Ukraine Aktuell: Selenskyj im französischen Parlament
23. März 2022Das Wichtigste in Kürze:
- Selenskyj wendet sich an französisches und japanisches Parlament
- Putin will Rubel für Gas
- Deutschland schickt Luftabwehrraketen in die Ukraine
- NATO kündigt Verstärkung der Ostflanke an
- Menschenrechtler sprechen von "Höllenlage" in Mariupol
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat in einer Videoansprache vor dem französischen Parlament mehr Druck auf Russland gefordert. Selensky appellierte in seinem Auftritt aus Kiew an französische Firmen, Russland zu verlassen und damit aufzuhören, einen Krieg zu finanzieren. Die Ukraine erwarte zudem, dass noch während der französischen Ratspräsidentschaft in der EU bis Ende Juni eine Entscheidung über ihren Beitrittsantrag falle. Selenskyj sprach von einer historischen Entscheidung zu einem historischen Moment.
Selenskyj betonte im Parlament erneut, dass es in dem Krieg nicht nur um sein eigenes Land gehe. Er sprach von der Überzeugung, die gemeinsame Freiheit für Paris und Kiew zu verteidigen. Die Senatoren und Abgeordneten erhoben sich zu seinen Ehren von ihren Plätzen. In den Kammern wehten ukrainische Flaggen. Auf Bitten Selenskyjs hielt das Parlament eine Schweigeminute für die Menschen ab, die im Krieg getötet wurden. Der ukrainische Präsident hat seit Kriegsbeginn schon vor mehreren Parlamenten per Videobotschaft gesprochen, so auch am Morgen in Tokio.
Er forderte Japan zu einem Handelsembargo gegen Russland auf. So solle der Sanktionsdruck erhöht werden, sagte Selenskyj. Er dankte Japan dafür, dass es mit der Verurteilung der russischen Invasion und dem Verhängen von Sanktionen unter den asiatischen Ländern eine Vorreiterrolle eingenommen habe. China und Indien haben den russischen Einmarsch bisher nicht verurteilt.
"Massaker" und "Kriegsverbrechen"
Frankreich und die USA haben die russische Kriegsführung in der Ukraine mit deutlichen Worten verurteilt. "Die Städte Kiew, Mariupol und Mykolajiw werden wie so viele andere von der russischen Armee belagert und gnadenlos beschossen. Es ist ein Massaker, und das Schlimmste steht noch bevor", sagte der französische UN-Botschafter Nicolas de Rivière vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York.
Die US-Regierung wirft russischen Truppen in der Ukraine nun auch offiziell Kriegsverbrechen vor. "Heute kann ich bekanntgeben, dass die US-Regierung auf Grundlage der derzeit verfügbaren Informationen zu der Einschätzung gelangt, dass Mitglieder der russischen Streitkräfte in der Ukraine Kriegsverbrechen begangen haben", sagte US-Außenminister Antony Blinken. "Unsere Einschätzung stützt sich auf eine sorgfältige Prüfung der verfügbaren Informationen aus öffentlichen und geheimdienstlichen Quellen."
Rubel für Gas
Für Gaslieferungen aus Russland müssen Kunden in Deutschland und anderen EU-Staaten künftig in Rubel bezahlen. Der russische Präsident Wladimir Putin wies die Regierung an, keine Zahlungen in Dollar oder Euro mehr zu akzeptieren. Die Lieferungen würden weiter in vollem Umfang gewährleistet, versicherte der Kremlchef in einer Videokonferenz der Regierung, die im Staatsfernsehen übertragen wurde. Eine Zahlung für russische Waren in Devisen habe ihren Sinn verloren. Betroffen sind demnach die von Russland auf einer schwarzen Liste festgehaltenen "unfreundlichen Staaten". Dazu gehören Deutschland und alle anderen EU-Staaten, aber etwa auch die USA, Kanada und Großbritannien. Putin nannte eine Übergangsfrist von einer Woche.
Waffenlieferungen aus Deutschland
Deutschland liefert nach Angaben von Außenministerin Annalena Baerbock derzeit weitere Luftabwehrraketen vom Typ Strela an die Ukraine. "Die weiteren Strela-Lieferungen sind auf dem Weg", sagte die Grünen-Politikerin im Bundestag. Die Ukraine hat bisher von Deutschland 500 Strela-Luftabwehrraketen erhalten. Ursprünglich war von bis zu 2700 die Rede. Baerbock betonte nun: "Wir sind einer der größten Waffenlieferer in dieser Situation. Das ist nichts, was uns stolz macht, sondern das ist das, was wir jetzt tun müssen, um der Ukraine zu helfen."
