Ukraine: Russische Willkür und Inhaftierung
1. September 2022Es ist ein Dokument des Grauens, von Willkür, Lagerhaft von Flüchtenden und anderen Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht in den russisch besetzten Gebieten der Ukraine: Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) hat 117 Augenzeugen befragt, von denen die meisten den sogenannten "Filtrationsprozess" russischer Sicherheitsbehörden und ihrer Verbündeten in der Ostukraine durchlaufen mussten.
Vor allem nachdem die russische Armee im Frühjahr den Süden der Ukraine und die Stadt Mariupol eroberten, wurden die vielen tausend vor dem Krieg flüchtenden Menschen festgesetzt, teils tagelang. Bis heute werden viele Festgesetzte stundenlang verhört, um ukrainische Soldatinnen und Soldaten aus der Menge der Flüchtlinge "herauszufiltern". Bei dieser Gesinnungsprüfung registrieren die Sicherheitsleute biometrische Daten wie Fingerabdrücke, fertigen Portraitfotos der Menschen an "von vorne und von der Seite", heißt es in dem HRW-Bericht.
Aus den Smartphones der Flüchtenden werden Kontaktdaten kopiert, ihre privaten Textnachrichten und Kommentare auf Social Media Kanälen gesichtet. Die Zeuginnen und Zeugen im HRW-Bericht bestätigen Orte der Lager und Vorgänge teilweise gegenseitig, obwohl sich die Menschen während ihrer Deportation nicht begegnet sind, was auf einen hohen Wahrheitsgehalt der Interviews hinweist.
Stundenlange Verhöre
Die Gespräche haben die HRW-Ermittler teils telefonisch geführt zwischen dem 22. März und dem 28. Juni. Einige der Flüchtenden leben nach ihrer Flucht über Russland mittlerweile in Norwegen, Deutschland und anderen westlichen Ländern, 78 der Befragten konnten sich während der Kämpfe um Mariupol vorbei an zahlreichen russischen Militärcheckpoints auf nicht besetztes Gebiet bei der Stadt Saporischschja in der Südukraine retten. Doch vielen wurde dieser Weg verwehrt. Die Regierung in Kiew geht davon aus, dass 1,2 Millionen ihrer Bürgerinnen und Bürger teilweise unter Zwang nach Russland gebracht worden seien, manche auch freiwillig allerdings meist weil ihnen keine andere Möglichkeit offenstand, so HRW. Die Festsetzung und "Filtration" steht bis heute für viele am Beginn der Flucht vor dem Krieg. Das verstößt gegen die Genfer Menschenrechtskonvention.
"Die Verschleppung von Menschen in die von Russland besetzten Gebiete und die Weiterreise nach Russland ohne deren Zustimmung" müsse sofort gestoppt werden, sagt der HRW-Ermittler Belkis Wille, der den Bericht zusammengestellt hat. "Russische Behörden und internationale Organisationen sollten alles tun, um denjenigen, die gegen ihren Willen nach Russland gebracht wurden und nach Hause zurückkehren wollen, zu helfen, dies sicher tun zu können." Die Organisation habe Moskau vor der Veröffentlichung um eine Stellungnahme zu dem Bericht gebeten, habe aber keine Antwort erhalten.
Zehn Tage in der Warteschlange
Eine Zeugin aus dem Ort Melekyne, südlich von Mariupol, beschreibt wie sie Mitte April gemeinsam mit ihrem Mann zunächst zu Fuß ihr Zuhause verlassen hatte. Sie liefen bis zum Ort Manusch, wo sie von pro-russischen Separatisten der sogenannten "Donetsker Volksrepublik" festgehalten wurden. Sie mussten sich dort zehn Tage lang immer wieder aufs Neue anstellen für die Befragung. "Im Grunde genommen steht man den ganzen Tag in einer Schlange, und abends, wenn Ausgangssperre ist, geht man zurück in seine Unterkunft und macht das Gleiche am nächsten Tag wieder", wird die Frau zitiert. Ein Mann aus Mariupol berichtet wie er mit "Dutzenden" anderen Menschen aus seiner Stadt für zwei Wochen in einer Dorfschule unter katastrophalen hygienischen Bedingungen festgehalten wurde, bevor die Befragungen begannen. "Wir fühlten uns wie Geiseln", berichtet dieser Zeuge.
