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PolitikEuropa

Ukraine: Wie Russland Krankenhäuser angreift

Esther Felden | Lewis Sanders IV | Eugen Theise
7. April 2022

Seit dem Einmarsch in die Ukraine haben russische Streitkräfte dutzende Krankenhäuser angegriffen - und damit mutmaßlich Kriegsverbrechen begangen. Aber werden die Täter auch vor Gericht gestellt? Eine DW-Recherche.

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Zwei Mitarbeiter auf der Treppe vor dem Eingang des Krankenhauses von Wolnowacha - im obersten Stock ein großes Loch in der Wand
Das zerstörte Krankenhaus von WolnowachaBild: Alexander Ermochenko/REUTERS

Wo früher die Hals-Nasen-Ohren-Abteilung war, klafft seit dem 27. Februar ein riesiges Loch in der Wand. 

An diesem Tag, drei Tage nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges, wird das zentrale Distriktkrankenhaus von Wolnowacha im Osten der Ukraine zum ersten Mal beschossen. Die ganze Abteilung sei durch die heftige Explosion in der obersten Etage zerstört worden, erzählt Dr. Andriy Khadzhynov.

Der Unfallchirurg sitzt auf einer Couch vor dem Bildschirm, die Deutsche Welle erreicht ihn über Zoom. Ein durchtrainierter Mann mit kurz geschorenen Haaren, 48 Jahre alt. Statt Arztkittel trägt er ein schwarzes T-Shirt. 

Das Krankenhaus war zum Zeitpunkt des Angriffs voll mit "Ärzten, Patienten und vielen Zivilisten, die dort Schutz suchten", berichtet Khadzhynov. In der Kleinstadt Wolnowacha in der Region Donezk leben etwas mehr als 20.000 Menschen. Die Klinik ist das einzige Krankenhaus im Umkreis von gut 50 Kilometern, eine Anlaufstelle für etwa 100.000 Menschen, die im Einzugsgebiet leben.

Dass die Klinik zufällig getroffen wurde, hält der Arzt für ausgeschlossen. "Das Krankenhaus liegt auf einer Anhöhe, es ist von allen Seiten gut zu sehen." Außerdem sei es das einzige dreistöckige Gebäude in der Umgebung, die Fassade war modern und renoviert. "Es stach hervor."

Menschen auf einem Gang im Keller des Krankenhauses von Wolnowacha
Nach den Angriffen verlegten die Ärzte in Wolnowacha ihre Patienten in den Keller. Auch Zivilisten suchten hier SchutzBild: Alexander Ermochenko/REUTERS

Dem ersten Angriff folgten weitere, der schlimmste geschah in der Nacht zum 1. März. An dieser Stelle stockt Khadzhynov die Stimme.

Er habe höllische Angst gehabt. Denn als es passierte, war auch seine Familie im Krankenhaus. "Der Beschuss dauerte vielleicht 25 Minuten. Wie durch ein Wunder kam niemand ums Leben."

Verstoß gegen das Völkerrecht

Angriffe auf medizinische Einrichtungen gelten als Kriegsverbrechen und können vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag  zur Anklage kommen. Sie verstoßen gegen humanitäres Völkerrecht - unabhängig davon, ob es sich um gezielte Operationen handelt oder ein Krankenhaus wahllos beschossen wird. Zivile Kliniken dürfen "unter keinen Umständen angegriffen werden, sondern sind von den Konfliktparteien jederzeit zu achten und zu schützen", heißt es dazu in Artikel 18 der Genfer Konvention von 1949. 

Doch die Realität in Kriegen sieht anders aus.

In der Ukraine wurden seit Beginn der russischen Invasion vor sechs Wochen immer wieder medizinische Einrichtungen angegriffen, die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung ist stark gefährdet. Die Weltgesundheitsorganisation WHO zählte bis zum Abend des 6. April insgesamt 91 Angriffe auf Krankenhäuser, Arztpraxen, Ambulanzen, Rettungsdienste, Blutbanken oder Lagerhäuser für Medikamente. In den meisten Fällen kamen schwere Waffen wie Raketen, Bomben oder Mörsergranaten zum Einsatz. 

