1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikEuropa

Ukraine-Krieg: Der Kessel von Lyman

30. September 2022

Die ukrainische Armee steht offenbar kurz davor, eine weitere militärisch wichtige Stadt in der Ostukraine einzunehmen. Es sind entscheidende Tage vor dem Oktober-Regen.

https://p.dw.com/p/4HaZg
Sjewjerodonezk, Ukraine | Rückzug aus umkämpfter Stadt
Sjewjerodonezk im Juni: Ukrainischer Soldat kurz vor dem Rückzug. Bald könnte es umgekehrt gehenBild: Oleksandr Ratushniak/Reuters

Pünktlich zum ersten Oktober-Wochenende zieht über die Ukraine der erste Herbstregen hinweg. Zumindest über den Norden des Landes und die Hauptstadt Kiew. Die Erfahrung lehrt: Der Regen wird schnell auch die noch etwas länger mildere Witterung im Süden und am Schwarzen Meer verdrängen. Das Land ist bekannt für schnelle Wetterumschwünge zum Wechsel der Jahreszeiten.

Der Regen wird den Verlauf dieses Krieges sehr schnell verändern und darüber mitentscheiden, ob, und wenn ja, wieviel derzeit russisch besetztes Territorium die Ukraine bis Ende des Jahres zurückerobern kann. Denn der Regen sorgt im Süden und Osten für schlammige Böden, in denen Militärgerät schnell steckenbleiben kann. "Kettenfahrzeuge werden mit zunehmendem Regenfall und schlechteren Bodenbedingungen im Herbst noch wichtiger", sagt deshalb der deutsche Ukraine-Experte Nico Lange von der Münchener Sicherheitskonferenz. Für den Osteuropa-Fachmann ist aber auch klar, dass militärisch "die Ukraine weiterhin die Initiative" behalte.

Ukrainer unterbrechen russische Kommunikation bei Lyman

In den vergangenen Tagen sollen zwar erste frische russische Rekruten entlang der Frontlinie gesichtet worden sein im Zuge von Putins Mobilisierung, so Lange. Weitere ukrainische Erfolge erwarten internationale Analysten dennoch in den kommenden Wochen: Im Nordosten haben ukrainische Streitkräfte russische Soldaten in der Stadt Lyman nach und nach eingekesselt. Das bestätigt der US-Thinktank Institute for the Study of War (ISW). Die ukrainischen Streitkräfte haben eine strenge Nachrichtensperre über das militärische Geschehen an der Front verhängt. Doch es gibt viele Anzeichen, dass Kiew um das strategisch wichtige Lyman während der letzte Septemberwoche große Fortschritte gemacht hat. Das ISW analysiert unter anderem die Kommentare russischer Militärblogger.

Die ukrainischen Soldaten haben demnach offenbar "wichtige Bodenkommunikationslinien gekappt, die die russischen Truppen in der Region Drobyschewe-Lyman unterstützen", schreibt der US-Think Tank Ende September. Von Lyman aus kommen weitere Versorgungswege der russischen Armee in der russisch besetzten Region Luhansk in Reichweite ukrainischer Artillerie. Mehr noch: Militäranalysten wie Yigal Levin glauben, dass ein ukrainischer Sieg in Lyman der Anfang vom Ende der russischen Front in diesem Teil der Osturaine sein könnte. Der ehemaliger Offizier der israelischen Armee ist einer der bekanntesten Militärblogger in der Ukraine.

Infografik Karte OstUkraine Stand 28.09. DE
Ukrainische Rückeroberungen bei Lyman: Offenbar werden russische Truppen eingekesselt.

Beginn der Befreiung des Gebiets Luhansk?

Wenn die ukrainische Armee Lyman einnimmt, könnte sie weiter ins russisch besetzte Gebiet Luhansk vordringen. Das "eröffnet die Tür nach Sjewjerodonezk und Lyssytschansk", sagt Yigal Levin im Gespräch mit der DW. Diese Rückeroberung wäre von großer psychologischer Bedeutung: Russland erkämpfte beide Städte mit hohen Verlusten. Aber auch Kiew musste hohe Verluste dabei hinnehmen. Danach, so der frühere israelische Offizier, sei der Weg frei zu den Kleinstädten Swatowe und Starobilsk. "Das sind die wichtigsten logistischen Knotenpunkte Russlands an dieser Front. Würden diese beiden Orte befreit, würde praktisch die ganze Front zerfallen", so Levin.

