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Politik

Abschiebung trotz Folter?

Marina Baranovska
19. Januar 2022

Einem Tschetschenen, der die Entführung seines Bruders miterlebt hat und zuvor selbst Folteropfer geworden war, droht die Abschiebung aus Deutschland. Aus Angst um sein Leben wandte er sich an die DW.

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Deutschland Symbolbild Asylantrag
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat den Asylantrag von Ahmed Seriev abgelehntBild: C. Ohde/blickwinkel/McPHOTO/picture alliance

Ahmed Seriev verließ Tschetschenien, nachdem tschetschenische Sicherheitskräfte nachts in das Haus seiner Familie eingebrochen waren und seinen Bruder Magomed vor seinen Augen entführt hatten. Der russischen Zeitung "Nowaja Gaseta" zufolge gehörte Magomed zu mindestens 27 Personen, die vermutlich in der Nacht auf den 26. Januar 2017 in der autonomen russischen Teilrepublik Opfer einer massenhaften außergerichtlichen Hinrichtung geworden sind.

Im Dezember 2017 befanden sich der damals 19-jährige Ahmed und seine Mutter in Deutschland auf Durchreise und baten um Asyl. Aber sowohl das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als auch die Gerichte lehnten ihre Anträge ab, letztmalig ohne das Recht auf Berufung. Jetzt wird der Fall vor dem Bundesverfassungsgericht geprüft; wenn die Richter den Vorinstanzen folgen, dann werden Ahmed und seine Mutter unverzüglich nach Russland abgeschoben.

Die Ereignisse, die Ahmed miterlebt hat, machen ihn für die tschetschenischen Behörden zu einem unerwünschten Zeugen. Aus Angst, er könnte entführt, gefoltert und sogar getötet werden, wenn er nach Tschetschenien zurückkehrt, entschied sich Ahmed Seriev, der DW zu erzählen, was er durchgemacht hat, in der Hoffnung, ein Aufschrei der Öffentlichkeit könnte ihm helfen, zumindest am Leben zu bleiben.

"Nowaja Gaseta" veröffentlichte "Abschussliste"

Über jene außergerichtliche Massenhinrichtung - vermutlich in der Nacht vom 25. auf den 26. Januar 2017 in Grosny - berichtete erstmals die "Nowaja Gaseta" im Juli desselben Jahres. Zuvor hatte die Zeitung, die gerade Fällen von Verfolgung, Folter und Ermordung Homosexueller in Tschetschenien nachging, von einer Quelle innerhalb des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB) in Tschetschenien eine Liste mit Fotos und Namen von mehr als 20 Tschetschenen erhalten, die im Dezember 2016 und Januar 2017 während einer Sonderoperation festgenommen worden waren.

Wie die "Nowaja Gaseta" feststellte, gab es weder eine Anklage noch eine offizielle Inhaftierung. Die Festgenommenen wurden in Hinterzimmer und Zellen von Polizeidienststellen gesteckt und anschließend in der Kaserne des 2. Regiments der Achmat-Kadyrow-Sondereinheit der Polizei hingerichtet. Auf der "Abschussliste" stand auch der Name Magomed Seriev, der Bruder von Ahmed.

Was führte zu den Festnahmen im Dezember 2016?

Zu der großen Operation der tschetschenischen Sicherheitskräfte im Dezember 2016 kam es, nachdem eine Gruppe Jugendlicher in Grosny am 17. Dezember einen Polizisten ermordet hatte. Die Angreifer raubten sein Auto und fuhren während der anschließenden Verfolgungsjagd einen Verkehrspolizisten tot. Drei der Täter wurden noch auf der Stelle erschossen, drei weitere wurden verwundet, festgenommen und in ein Krankenhaus gebracht.

Am 20. Dezember berichteten lokale Medien unter Berufung auf Daten des regionalen Innenministeriums, dass zwei der Festgenommenen, Ismail Bergaev und Sahab Yusupov, im Krankenhaus an ihren Verletzungen gestorben seien. Den forensischen Untersuchungen zufolge soll der "biologische Tod" durch Schusswunden am Kopf eingetreten sein.

Insgesamt nahmen die tschetschenischen Sicherheitskräfte nach der Ermordung jenes Polizisten laut "Nowaja Gaseta" im Dezember 2016 und Januar 2017 rund 200 Personen fest - darunter auch Magomed Seriev.

Gegenüberstellung mit einem "Toten"

Am 25. Dezember 2016 suchten tschetschenische Sicherheitskräfte das Haus der Serievs auf. Sie führten Ahmed aus dem Haus und setzten ihn in einen Mercedes, in dem ein junger Mann mit blauen Flecken und einem geschwollenen Auge saß. "Sie wollten wissen, ob wir uns kennen. Er sagte, er kenne mich nicht, und ich kannte ihn auch nicht. Dann holten sie mich wieder aus dem Auto, sagten mir, dass ich Tschetschenien nicht verlassen solle und dass sie wiederkommen würden", erzählt Ahmed.

