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Politik

Holocaust-Überlebende fliehen nach Deutschland

2. April 2022

"Ich hatte nicht gedacht, dass das noch einmal passieren könnte." Als Kinder haben sie den Zweiten Weltkrieg erlebt, jetzt werden sie als alte Menschen aus der umkämpften Ukraine nach Deutschland gebracht.

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Holocaustüberlebende in Deutschland
"Mit neun, damals mitten im Krieg, war alles viel einfacher, als jetzt mit 90", sagt Alla SenelnikowaBild: Volker Witting/DW

Sie kommen mit dem, was sie tragen konnten: einem kleinen Koffer, einer Reisetasche, Fotos, einem Adressbuch, dem Handy. Und einer Menge Erinnerungen an das, was sie in ihrem langen Leben schon durchgemacht haben. Vollkommen erschöpft steigen drei betagte Frauen aus dem großen Lazarettbus des Roten Kreuzes aus; eine wird auf einer Trage von Sanitätern herausgebracht.

Die jüdischen Holocaust-Überlebenden aus der Ukraine werden von Thomas Böhlke begrüßt. Ohne Empfangsfeier, ohne Tamtam, "weil jetzt alle einfach nur erschöpft sind", sagt Heimleiter Böhlke. Drei Tage anstrengenden Reisens, mit ständigem Umsteigen, haben sie hinter sich. Eine Odyssee, um zu überleben und das Trauma eines zweiten Krieges in ihrem Leben hinter sich zu lassen. Ihr vorläufig neues Zuhause ist nun das Heim "Erfülltes Leben" in Berlin; ist Deutschland. Erfülltes Leben!

Holocaustüberlebende in Deutschland
Thomas Böhlke (rechts) kümmert sich um geschundene Seelen und den Papierkram, der nun erforderlich istBild: Volker Witting/DW

Liliya Vaksman hat sofort ihren Enkel angerufen, der seit einigen Monaten in Berlin lebt und arbeitet. Er ist ins Heim geeilt, um seine Oma in die Arme zu schließen.

"Ich liebe dich doch so", sagt Liliya Vaksman zärtlich zu ihrem Enkel Dan. Beide sind den Tränen nah. Die Holocaust-Überlebende Liliya Vaksman ist 82 Jahre alt und wurde aus der umkämpften Millionenstadt Dnipro (früher Dnepropetrowsk) in der Ukraine evakuiert. Als Kind hat sie Krieg, Verfolgung und Flucht erlebt. Und jetzt: wieder Krieg.

"Ich bin einfach nur geschockt über das, was nun in der Ukraine passiert. Ich kann einfach nicht glauben, dass jetzt noch einmal dasselbe passiert wie damals, als ich noch Kind war."

Holocaustüberlebende in Deutschland
Wie im Zweiten Weltkrieg - Liliya Vaksman (Mitte) saß vor wenigen Tagen noch in einem Schutzraum in DniproBild: Privat

Auch für die 90-jährige ehemalige Ärztin Alla Senelnikowa aus dem umkämpften Charkiw ist es ein Schock, ein Trauma, dass der Krieg sich noch einmal so brutal in ihr Leben drängt. Es sei "eine Katastrophe", sagt sie. "Ich bedauere eigentlich, dass ich noch am Leben bin, weil ich das ganze Kriegsgeschehen jetzt zum zweiten Mal durchleben muss."

Irgendwie überleben

Im Krieg in der Ukraine wird bereits das schlichte Überleben für betagte Menschen immer schwieriger. Sie können sich nicht mehr allein helfen. Wasser ist knapp, Nahrungsmittel fehlen. Oft fällt in den Kriegsgebieten Wasser und Strom aus. Ganz zu schweigen von Pflegekräften oder Verwandten, die nicht mehr zur Unterstützung kommen können, weil die russischen Truppen Bomben werfen oder Granaten abschießen, auch auf Wohnhäuser.