Zuvor hatte sich Grünen-Chef Omid Nouripour dafür ausgesprochen, mehr Waffen in die Ukraine zu liefern. "Es ist eindeutig so, dass mehr kommen muss, und es ist eindeutig, dass jede einzelne Anforderung geprüft wird", sagte Nouripour bei RTL/n-tv. Er könne versichern, dass das nach bestem Wissen und Gewissen erfolge, in der Balance zwischen Beistand und dem Vermeiden einer Entgrenzung des Krieges. Aber: Nicht jeder Wunsch sei erfüllbar, so der Grünen-Politiker. "Es ist einfach nicht so, dass U-Boote auf Bäumen wachsen und man sie einfach runterpflücken muss und rüberreichen kann."
NATO kündigt weitere Stärkung der Ostflanke an
Die NATO will ihre Ostflanke zur Abschreckung Russlands mit vier weiteren Gefechtsverbänden verstärken. Wie Generalsekretär Jens Stoltenberg in Brüssel mitteilte, sind als Standorte für die sogenannten Nato-Battlegroups die Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien vorgesehen.
Unterdessen hat der Kreml vor einer möglichen NATO-Friedensmission in der Ukraine gewarnt. "Das wäre eine sehr unbedachte und äußerst gefährliche Entscheidung", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Agentur Interfax zufolge. In der Ukraine laufe derzeit eine "militärische Spezial-Operation", sagte Peskow - so wird der Krieg von Moskau offiziell genannt. "Und jedes mögliche Aneinandergeraten unserer Soldaten mit Soldaten der NATO kann durchaus nachvollziehbare, schwer zu behebende Folgen haben."
Polen will beim NATO-Gipfel an diesem Donnerstag in Brüssel seinen Vorschlag für eine Friedensmission in der Ukraine offiziell einbringen. Der Vorstoß stieß im Kreis der NATO-Partner allerdings bislang auf ein geteiltes Echo.
Kremlsprecher Peskow sagte darüber hinaus, dass ein mögliches Eingreifen von anderen Mitgliedern des von Russland dominierten Militärbündnisses nicht diskutiert werde. Die Ukraine hat wiederholt die Sorge geäußert, dass sich etwa Belarus, das der sogenannten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) angehört, mit eigenen Truppen am Krieg beteiligen könnte.
"Höllenlandschaft" in Mariupol
In der Ukraine haben die russischen Streitkräfte den Beschuss ukrainischer Städte nochmals verstärkt. Unter anderem schlugen in der belagerten Hafenstadt Mariupol nach Angaben der Stadtverwaltung zwei "extrem starke Bomben" ein.
"Es ist klar, dass die Belagerer sich nicht für die Stadt interessieren, sie wollen sie auslöschen, in Asche verwandeln", erklärte die Stadtverwaltung von Mariupol. Die beiden besonders starken Bomben seien während einer Evakuierungsaktion eingeschlagen.
In Mariupol sind nach Behördenangaben noch mehr als 200.000 Menschen eingeschlossen. Die Lage ist nach wochenlangem russischem Beschuss und Belagerung dramatisch. Bewohner, denen die Flucht gelang, berichteten nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch von einer "eiskalten Höllenlandschaft voller Leichen und zerstörter Gebäude".
Kein Wasser, keine Nahrung, kein Strom
Tausende Menschen harren den Angaben zufolge in unterirdischen Räumen aus - ohne Wasser, Nahrung, Strom und Kommunikationsmöglichkeiten. Nach Angaben des von Human Rights Watch zitierten stellvertretenden Bürgermeisters starben in Mariupol bisher mehr als 3000 Zivilisten. In die strategisch wichtige Hafenstadt sind bereits russische Panzer vorgedrungen, vollständig erobert wurde sie aber von den Angreifern noch nicht.
Kontrolle über Fernstraße M 14 von Odessa bis Rostow als ein Kriegsziel
Mit einer Eroberung von Mariupol will Russland nach eigenen Angaben eine sichere Landverbindung auf die annektierte Schwarzmeer-Halbinsel Krim schaffen. Sobald das russische Militär die wichtige Fernstraße M14 unter Kontrolle habe, sei die Krim wieder zuverlässig über einen Transportkorridor mit den ostukrainischen Separatistengebieten Donzek und Luhansk verbunden, sagte der stellvertretende Beauftragte von Präsident Wladimir Putin für den Föderationskreis Südrussland, Kirill Stepanow, der Staatsagentur Ria Nowosti. Die M14 führt vom südwestukrainischen Odessa, das bereits Ziel russischer Angriffe war, über das umkämpfte Mykolajiw und das von russischen Truppen besetzte Cherson nach Mariupol und von dort über die russische Grenze in die Großstadt Rostow am Don.