Später kamen unabhängige Recherchen der "Nowaja Gaseta" zu dem Ergebnis, dass der verprügelte Mann Ismail Bergaev war, der nach offiziellen Angaben am 20. Dezember im Krankenhaus seinen Verletzungen erlegen sein soll. Die Recherchen ergaben, dass beide erst später, in der Nacht auf den 26. Januar 2017, in jener Kaserne des 2. Regiments der Achmat-Kadyrow-Sondereinheit der Polizei ermordet wurden.

"Nach Syrien zum Islamischen Staat"

Nach der Festnahme von Magomed Seriev wandten sich seine Eltern, wie die Angehörigen anderer Vermisster auch, immer wieder an verschiedene tschetschenische Behörden, um herauszufinden, wo sich ihre Angehörigen befänden - doch ohne Erfolg. 

Russland | Stadtansicht von Grosny
Stadtansicht von Grosny, Hauptstadt der russischen Teilrepublik TschetschenienBild: Alexander Nemenov/AFP/Getty Images

Im Juni 2017 schrieb seine Mutter an den tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow. Eine Kopie des Schreibens liegt der DW vor. Darin bittet sie um Hilfe bei der Klärung des Schicksals vermisster Angehöriger. Daraufhin bekam sie Besuch von der tschetschenischen Polizei. "Meine Mutter wurde zur Abteilung des Innenministeriums im Bezirk Schali gebracht. Ihr wurde befohlen, nicht weiter nach Magomed zu suchen. Sie solle daran denken, dass sie noch einen weiteren Sohn habe. Auch mein Vater wurde wiederholt zur Abteilung des Innenministeriums im Bezirk Schali gebracht und aufgefordert, Papiere zu unterschreiben, wonach mein Bruder nach Syrien gefahren sei, um auf Seiten des Islamischen Staats zu kämpfen. Meinem Vater wurde gedroht, man werde sonst mich zur Unterschrift zwingen. Mir war klar, dass man uns nicht in Ruhe lassen wird, und ich beschloss, Russland zu verlassen", sagt Ahmed.

Die Angst um sein Leben wurde noch dadurch verstärkt, dass er bereits im Dezember 2015 als 17-Jähriger Entführung und Folter erlebt hatte. Damals, erzählt er, sei er festgenommen und ohne Anklage in die Kaserne des 2. Regiments der Achmat-Kadyrow-Sondereinheit der Polizei gebracht worden. Dort, berichtet er, sei er fünf Stunden lang gefoltert worden. Er sei mit einem Rohr geschlagen und in einen Keller gebracht worden, wo sich bereits andere Festgenommene befanden.

Dort wurden sie über zwei Monate festgehalten und am 6. März 2016 unerwartet freigelassen, angeblich auf Befehl von Ramsan Kadyrow, als "Geschenk" für deren Mütter anlässlich des Internationalen Frauentags am 8. März. Dieser Vorfall wurde erst im vergangenen Jahr öffentlich bekannt, als die "Nowaja Gaseta" einen Zeugen des außergerichtlichen Massakers interviewt hatte.

EGMR spricht Russland wegen Massenhinrichtung schuldig

Ende 2019 reichten 15 Angehörige von fünf entführten Tschetschenen mit Unterstützung von Anwälten des in Moskau ansässigen Rechtsbeistandsprojekts "Justice Initiative" Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein.

Am 14. Dezember 2021 entschied der EGMR, dass die Weigerung der russischen Behörden, dieses Verbrechen objektiv zu untersuchen, gegen Artikel 13 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstößt. Der Gerichtshof stellte auch fest, dass die Angehörigen der Beschwerdeführer entführt und rechtswidrig ihrer Freiheit beraubt worden waren (Artikel 5 der Konvention) und dass ihr Recht auf Leben verletzt worden war (Artikel 2 der Konvention).

Darüber hinaus befand der EGMR, dass Artikel 3 der Konvention in Bezug auf die Beschwerdeführer verletzt worden sei. Er setzte "das Leiden, das diese Menschen im Zusammenhang mit dem Verschwinden ihrer Angehörigen erlitten haben, und die fehlende Möglichkeit, eine Untersuchung der Todesfälle zu erreichen", mit "Folter und Misshandlung durch Staatsbedienstete" gleich.

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) – Menschen vor dem Eingang
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in StraßburgBild: DW/D.Grathwohl

Eine weitere Sammelbeschwerde, zu deren Beschwerdeführern Ahmed Seriev gehört, wird derzeit vom EGMR geprüft, eine Entscheidung darüber ist noch nicht gefallen.

"Kein Risiko von Folter und außergerichtlicher Hinrichtung" - Stimmt das?

Neben Ahmed Seriev und seiner Mutter gibt es in Deutschland zwei weitere Familien, deren Angehörige in der Nacht zum 26. Januar 2017 vermutlich hingerichtet wurden. Beiden haben die deutschen Behörden Asyl gewährt. Die Ablehnung von Serievs Antrag begründen die deutschen Gerichte damit, dass bei einer Rückkehr nach Russland "kein Risiko von Folter und außergerichtlicher Hinrichtung" bestehe, da Ahmed Tschetschenien 2017 ungehindert habe verlassen können. Anwältin Olga Gnesdilowa von der "Russischen Rechtsinitiative" weist dies zurück.

