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Ukraine: "Das Recht ist auch eine Waffe"

8. April 2022

Zwei frühere Bundesminister stellen Strafanzeige gegen Wladimir Putin. Ihr Vorwurf: Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Die Massaker in Butscha sind dabei nur die Spitze des Eisbergs.

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Ukraine | Leichen auf der Straße in Bucha
Leichen auf einer Straße in Butscha, wo russische Soldaten mutmaßlich Kriegsverbrechen verübt haben Bild: Zohra Bensemra/REUTERS

Strafanzeige gegen Putin in Deutschland

Gerhart Baum war von 1978 bis 1982 Innenminister der Bundesrepublik Deutschland. Als zwölfjähriges Kind erlebte er im Februar 1945 wenige Monate vor dem Ende des von Nazi-Deutschland ausgelösten Zweiten Weltkriegs die Bombardierung seiner Geburtsstadt Dresden. Unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine sagt der Jurist im April 2022: "Es sind meine Kriegsbilder, ich bin ein sehr alter Mann." Baum wird im Oktober 90.

"Nirgendwo dürfen sich Kriegsverbrecher sicher fühlen"

Nun hat der hochbetagte Freidemokrat (FDP) gemeinsam mit seiner Parteifreundin, der früheren Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, vor dem Bundesgerichtshof Strafanzeige gegen Russlands Präsident Wladimir Putin erstattet. Das gilt auch für rund 100 weitere aus ihrer Sicht für Kriegsverbrechen verantwortliche Politiker und Militärs. "Wir wollen heute einen Beitrag leisten auf unserem Felde: auf dem Felde des Rechts", sagt Baum am bei der Präsentation der Anzeige in Berlin.

Deutschland |  Strafanzeige beim Generalbundesanwalt zu Kriegsverbrechen in der Ukraine
Gerhart Baum, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Nikolaos Gazeas mit der Strafanzeige gegen Wladimir PutinBild: Jens Krick/Flashpic/picture alliance

In der Begründung, die im 40 Seiten dicken Schriftsatz für den Generalbundesanwalt steht, heißt es unter anderem: "Mit der Strafanzeige wollen wir die Bedeutung und die Notwendigkeit dieser Ermittlungen unterstreichen. Es darf keine Straflosigkeit von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit geben. Nirgendwo dürfen sich Kriegsverbrecher sicher fühlen."

"Ich habe diesen Bombenkrieg, den Terror miterlebt"

Als Gerhart Baum in der Berliner Bundespressekonferenz über die Strafanzeige spricht, blickt er mehrmals auf seine eigenen Erlebnisse zurück: "Ich habe diesen Bombenkrieg, den Terror miterlebt und auch die Flucht." Nach der Zerstörung Dresdens rettete sich die Mutter mit ihren drei Kindern Richtung Westen. Bilder des Krieges heute wecken bei Baum die Erinnerung an damals - trotz vieler Unterschiede. In Dresden wurden in drei Tagen und Nächten bei Flächenbombardements im Zuge des Krieges gegen Nazi-Deutschland etwa 25.000 Menschen getötet. Zum Vergleich: in Mariupol sind laut Bürgermeister seit Beginn des russischen Angriffs 5000 Zivilisten umgekommen.

Deutschland Bombenangriff Dresden | Ruinen in Dresden
Gerhart Baum erinnert sich an die Zerstörung Dresdens im Februar 1945Bild: picture-alliance/akg-images

Die Strafanzeige hat der Kölner Rechtsanwalt Nikolaos Gazeas formuliert. Dabei stützt er sich auf das sogenannte Weltrechtsprinzip aus dem Völkerstrafgesetzbuch. Demnach gilt die Strafbarkeit nach deutschem Recht auch dann, "wenn die Taten nicht auf deutschem Boden begangen wurden, nicht von deutschen Tätern und wir nicht-deutsche Opfer haben".

Strafverfolgung - unabhängig vom Tatort

Deshalb könnten die mutmaßlichen Kriegsverbrechen in der Ukraine unabhängig vom Tatort in Deutschland verfolgt werden. Das sei schon mehrmals erfolgreich geschehen, betont Gazeas. Als herausragendes Beispiel nennt er das Urteil des Oberlandesgerichts Koblenz gegen einen Mitarbeiter des syrischen Geheimdienstes. "Das Urteil hat weltweit in hohem Maße Anerkennung erfahren."