Dabei wurden mindestens 73 Menschen getötet und 77 Kliniken getroffen. 

Das sind im Schnitt zwei Angriffe auf das Gesundheitswesen pro Tag. Zahlen, die gegen Zufall oder Versehen sprechen, sondern eher darauf hindeuten, dass genau solche Angriffe vermutlich Teil der russischen Strategie sind. 

Die Deutsche Welle hat 21 Angriffe auf Krankenhäuser in der Ukraine seit dem 24. Februar analysiert. Dabei erhielt die DW Zugang zu bislang unveröffentlichten Daten des Ukrainischen Gesundheitszentrums (Ukrainian Healthcare Center, UHC), einer gemeinnützigen Organisation mit Sitz in Kiew. Das UHC teilte Fotos, Videos, Augenzeugenberichte und Koordinaten von getroffenen Kliniken. 

Infografik Karte Ukraine Angrif medizinische Einrichtungen DE

"Wir dokumentieren Angriffe auf medizinische Einrichtungen nach den Standards der Rechtsprechung internationaler Gerichte", betont der ehemalige stellvertretende ukrainische Gesundheitsminister Pavlo Kovtoniuk im Gespräch mit der DW. Er ist Mitbegründer des UHC. Ziel sei es, "dass diese Angriffe strafrechtlich verfolgt werden und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden".

Schutzstatus mit entscheidender Einschränkung

Jede Spur, jeder Hinweis kann wichtig sein: Obwohl Angriffe auf zivile medizinische Einrichtungen nach der Genfer Konvention verboten sind, können Krankenhäuser unter einer bestimmten Bedingung ihren Status als besonders geschütztes ziviles Objekt verlieren. Dann nämlich, wenn sie für militärische Zwecke genutzt werden, die "nichts mit ihrer humanitären Funktion und der medizinischen Versorgung zu tun haben", erklärt das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) auf DW-Anfrage.

Doch selbst in diesem Fall darf eine medizinische Einrichtung nicht einfach angegriffen werden. Die Voraussetzungen dafür, dass ein Krankenhaus als sogenanntes legitimes Ziel betrachtet werden darf, sind komplex.

Vor jeder militärischen Aktion müsse von der angreifenden Partei zwingend eine Warnung ausgegeben und der Gegenseite genug Zeit eingeräumt werden, mögliche kriegerische Handlungen innerhalb der Einrichtung zu stoppen, so das IKRK. Und selbst wenn das nicht erfolgt, müsse der Angreifer, "damit ein Angriff rechtmäßig ist, nachweisen, dass er alles getan hat, um Schaden von Patienten und medizinischem Personal abzuwenden oder zumindest auf ein Minimum zu beschränken".

Zerstörte Gebulinik in Mariupol: Helfer tragen verletzte Schwangere auf einer Trage durch den Schutt
Ein Bild, das nach dem Angriff auf die Geburtsklinik von Mariupol um die Welt ging: sowohl die werdende Mutter als auch ihr ungeborenes Baby überlebten das Bombardement nichtBild: Evgeniy Maloletka/AP/picture alliance

Angriff auf die Geburtsklinik von Mariupol

Nach allem, was bisher bekannt ist, geschah genau das im Fall der am 9. März bombardierten Geburtsklinik in der belagerten Hafenstadt Mariupol nicht.

Russland rechtfertigte den tödlichen Angriff auf das Krankenhaus für Frauen und Kinder unter anderem damit, dass dort angeblich Kämpfer eines ukrainischen Bataillons Stellung bezogen hätten. 

Das russische Verteidigungsministerium hat bis heute keine Beweise vorgelegt. Stattdessen haben weitere russische Quellen die Variante verbreitet, dass die Ukraine den Angriff mit verkleideten Patientinnen nur vorgetäuscht habe. 

Doch die Analyse von Satellitenaufnahmen, Fotos und Videos sowie Berichte von Augenzeugen sprechen gegen diese russischen Darstellungen. Im Krankenhaus waren nachweislich Kinder, Schwangere und junge Mütter mit ihren Babys.

Auch bei den 20 weiteren Angriffen, die die DW analysiert hat, finden sich keine Hinweise darauf, dass sich in einem der getroffenen Krankenhäuser kämpfende Truppen aufhielten oder dass sich militärische Einrichtungen in der unmittelbaren Umgebung befanden.

Strafrechtliche Verfolgung ist Sisyphusarbeit

Dass sich Konfliktparteien dennoch immer wieder auf genau diese Bedingung, unter der ein Krankenhaus seinen besonderen Schutzstatus verliert, berufen, ist nicht neu. Und hat einen einfachen Grund. Es führt "zu schwierigen Beweissituationen und langen Beweisaufnahmen", erklärt der Berliner Jurist Wolfgang Schomburg gegenüber der DW. 

Schomburg beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Zwischen 2001 und 2008 war er als erster deutscher Richter am Internationalen Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag tätig. Beim UN-Tribunal zur Aufklärung des Völkermords in Ruanda (1994) diente er parallel als Berufungsrichter.

Im Fall Mariupol scheint die Lage auf den ersten Blick einfach. "Man zeigt die Videoaufnahmen und Fotos, hört Augenzeugen an. Es ist ein bevölkertes Krankenhaus gewesen. Darauf wurde gezielt geschossen. Nirgendwo in der Nähe ist ein militärisches Objekt. Damit wäre sozusagen der Fall der Staatsanwaltschaft bereits durch." 

Doch so einfach wird es für die Ankläger nicht sein, erläutert Schomburg weiter. Denn in einer Hauptverhandlung vor einer Kammer des Internationalen Strafgerichtshofs würde es ein faires Verfahren geben: "Dazu gehört auch, die andere Seite, also den Beschuldigten, zu hören. So kann dieser viele Behauptungen zu seiner Verteidigung aufstellen und unter Beweis stellen. Beispielsweise, dass das Krankenhaus schon vorher geleert wurde und dass man sich von russischer Seite bemüht hat festzustellen, dass dort niemand mehr ist."

In diesem noch abstrakten Szenario würden viele Zeugen geladen werden. "Erst am Ende muss dann das Gericht, jenseits vernünftiger Zweifel überzeugt, einen Sachverhalt feststellen", so Schomburg. 

Dass die strafrechtliche Verfolgung solcher Fälle eine Sisyphusarbeit ist, zeigt auch der Blick in die Geschichte.

Ukraine Krieg I zerstörtes Krankenhaus in Volnovakha
Es kann zur Kriegsstrategie gehören, die Zivilbevölkerung von der gesundheitlichen Versorgung abzuschneidenBild: Maksim Blinov/SNA/IMAGO

Ex-Jugoslawien: Ernüchternder Blick in die Vergangenheit

1993 richtete die UNO das Tribunal für das ehemalige Jugoslawien zur Verfolgung von Kriegsverbrechen während der Balkankriege ein. Doch in keinem einzigen Fall kam der Angriff auf ein Krankenhaus zur Anklage.

Als dem ehemaligen serbischen Staatschef Slobodan Milosevic in Den Haag der Prozess gemacht wurde, ging es zwar auch um ein Massaker an Krankenhauspatienten in der kroatischen Stadt Vukovar. Aber der Tatvorwurf lautete damals Geiselnahme. Es ging nicht darum, dass die medizinische Einrichtung auch mehr als ein Dutzend Mal beschossen worden war.

In den vergangenen 30 Jahren wurden laut einer Studie des IKRK in Kriegen und Konflikten tausende medizinische Einrichtungen angegriffen, nicht nur während der Balkankriege der 1990er Jahre, sondern auch in Afghanistan oder im Jemen und vor allem in Syrien.

Tatsächlich aber gab es nach DW-Recherchen in dieser Zeit keinen einzigen erfolgreichen internationalen Versuch, Angriffe auf Krankenhäuser auch strafrechtlich zu verfolgen.

Terrorakt statt Kriegsverbrechen?

Doch das internationale Recht habe sich inzwischen weiterentwickelt, glaubt Mark Somos, Professor am Max-Planck-Institut für Völkerrecht in Heidelberg. 