Cherson: 20.000 russische Soldaten abgeschnitten

In der Süd-Ukraine sitzen dem Vernehmen nach wohl bis zu 20.000 russische Soldaten westlich des Flusses Dnjepr in der Regionalhauptstadt Cherson in der Falle: Durch die Bombardierungen von mindestens drei Brücken über den Fluss ist deren Versorgung schon seit dem Spätsommer schwierig – es wird für die russische Armeeführung im besetzten Süden der Ukraine nicht einfacher, wenn nun auch das Wetter auf Herbst umschwenkt. Immer mehr spricht dafür, dass sich der russische Präsident Wladimir Putin aktiv in militärische Planungen einmischt und sich gegen einen Abzug der westlich des Dnjepr verbliebenen Truppen stemmt, möglicherweise entgegen dem Rat der Armeeführung. Bereits im Sommer sollen die russischen Kommandostrukturen der 49. Russischen Armee in Cherson auf die östliche Seite des Dnjepr verlegt worden sein, heißt es aus ukrainischen und britischen Quellen. Gleichzeitig erhöht der Kreml offenbar den Einsatz um Cherson. "Ukrainische Militärs hielten sich zu den ukrainischen Bodenmanövern im Gebiet Cherson bedeckt, erklärten jedoch, dass die russischen Streitkräfte neu mobilisierte Truppen zur Verstärkung der Frontlinie im Gebiet Cherson verlegen", schreibt das ISW Ende September, während gleichzeitig "die ukrainischen Truppen weiterhin russische Nachschub-, Transport- und Militäreinrichtungen im Gebiet Cherson ins Visier" nehmen.

Raketen von Sankt Petersburg Richtung Ukraine

Und: Anscheinend versucht der Kreml nicht nur, weitere Soldaten an diese Frontlinie zu verlegen, sondern plündert offenbar schon seit Beginn der Großoffensive in der Ukraine am 24. Februar auch sein Waffenarsenal im Norden Russlands, an der NATO-Außengrenze zu den baltischen Staaten und zu Finnland. Die US-Zeitschrift "Foreign Policy" hat errechnet, dass "von den ursprünglich schätzungsweise 30.000 russischen Truppen, die einst an der Grenze zu den baltischen Ländern und zu Süd-Finnland stationiert waren, bis zu 80 Prozent in die Ukraine verlegt wurden."

Mitte September berichtete der öffentlich-rechtliche Rundfunk Yle in Finnland unter Berufung auf finnische Sicherheitskreise, dass Russland Raketen zum Schutz der zweitgrößten Stadt des Landes, Sankt Petersburg, für den Kampf gegen die Ukraine abgezogen habe.

Dass der Kreml die russischen Streitkräfte bereits an die Grenze ihrer Einsatzfähigkeit gebracht hat, vermutet auch Margarete Klein. Die Russland-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin sagt im Gespräch mit der DW, Russlands Militär habe "große Verluste durch getötete oder verletzte Soldaten". Russische Angaben, nach denen die Streitkräfte mehr als einer Million Soldaten unter Waffen hätten, sind demnach unglaubwürdig. Die reale Größe sei niedriger, sagt Klein. Viele russische Einheiten seien schon längst in der Ukraine eingesetzt worden.

Ukraine-Krieg - Sjewjerodonezk
Im Sommer mussten die Ukrainer Sjewjerodonezk aufgeben. Eine Rückeroberung wäre ein großer psychologischer Erfolg gegen Russland. Bild: Oleksandr Ratushniak/AP/dpa/picture alliance

Doch auch eine geschwächte russische Armee bietet noch viel Widerstandskraft in den besetzten Gebieten der Ukraine. Ob Kiew in diesem Herbst die Grundlagen schaffen kann für eine Rückeroberung des ganzen Landes im kommenden Jahr, hängt nicht zuletzt an den weiteren Waffenlieferungen der Ukraine-Kontaktgruppe mit 50 Staaten unter Führung der USA, aber auch auch am Nachschub.

"Wenn Sie überlegen, dass pro Tag 5000 bis 6000 Schuss Artilleriemunition mit großen Kalibern, also Granaten, die jeweils schon 40 Kilo oder mehr wiegen, verschossen werden, dann ahnt man, wie viele Lastwagen nötig sind, um diesen Nachschub aufrechtzuerhalten", sagt der SWP-Sicherheitsexperte Wolfgang Richter im DW-Gespräch.

Russland mangelt es an Kommandeuren

Allerdings, so ergänzt der Militäranalyst und ehemalige israelische Offizier Yigal Levin gegenüber der DW, mangele es vor allem Russland bei einer Ressource. Dabei könne auch die zuletzt gestartete Mobilisierung von frischen Rekruten nicht helfen. Er meint den Faktor Mensch auf russischer Seite: "Ich habe große Zweifel daran, dass diese Ressource eine große Offensive ermöglichen würde", so Levin. Russland fehle es schlicht an fähigen Kommandeuren nach sieben Monaten Ukraine-Offensive. "Ohne gute Kommandeure ist die Anzahl der Soldaten egal."

Mitarbeit: Mykola Berdnyk (Kiew)

Kippt die Stimmung gegen Putin?