Die Ukraine hatte nach der russischen Annexion der Krim 2014 die Eisenbahnlinien auf die Halbinsel geschlossen. "Wir sind zuversichtlich, dass alle Transport- und Eisenbahnlinien zwischen der Krim und dem von 'Nationalisten' befreiten Gebiet Cherson in naher Zukunft vollständig wiederhergestellt sein werden", sagte Stepanow. Auch der Weg durch das Gebiet Cherson nach Odessa sei bald wieder möglich.
Angriffe des russischen Militärs werden auch im Umkreis der Stadt Riwne im Nordwesten der Ukraine gemeldet. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Moskau wurden dabei mehr als 80 Kämpfer der ukrainischen Seite auf dem Truppenübungsplatz Nowa Ljubomyrka bei einem Raketenangriff getötet. Die Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen.
"Schwierig, manchmal skandalös"
Ungeachtet der Kampfhandlungen bemüht sich der ukrainische Präsident Wolodymir Selenskyj weiter um Verhandlungen mit Russland. "Sie sind sehr schwierig, manchmal skandalös, aber wir bewegen uns Schritt für Schritt vorwärts", sagte Selenskyj in einer in der Nacht zum Mittwoch verbreiteten Videoansprache.
Vertreter der Ukraine seien tagtäglich bei den Verhandlungen im Einsatz. "Wir werden arbeiten, wir werden so viel wie möglich kämpfen. Bis zum Ende. Mutig und offen." Die Unterhändler seien unermüdlich im Einsatz. "Ausruhen können wir uns, wenn wir gewonnen haben."
NATO lädt Selenskyj zu Videoschalte ein
Der ukrainische Präsident erhielt unterdessen eine Einladung, sich am Donnerstag per Video an die Staats- und Regierungschefs der NATO-Mitglieder zu richten. Die Teilnehmer des Sondergipfels könnten "Selenskyj dann direkt über die katastrophale Situation sprechen hören, in der sich das ukrainische Volk wegen der Aggression Russlands befindet", sagte ein Vertreter des Verteidigungsbündnisses.
Die Allianz liefere der Ukraine bereits "eine bedeutende Menge an wichtiger Militärausrüstung", hieß es weiter. Die Mitgliedsstaaten wollten auf dem Gipfel prüfen, was sie "zusätzlich tun können", um ihre Unterstützung zu verstärken.
Geprägt wird der NATO-Gipfel von der Sorge der 30 Bündnispartner vor einer Eskalation im Ukraine-Krieg. Die NATO wies wiederholt Selenskyjs Forderung nach Einrichtung einer Flugverbotszone über der Ukraine zurück, da dies ein aktives Eingreifen der NATO in den Krieg bedeuten würde.
Putin will an G20-Gipfel teilnehmen
Polen hat vorgeschlagen, Russland aus der G20-Gruppe der wichtigsten Industrienationen auszuschließen. Bundeskanzler Olaf Scholz sagte, dass die Suche nach einer Waffenruhe Vorrang habe. In G20-Kreisen wird zudem mit einem Veto wichtiger Mitglieder wie China oder Indien gegen einen Ausschluss gerechnet. Polen selbst gehört nicht der G20-Gruppe an.
Nach Angaben der russischen Botschaft in Jakarta plant der russische Präsident Wladimir Putin, im Oktober am G20-Gipfel teilzunehmen. Indonesien hat in diesem Jahr den G20-Vorsitz. Bei der Welthandelsorganisation (WTO) hieß es, zahlreiche Delegationen weigerten sich derzeit, mit der russischen Delegation zusammenzuarbeiten.
"Wir sehen nur den Machtapparat"
Die prominente russische Journalistin Schanna Agalakowa hat nach mehr als 20 Jahren beim Staatsfernsehen die Kremlpropaganda als lebensfern verurteilt. Im russischen Fernsehen werde nur noch die Geschichte von Kremlchef Putin und Leuten aus seinem Umfeld erzählt. "Wir sehen nur den Machtapparat", sagte die langjährige Frankreich-Korrespondentin des russischen Ersten Kanals, die den Sender wegen Putins Krieg gegen die Ukraine verlassen hat.
Der Machtapparat habe die unabhängigen Medien erstickt, viele kämpften aber weiter. "Das sind mutige, unglaublich kühne, tapfere Menschen, die ich unendlich schätze", sagte die 56-Jährige, die in Russland wegen ihrer Berichterstattung aus Frankreich eine Berühmtheit ist. Das Wesen der Propaganda in den russischen Staatsmedien hingegen sei es, Fakten zu verdrehen und ein lügenvolles Gemisch zu produzieren. "Ich möchte, dass die Menschen nicht weiter zu Zombies gemacht werden." Agalakowa äußerte sich am Dienstag bei einem Auftritt in Paris bei der Organisation Reporter ohne Grenzen.
Faeser: "Wir sind viel besser aufgestellt"
Bundesinnenministerin Nancy Faeser forderte unterdessen eine faire Verteilung ukrainischer Flüchtlinge in der EU. Zugleich wies sie Forderungen nach einer besseren Koordinierung durch den Bund zurück. "Seit dem ersten Tag des Krieges koordinieren wir die Aufnahme und Versorgung der Geflüchteten sehr eng mit den Ländern", sagte die SPD-Politikerin dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.
Erst am vergangenen Donnerstag habe Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) erneut mit den Ministerpräsidenten über das Thema beraten. Integrations- und Sprachkurse würden bereits geöffnet, medizinische Versorgung und Arbeitsmarktzugang ermöglicht. "Wir sind viel besser aufgestellt als wir es bei früheren Fluchtbewegungen waren."
Es habe nun absolute Priorität, für eine faire Verteilung in der gesamten EU zu sorgen, sagte Faeser. Zudem kündigte sie an, am Donnerstag mit den Innenministern der G7-Staaten darüber zu sprechen, "wie Geflüchtete auch in Staaten außerhalb der EU wie Kanada, den USA und Japan Schutz finden können".
Linksfraktion: Schnellere Asylentscheidungen für Deserteure
Wegen des Ukraine-Krieges fordert die Linksfraktion für russische Deserteure schnellere Asylentscheidungen in Deutschland. Es sei inakzeptabel, dass ein Asylverfahren für russische Staatsbürger etwa ein Jahr und damit doppelt so lange wie ein durchschnittliches Verfahren dauere, kritisierte die Bundestagsabgeordnete Clara Bünger in der "Neuen Osnabrücker Zeitung". Die Betroffenen gingen hohe persönliche Risiken ein, wenn sie sich "einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg entziehen".
Unterdessen steigen die Zahlen russischer Asylbewerber - wenn auch noch auf niedrigem Niveau - deutlich. Von Jahresbeginn bis zum 9. März stellten insgesamt 450 Russen einen Asylantrag in Deutschland, zuletzt mit stark steigender Tendenz. Dies geht aus einer Statistik des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hervor, aus der die Linksfraktion zitiert.
"Bitte keine Hamsterkäufe"
Bundesernährungsminister Cem Özdemirhat an die Bürger appelliert, wegen des Ukraine-Kriegs und steigender Preise beim Einkauf nicht in Panik zu verfallen und womöglich unnötig Vorräte anzulegen. "Bitte keine Hamsterkäufe, dafür besteht kein Anlass. Wir haben die Versorgung sichergestellt", sagte der Grünen-Politiker in der Sendung "RTL Direkt". Er habe gerade mit Vertretern des Handels gesprochen. "Und auch die haben sehr klar gesagt, wir haben die Lage im Griff, die Versorgung ist sichergestellt!"
Zuvor hatte sich auch schon der Vizepräsident des Handelsverbands Deutschland (HDE), Björn Fromm, im ZDF ähnlich geäußert. Trotz des russischen Ausfuhrstopps für Getreide werde es mittelfristig kein Problem mit der Getreideversorgung in Deutschland geben.
Entwicklungsministerin will mehr Geld
Entwicklungsministerin Svenja Schulze hat angesichts des Krieges in der Ukraine mehr Geld für ihr Ressort gefordert. "Wenn man sich die Folgen dieses schrecklichen Kriegs vor Augen führt, kann es gar nicht beim jetzigen Entwicklungsetat bleiben", sagte die SPD-Politikerin der "Augsburger Allgemeinen". Die Herausforderungen würden nicht kleiner, sondern größer.
Als Beispiel nannte sie das Thema Welternährung: Russland und die Ukraine bedienten zusammen 30 Prozent aller Weizen- und 20 Prozent der Maisexporte. Das Welternährungsprogramm habe bislang die Hälfte seiner Weizen-Lieferungen aus der Ukraine bezogen. "Die Welt läuft auf neue Hungersnöte zu. Mit steigenden Preisen drohen auch wieder Brotaufstände, wie vor elf Jahren im arabischen Raum, und damit eine neue Welle der Instabilität", sagte Schulze.
fab/nob/haz/rb (dpa, afp, rtr, ap, kna)
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