Deutschland | Koblenz Prozess um Staatsfolter in Syrien
Folter-Prozess in Koblenz 2022: Yasmen Almashan mit Bildern ihrer fünf in Syrien mutmaßlich ermordeten BrüderBild: Martin Meissner/AP Photo/picture alliance

Deutschland habe aufgrund seiner eigenen Geschichte eine besondere Verantwortung und "Leuchtturm-Charakter" in der internationalen Völkerrechtsgemeinschaft, sagt Gazeas. Deshalb sei man sehr hoffnungsvoll, dass Deutschland und damit der Generalbundesanwalt auch im Ukraine-Krieg "sein Potential ausschöpfen wird und die Taten verfolgen wird, die es zu verfolgen gilt".

Aleppo, Grosny, Butscha

Zehn Fälle sind in der Strafanzeige aufgelistet. Gazeas erwähnt die Bombardierungen eines Atomkraftwerks zu Beginn des Kriegs, einer Geburtsklinik und des Theaters in Mariupol, "wo Kinder drin waren". Als weitere mögliche Kriegsverbrechen nennt er Aushungern, den Einsatz von Streubomben "bis hin zu den furchtbaren Hinrichtungen und gezielten Tötungen von Zivilisten in Butscha". 

"Rücksichtslose Kriegsführung Russlands"

Gerhart Baum nennt Wladimir Putin einen "Kriegsverbrecher" und erinnert an russische Flächenbombardements in Syrien und Tschetschenien, namentlich Aleppo und Grosny. Zerstörungen mit ähnlichen Methoden: "verbrannte Erde, Mordkommandos". Und die russische Zivilgesellschaft sei erstickt worden. "Wohl in Vorbereitung auf diesen Krieg, damit sich da kein Widerstand rührt", vermutet Baum. "Und wer weiß, ob der Krieg an der Grenze der Ukraine halt macht?"

Auch Geheimdienste könnten Beweise liefern

Ex-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hofft, den deutschen Generalbundesanwalt in seinen allgemeinen Ermittlungen mit ihrer "sehr umfangreichen Strafanzeige" unterstützen zu können. Das Ziel: Da, wo es einen Anfangsverdacht gebe, "gegen einzelne Personen zu ermitteln". Der nächste Schritt sei, Fälle zu konkretisieren, um am Ende zu Haftbefehlen zu kommen.

Als Beweise für Gräueltaten kommen sowohl öffentlich zugängliche Quellen infrage, hilfreich können aber auch überprüfbare Informationen von Geheimdiensten sein. Rechtsanwalt Nikolaos Gazeas verweist auf Erkenntnisse des ukrainischen Militär-Geheimdienstes über russische Streitkräfte, die Kriegsverbrechen begangen haben könnten und die Teil der Strafanzeige sind. "Sie können dort den Namen finden, den Dienstgrad, die militärische Nummer, das Geburtsdatum sowie die Verwendung."

Mahnende Beispiele für Putin: Pinochet und Milošević

Gerhart Baum erinnert an den Fall des chilenischen Diktators Augusto Pinochet. Der wurde Ende der 1990er Jahre in London festgenommen – aufgrund des Beschlusses eines spanischen Richters. Allerdings wurde Pinochet am Ende in dem gegen ihn geführten Prozess aus gesundheitlichen Gründen für verhandlungsunfähig erklärt.

Die getöteten Kinder des Kosovo-Krieges

Als erstes Staatsoberhaupt wurde 1999, noch während seiner Amtszeit, der serbische Präsident Slobodan Milošević wegen Völkermords im Kosovo-Krieg angeklagt. Die Auslieferung an das Kriegsverbrecher-Tribunal der Vereinten Nationen in Den Haag erfolgte 2001. Ein Jahr später begann der Prozess, der ohne Urteil endete, weil der Angeklagte 2006 starb.

Auch wenn weder Milošević noch Pinochet rechtskräftig verurteilt werden konnten – sie wurden immerhin festgenommen und verbrachten mehrere Jahre im Untersuchungsgefängnis oder wurden unter Hausarrest gestellt.

Und das bedeutet für Wladimir Putin und andere mutmaßliche russische Kriegsverbrecher, dass sich niemand sicher sein kann. Oder mit den Worten Gerhart Baums: "Das Recht ist auch eine Waffe."  

Deutsche Welle Marcel Fürstenau Kommentarbild ohne Mikrofon
Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland