Ukraine: Mehr Frühgeburten im Krieg
12. Mai 2022Für Aljona Hawrylenko sind Freude und Trauer momentan schwer zu trennen. Vor wenigen Tagen hat die 28-Jährige eine Tochter zur Welt gebracht. Daryna schläft ruhig in einer kleinen Wiege neben dem Krankenhausbett ihrer Mutter. Die kann noch immer kaum fassen, wie sich ihr Leben in den vergangenen Wochen von Grund auf verändert hat. Aljona war bereits hochschwanger und seit einer Woche im Mutterschutz, als das russische Militär am 24. Februar die Ukraine überfiel. "Plötzlich gingen die Sirenen los und wir hörten die ersten Explosionen", erinnert sich die junge Mutter, die zu dem Zeitpunkt mit ihrem Ehemann noch in der Hauptstadt Kiew lebte. "Es war so beängstigend, denn wir wussten überhaupt nicht, was los war. Im Fernsehen gab es noch keine Informationen."
Schwanger auf der Flucht
Aljona und ihr Ehemann sahen immer mehr Nachbarn, die eilig ihre gepackten Koffer ins Auto luden und davonfuhren. Am Nachmittag beschlossen auch sie, die Stadt zu verlassen. "Seltsamerweise hatten wir noch gar nichts für den Nachwuchs angeschafft: Kein Babybett, kein Wickeltisch, gar nichts. Es war fast, als ob wir tief in uns schon etwas gespürt haben", meint Alyona. Nach einer wochenlangen Odyssee erreichte das Paar schließlich Lwiw im Westen der Ukraine, wo sie bei Verwandten untergekommen sind. Auch hier sind zwar fast täglich Luftalarm-Sirenen zu hören, aber die Stadt gilt weiterhin als vergleichsweise sicherer Ort. Die Front, die besetzten Gebiete, die russische Artillerie - all das ist hunderte Kilometer entfernt.
Für Aljona bedeutete die Flucht als Hochschwangere auch, ihre Pläne einer Geburt in vertrauter Umgebung und mit der Unterstützung ihrer Familie hinter sich zu lassen. In Lwiw angekommen suchte sie im Internet, wohin sie sich als Schwangere wenden kann, und stieß dabei auf die Geburtsklinik des Regionalkrankenhauses im Zentrum der Stadt. "Direkt bei der ersten Untersuchung haben sie hier festgestellt, dass unsere Tochter sehr langsam wächst." Wirklich überrascht habe sie das nicht, erzählt die Mutter. Nach Kriegsausbruch sei sie in ein tiefes Loch gefallen und habe wochenlang fast überhaupt nichts essen können.
Nicht genug überlebenswichtige Inkubatoren
Aljona Hawrylenko und ihr Ehemann hatten Glück: Ihre Tochter Daryna kam schließlich gesund und fast pünktlich zur Welt. Seit Kriegsausbruch haben medizinische Komplikationen bei Schwangerschaften rasant zugenommen. Vor allem die Zahl der Frühgeburten ist sprunghaft angestiegen. In einigen besonders von Angriffen betroffenen Städten berichten Gesundheitsexperten von einer Verdreifachung. In der umkämpften Stadt Charkiw im Nordosten war nach Aussage lokaler Ärzte in den ersten Kriegswochen sogar jede zweite Entbindung eine Frühgeburt. Dies führte in zahlreichen Krankenhäusern dazu, dass die für Frühgeborene oft überlebenswichtigen Inkubatoren knapp wurden.
Auch in der Geburtsklinik in Lwiw haben die Frühgeburten deutlich zugenommen, besonders bei den Müttern, die eine längere Flucht hinter sich haben. Wenige Zimmer von Aljona entfernt liegt Halyna Holez. Ihr Sohn Mychajlo kam mehr als einen Monat zu früh zur Welt. "Er muss noch immer künstlich ernährt werden, für das Fläschchen ist er zu schwach", erzählt Halyna. "Aber er kann schon allein atmen und ich habe das Gefühl, dass er langsam stärker wird." Immerhin fühlen sie sich hier in Lwiw relativ sicher. Ihre Heimatstadt Mykolajiw liegt im umkämpften Süden des Landes, wenige Autostunden von der fast völlig zerstörten Stadt Mariupol entfernt.
Hier kamen in den ersten Kriegswochen bei der Bombardierung einer Geburtsklinik mehre Menschen ums Leben. "Der Stress, den wir in den vergangenen Wochen erleben mussten, war einfach unglaublich", stöhnt Halyna. "Und dann habe ich mich auch noch zweimal mit dem Coronavirus infiziert."
"Stress hat immer negative Auswirkungen auf Schwangere"
Genau das seien die typischen Faktoren, die zu dem Anstieg der Frühgeburten geführt haben, erklärt Gynäkologin Maria Malatschynska. Die Leiterin der Geburtsklinik in Lwiw hat seit Kriegsbeginn über 200 Geburten in ihrer Einrichtung registriert - mehr als jemals zuvor. "Jede Form von Stress hat negative Auswirkungen auf eine Schwangerschaft", so die Ärztin. "Und die aktuelle Situation, der Krieg, ist natürlich ein außergewöhnlicher Stress. Der Kriegsausbruch war ein riesiger Schock, hinzukommt jetzt die Ungewissheit über die Zukunft." Durch die schwierigen Umstände auf der Flucht und die Enge in vielen Luftschutzkellern steige zudem das Infektionsrisiko.
Neben der medizinischen Betreuung brauchen viele Mütter vor allem psychologische Unterstützung. Sie versuche, ihre Patientinnen vor negativen Einflüssen zu schützen und rate ihnen, die aktuellen Kriegsgeschehnisse in den Medien möglichst wenig zu verfolgen, erklärt die Gynäkologin. Aber das sei natürlich oft nicht möglich. Viele wollen wissen, wie es ihren Angehörigen geht. Zumindest gibt es in der Klinik in Lwiw bisher ausreichend medizinisches Gerät. Das liege auch daran, dass sie sich frühzeitig um Unterstützung bemüht hatten - auch aus dem europäischen Ausland, so Ärztin Malatschynska. Erst vor wenigen Tagen seien drei neue Inkubatoren angekommen. "Aber natürlich können wir in der derzeitigen Lage nichts vorhersagen, wir müssen weiterhin auf alles gefasst sein."
Auch die jungen Mütter wissen nicht, wie der Alltag mit dem Nachwuchs aussehen wird, sobald sie das Krankenhaus verlassen. "Wir werden wohl so schnell nicht nach Hause zurückkehren können", meint Halyna. "Was ist alles, was ich momentan über unsere Zukunft sagen kann."