"Seit Ahmed Seriev Tschetschenien verlassen hat, hat sich die Sache weiterentwickelt: Es liegt eine Entscheidung des EGMR vor, in der festgestellt wird, dass Russland keine ordnungsgemäße Untersuchung durchgeführt hat; es gibt einen von 16 OSZE-Teilnehmerstaaten initiierten 'Moskauer Mechanismus', der auch Dokumente und Beweise sammelt und eine Untersuchung durchführt", erklärt sie.

Ahmed Serievs Aussagen über das Treffen mit Ismail Bergaev in jenem Polizei-Mercedes widerlegen laut der Anwältin die offizielle Version, wonach Bergaev an Schussverletzungen gestorben sei. Sie können zur Grundlage für die Wiederaufnahme einer Überprüfung werden. "All dies erhöht die Gefahr für Ahmed als unerwünschten Zeugen erheblich, und dass er 2017 Tschetschenien verlassen durfte, bedeutet nicht, dass er 2022 nicht getötet werden könnte", betont Gnesdilowa.

"In Russland sind Tschetschenen an keinem Ort sicher"

In der Ablehnung des Asylantrags für Ahmed Seriev heißt es auch, sollte ihm in Tschetschenien Gefahr drohen, dann könnte er in einer anderen Region Russlands leben. Wenn die tschetschenischen Behörden jedoch nach einer Person suchen würden, so Gnesdilowa, dann "ist es egal, wo sie sich aufhält, in Moskau oder einer anderen russischen Region, sie wird trotzdem gefunden und nach Tschetschenien zurückgebracht, und dann wird niemand wissen, was mit ihr passiert".

Dass es in Russland keinen sicheren Ort für einen Tschetschenen gibt, den die tschetschenischen Behörden suchen, bestätigt der DW auch ein Kollege aus der Redaktion der "Nowaja Gaseta", der nicht namentlich genannt werden will: "Es gibt keinen Schutz für Tschetschenen in Russland, wenn die tschetschenischen Behörden sie nach Tschetschenien zurückholen wollen. In diesen Fällen werden die Entscheidungen in Tschetschenien getroffen und alle Strafverfolgungs- und Justizbehörden in Russland arbeiten Tschetschenien zu. Alle russischen Polizisten jagen auch Tschetschenen, was absolut bewiesen ist", sagt der Gesprächspartner der DW.

Er kennt viele Fälle, bei denen Tschetschenen von tschetschenischen Polizisten aus verschiedenen Regionen Russlands entführt wurden. Einige von ihnen seien nach ihrer Ankunft in Tschetschenien gefoltert und zu langen Haftstrafen verurteilt worden, andere seien verschwunden und wahrscheinlich getötet worden.

Die DW bat das Bayerische Verwaltungsgericht Bayreuth, das ein endgültiges Urteil im Fall Seriev gefällt hatte, sich zur Ablehnung des Asylantrags zu äußern. Seitens des Gerichts heißt es: "Bereits im erstinstanzlichen Urteil vom 20.11.2020 hat das Gericht dazu ausgeführt, dass eine (damals beabsichtigte) Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht zu einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung des Klägers in der Russischen Föderation führen wird. Zudem ging das Gericht bereits in dieser Entscheidung davon aus, dass Herr Seriev nicht derart heraussticht, dass ihm eine Verfolgung in der gesamten Russischen Föderation drohen würde."

Für die "Rule 39" des EGMR könnte zu wenig Zeit bleiben

Im Dezember 2021 reichte die Verteidigung von Ahmed Seriev beim EGMR einen Antrag ein mit der Bitte, seine Abschiebung auf der Grundlage der "Rule 39" des EGMR auszusetzen. Mit ihrer Hilfe kann das Straßburger Gericht einem Staat verbieten, eine Person in ein Land abzuschieben, wo ihrem Leben Gefahr droht. In der Antwort des Gerichts heißt es, der EGMR sei bereit, die Möglichkeit der Anwendung der "Rule 39" zu erwägen, falls das Bundesverfassungsgericht die Entscheidung zur Auslieferung nicht aufhebe, sagt Olga Gnesdilowa.

Doch dieses letzte Mittel der Verteidigung könnte nicht funktionieren. "Zwischen einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und der Abschiebung vergehen oft nur wenige Stunden: Das Gericht informiert das Innenministerium und die Person wird sofort zum Flughafen gebracht und ins Flugzeug gesetzt", erläutert die Anwältin und fügt hinzu: "Wir werden es vielleicht gar nicht so schnell mitbekommen, wie Seriev schon in Russland gelandet ist, und dann werden keine Schutzmechanismen mehr helfen."

Als sich Ahmed Seriev an die DW wandte, wurde ihm angeboten, aus Sicherheitsgründen in diesem Artikel seinen Namen zu ändern. Doch dies lehnte er ab: "Wenn ich abgeschoben werde und niemand wissen wird, wer ich bin und was mit mir passiert ist, dann wird man mir alles antun können: Entführung, Folter, Mord. Aber wenn meine Geschichte bekannt wird, dann wird mir dies vielleicht helfen, wenigstens mein Leben zu retten."

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk