe gehen weiter, die Zerstörung geht weiter. Das bedeutet, dass die Wiederaufbaukosten immer höher werden, auch während wir hier gerade sprechen."
Dieser Text erschien erstmals am 28.05.2024 und wurde am 03.06.2024 um den Besuch Selenskyjs in Singapur aktualisiert.