In dieser Situation wollten jüdische Hilfsorganisationen, wie die Jewish Claims Conference und die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden, gebrechlichen jüdischen Holocaust-Überlebenden schnell helfen, das Land zu verlassen. Erst seit wenigen Tagen läuft die Evakuierung, an der auch deutsche Ministerien, Behörden und Hilfsorganisationen beteiligt sind. "Bis heute gab es circa 30 Evakuierungen, und weitere 20 sind in der Pipeline, so dass wir von 50 Evakuierungen sprechen, die wir derzeit durchführen," sagt Aron Schuster der DW. Er ist Direktor der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden und einer der Koordinatoren der Hilfsaktion.

Deutschland Aron Schuster von der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland
Für Aron Schuster ist die Evakuierung eine humanitäre VerpflichtungBild: Christian Thiel/imago images

Rund 400 Pflegebedürftige stünden auf der Liste. Denen wolle man helfen, wenn sie das wünschten. Insgesamt rechne man mit rund 10.000 Holocaust-Überlebenden in der ganzen Ukraine, ergänzt Schuster. Nicht wenige von ihnen haben die Qualen in Konzentrationslagern überlebt.

Flucht ins Land der Täter

Für die geretteten Überlebenden des Holocaust muss sich das absurd anfühlen. Sie müssen vor einem Angriffskrieg fliehen, der von russischer Seite, von Putin, ausgelöst wurde. Russen waren doch die Befreier im Zweiten Weltkrieg. Und dann werden sie nach Deutschland evakuiert. Ausgerechnet in das Land, das den Zweiten Weltkrieg angezettelt und unvergleichliches Leid über viele Länder und Menschen gebracht hat. Adolf Hitler wollte jüdisches Leben und Kultur auslöschen; hat systematisch sechs Millionen Juden ermorden lassen.

Sie sei einfach nur froh, jetzt in Sicherheit zu sein, sagt Larysa Sheherbyna, darauf angesprochen. Sie ist mit ihrer dementen Mutter und ihrem Sohn schon vor ein paar Tagen nach Berlin gekommen. Auch in Nazideutschland, sagt sie, "gab es Menschen, die Juden versteckt und ihr Leben riskiert haben. Deutschland ist nicht das Land, in dem es zur Nazizeit nur Faschisten gegeben hat."

Holocaustüberlebende in Deutschland
Larysa Sheherbyna (rechts) kann sich gut vorstellen, mit Sohn und Mutter länger in Deutschland zu bleibenBild: Volker Witting/DW

Für manche, sagt Aron Schuster von der jüdischen Zentralwohlfahrtsstelle, sei es schon eine "besondere Herausforderung", in das frühere Land der Täter auszureisen. Aber die meisten sind aufgrund der derzeitigen Situation in der Ukraine einfach nur dankbar, dass es diese Möglichkeit gibt.

Acht Überlebende des Holocaust - und einige Angehörige - hat Thomas Böhlke in sein Haus "Erfülltes Leben" aufgenommen. Platz sei eigentlich jetzt keiner mehr da, sagt er. "Aber irgendwie würden wir auch noch weitere Menschen unterbringen; historische Verpflichtung."

Die Geretteten wollen keine Gestrandeten in Deutschland werden, wie sie sagen. Die meisten möchten wieder zurück in ihre Heimat; in die Ukraine. Nur, was bleibt von dieser Heimat, nachdem Putins Soldaten so viel zerstört haben?

Jetzt sei sie erst einfach nur froh darüber, "dass ich hier so menschlich empfangen wurde", sagt die ehemalige Ärztin Alla Senelnikowa aus Charkiw. Und da können auch die anderen Evakuierten, die zum zweiten Mal in ihrem Leben der Hölle entkommen sind, nur mit einstimmen.

 

Volker Witting
Volker Witting Politischer Korrespondent für DW-TV und Online