So sei es denkbar, Angriffe auf Krankenhäuser künftig auf anderer juristischer Grundlage zu verhandeln und sie als Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder als Terrorakt einzustufen. "Dann kann die Inkohärenz der Gesetze, die für Kämpfer und für Zivilisten gelten, nicht mehr missbraucht werden, um zu argumentieren, dass ein funktionierendes Krankenhaus jemals ein legitimes Ziel sein könnte."

Auch Wolfgang Schomburg glaubt an eine mögliche juristische Aufarbeitung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Ukraine, was Angriffe auf Krankenhäuser und Zivilisten, zivile Wohngebäude, Kirchen oder Kulturgüter einschließen könnte.

Dabei könnten zunächst Soldaten mit niedrigen Rängen auf der Anklagebank sitzen. Vom "direkten Täter", der geschossen hat und mit einer relativ milden Strafe davonkommt, etwa, weil er einem Befehl gefolgt ist, könne man sich dann in der Hierarchie bis ganz nach oben vorarbeiten. Richtung Hauptverantwortliche, schließlich Richtung Präsident Putin. "Auch er genießt vor dem Internationalen Strafgerichtshof keine Immunität." 

Den Haag | Internationaler Strafgerichtshof | Ratko Mladic
Der ehemalige Militärchef der bosnischen Serben, Radko Mladic, wurde in Den Haag wegen Völkermord verurteiltBild: Peter Dejong/AP/picture alliance

Im Fall Ex-Jugoslawien war diese Herangehensweise erfolgreich. Dort gelang es – wenn auch mehr als 20 Jahre nach Ende des Bosnien-Krieges – führende politische Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen. Slobodan Milosevic starb noch während des Prozesses. Aber sowohl Ex-Serben-Führer Radovan Karadzic als auch der ehemalige General Ratko Mladic wurden zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt, unter anderem wegen Völkermord.

Erst durch die Aussagen in vorangegangenen Prozessen sei es gelungen, die nötigen Beweise zu sammeln, um ein "Gebäude der Verantwortlichkeit" darzustellen, das es ermöglichte, den "Vorwurf auch gegen ein früheres Staatsoberhaut oder führende politische Personen" herauszuarbeiten, so Wolfgang Schomburg.

Keine Antwort aus Moskau

Nach den Angriffen auf das Distriktkrankenhaus von Wolnowacha versuchten Dr. Andriy Khadzhynov und seine Kollegen, die Versorgung der Patienten notdürftig aufrecht zu erhalten. Kranke und Verwundete wurden im Keller behandelt, ohne Heizung, ohne fließendes Wasser, ohne Strom.

Sechs Babys wurden unter diesen Umständen geboren.

Ukraine Krieg I zerstörtes Krankenhaus in Volnovakha
Traumachirurg Khadzhynov hat das zerstörte Krankenhaus verlassen und ist mit seiner Familie aus Wolnowacha geflohen Bild: Mikhail Tereshchenko/ITAR-TASS/IMAGO

Inzwischen ist Wolnowacha von russischen Truppen und Separatisten besetzt. Unfallchirurg Khadzhynov ist mit seiner Frau und seinen Kindern geflohen.

Im Internet kursiert ein Video des russischen Staatsfernsehens. Ein Reporter mit Schutzhelm und -weste steht vor dem zerstörten Krankenhaus von Wolnowacha und spricht von einer Inszenierung: Die ukrainische Nationalgarde hätte in der Klinik einen Stützpunkt unterhalten, Ärzte seien als Geiseln im Keller gehalten worden und tatsächlich hätten "undankbare ukrainische Soldaten" das Krankenhaus mit einem Panzer beschossen.

Der geflohene Arzt kennt das Video und kommentiert knapp: "Das ist alles Schwachsinn." Es hätten sich keine bewaffneten Personen auf dem Gelände des Krankenhauses aufgehalten. Seit dem 1. März hätte die Klinik aus Kapazitätsgründen sogar verwundete Soldaten abweisen müssen. 

Die Deutsche Welle hat mehrfach beim russischen Verteidigungsministerium um eine Stellungnahme zu den Angriffen auf das Krankenhaus von Wolnowacha und andere medizinische Einrichtungen gebeten. Bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung blieben die Anfragen unbeantwortet.

Mitarbeit: Emily Sherwin und Birgitta Schülke
Redaktion: Sandra Petersmann