"Personen, die das Verfahren 'nicht bestanden' haben, weil sie offenbar Verbindungen zum ukrainischen Militär oder zu nationalistischen Gruppen hatten, wurden in den von Russland kontrollierten Regionen inhaftiert, unter anderem in dem Gefangenenlager in Olenivka, wo Berichten zufolge am 29. Juli mindestens 50 ukrainische Gefangene bei einer Explosion getötet wurden", heißt es in dem HRW-Bericht weiter. Andere sollen in das Gefängnis auf dem Industriegelände "Izolatsija" bei Donetsk gebracht worden sein, das bereits seit Beginn der Kämpfe in der Ostukraine 2014 besteht. Insgesamt zählt Human Rights Watch 15 Verhör- und Internierungszentren auf russisch besetztem Gebiet. Das nun veröffentlichte Papier ist allerdings nur einer von mehreren Belegen des russischen Internierungs- und Filtrationssystem in der Ukraine.
Tatsächlich wohl mehr als 21 Filtrationslager
Bereits seit Ende August ist die Analyse "System der Filtration" der US-Universität Yale öffentlich. Anders als der HRW-Bericht arbeiten die Analysten unter der Überschrift "Kartierung der russischen Inhaftierungsmaßnahmen im Gebiet Donetsk" mit öffentlich zugänglichen Quellen wie Nachrichten und Videos aus Messenger- und Social-Media-Kanälen und Satellitenaufnahmen dieser Lager. Die US-Forscher kommen auf mindestens 21 Lager.
Die Forscher teilen die Lager in vier Kategorien auf: Orte zur "Registrierung", Einrichtungen, wo Flüchtende zwangsweise bis zu ihrer Befragung festgehalten werden, Zentren für Wiederholungs-Verhöre und schließlich Internierungslager. "In einigen spezifischen Fällen kann die von den freigelassenen Personen beschriebene Behandlung, wie die Anwendung von Elektroschocks, extreme Isolationsbedingungen und körperliche Übergriffe den Tatbestand der Folter erfüllen", falls die Vorwürfe juristisch nachgewiesen werden können, so der Bericht.
Zudem gebe es "Hinweise darauf, dass das System bereits Wochen vor Beginn der Invasion eingerichtet worden sei und wahrscheinlich nach der Einnahme von Mariupol durch Russland im April 2022 ausgebaut wurde, um alle Bürger filtern zu können".
Von vielen Inhaftierten fehlt jede Spur. Nach Angaben der Internationalen Kommission für vermisste Personen (ICMP) in Den Haag hat die ukrainische Polizei bislang 32.000 Vermisstenfälle registriert, bis heute blieben 14.500 Menschen verschwunden, wobei sich diese Zahl nicht nur auf Inhaftierte sondern auf das gesamte Land bezieht. Doch wegen der andauernden Kämpfe könne diese Zahl "weitaus höher" liegen. Die Nichtregierungsorganisation wurde in den 1990er-Jahren gegründet, um die Vermissten des Jugoslawienkrieges insbesondere nach dem Massaker an mehr als 8000 Jungen und Männern in Srebrenica zu identifizieren. Die sterblichen Überreste zehntausender Vermisster der Jugoslawienkriege wurden in den vergangenen 25 Jahren aus Massengräbern geborgen und mithilfe von Gen-Analysen ihren Angehörigen zugeordnet.
"Wir bemühen uns auch der Ukraine zu helfen", sagt die ICMP-Generaldirektorin Kathryne Bomberger im Gespräch mit der DW. Es gehe darum "Fälle von vermissten Personen ausfindig zu machen und nach gerichtlichen Standards zu untersuchen, die es ermöglichen, die Urheber von Gräueltaten zur Rechenschaft zu ziehen" – vor Gericht.
Dass nach Bekanntwerden der russischen Gräueltaten in den Ortschaften nördlich von Kiew wie dem Ort Butscha weitere Verbrechen gegen universelle Kriegs- und Menschenrechte bekannt werden, vermuten die Experten der Filtrations-Studie der Universität Yale. Auf mehreren der ausgewerteten Satellitenaufnahmen ist ausgehobene Erde in mindestens zwei russischen Internierungslagern zu sehen - für die Forscher ein Hinweis auf weitere Massengräber im Süden und Osten der russisch besetzten Gebiete in der Ukraine.