1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Echt behindert! 3. Der Americans with Disabilities Act

25. November 2020

Für Menschen, die unseren Podcast nicht hören können, stellen wir hier ein Transkript zur Verfügung. In Folge 3 geht es um ein Gesetz, das Menschen ermöglicht, Barrierefreiheit und Gleichbehandlung einzuklagen.

https://p.dw.com/p/3lThs

Zum Podcast geht es hier.

Moderator Matthias Klaus: Herzlich willkommen zum DW Podcast "Echt behindert!" Mein Name ist Matthias Klaus. Heute schauen wir über den deutschen Tellerrand, denn vor 30 Jahren wurde in den USA das weltweit erste Behinderten-Gleichstellungsgesetz verabschiedet. Darüber möchte ich heute im Podcast sprechen mit jemandem, der seit langem behindertenpolitisch aktiv ist, der reden kann wie ein Wasserfall und der natürlich echt behindert ist. Hallo Ottmar Miles-Paul!

Ottmar Miles-Paul: Hallo, seien Sie herzlich gegrüßt Herr Klaus!

Matthias Klaus: Ihre Biografie und alles, was Sie im Leben so getan haben, würde allein schon eine Podcastfolge, wenn nicht sogar zwei füllen. Doch darum geht es heute nur am Rande. Deshalb jetzt hier erst einmal ein kleiner akustischer Steckbrief meines heutigen Studiogastes.
Sprecher/Sprecherin:

- Ottmar Miles-Paul, geboren 1964, setzt sich seit über 30 Jahren für die Rechte behinderter Menschen ein.

- Schon seit seinem Studium der Sozialpädagogik in Kassel engagierte er sich für Barrierefreiheit und Inklusion.

- Er gründete Anfang der 90er Jahre die Interessengemeinschaft Selbstbestimmt Leben, war Kommunalpolitiker im Stadtrat von Kassel und später Landes-Behindertenbeauftragter von Rheinland-Pfalz.

- Ottmar Miles-Paul ist Buchautor und Journalist beim Online-Portal "Kobinet" Nachrichten.

- 2018 erhielt er für sein Engagement für eine inklusive Gesellschaft die Carl von Ossietzky Medaille der Internationalen Liga für Menschenrechte.

- Miles-Paul ist hör und sehbehindert.

- Bei einem längeren Aufenthalt in den USA Ende der 80er Jahre, lernte er ein völlig neues Selbstverständnis behinderter Menschen kennen, dass seine Arbeit bis heute prägt.

Matthias Klaus: Ottmar Miles-Paul ist heute hier in unserem Podcast. Haben wir etwas vergessen, hat das ungefähr gestimmt, was da gerade zusammengefasst wurde?

Ottmar Miles-Paul: Das hat bestens gepasst. Das waren einige Highlights meines Lebens und wahrscheinlich auch die, die mich am meisten geprägt haben – vor allem die Zeit in den USA.

Matthias Klaus: Das ist schön. Gerade darauf will ich jetzt natürlich hinaus – ihre Zeit in den USA. Wie kommt so ein Sozialpädagogik Student aus Kassel Ende der 80er Jahre, der ja auch noch eine Sehbehinderung hat, wo alles vielleicht nicht ganz so super einfach ist, in die USA und treibt sich dort rum und lernt die behinderten Aktivisten kennen?

Ottmar Miles-Paul: Ja, dazu muss man noch sagen, es war ein Sehbehinderter mit miserablem Englisch damals. Das zeigt so ein bisschen den Antrieb, den ich damals hatte. Ich hatte von behinderten Menschen, die in den USA waren, aber dann auch von US-Amerikanerinnen und Amerikanern, die ich kennenlernen durfte, mitbekommen, dass in den USA eigentlich schon seit den 70er Jahren spannende Gleichstellungsregelungen für behinderte Menschen gelten.

Das hat mich angetrieben und ich habe irgendwann mal gesagt, "Das will ich sehen". Dann meinte ein Dozent von mir, "Ja, dann mach doch da drüben gleich ein Praktikum". Und einmal gesagt kam man nicht mehr davon zurück, so machte ich mich im August 1988 auf den Weg nach Berkeley in Kalifornien. 

Matthias Klaus: Was haben Sie denn da in dem Praktikum gemacht? 

Ottmar Miles-Paul: Es war total spannend. Ich war dann bei einer der - die reden da ja immer ein bisschen heldenhaft - ich sag mal: "Die Mutter der Behindertenbewegung", Judy Newman, die nahm mich so ein bisschen an die Hand.

Die wurde später auch Bildungsstaatssekretärin im Kabinett von Bill Clinton. Die hat mich durch die gesamte US-Behindertenbewegung geführt. Ich hatte da einfach die Chance, so beim World Institute of Disability diese weltweite Behindertenbewegung kennenzulernen, aber auch natürlich die ganze Geschichte der Behindertenbewegung in den USA.

Dann bin ich natürlich gerade irgendwie zufällig rechtzeitig in dieses Gesetzgebungsverfahren für den Americans with Disabilities Act geschlittert. Und ja, da war die Zeit genau richtig. 

Matthias Klaus: Was konnten Sie denn schon, bevor dieser Act in Kraft trat? Das war ja erst 1990, also quasi nach Ihrem Aufenthalt, mehr oder weniger. Was konnten Sie denn schon sehen oder mitbekommen im Unterschied zu Deutschland? Wir hatten ja so ein bisschen Behindertenbewegung, auch schon damals. Aber in den USA war das damals schon anders und selbstverständlicher. Wie haben Sie das erlebt?

Ottmar Miles-Paul: In den USA, die hatten einfach schon greifbare Erfolge und konnten diese auch relativ gut darstellen. Wir hatten immer die Berichte, dass sozusagen die neuen Busse in den USA selbstverständlich barrierefrei sind. .Und bei uns sagte man das ginge doch technisch nicht, obwohl deutsche Firmen die Busse damals schon dorthin lieferten.

Ich setzte mich damals auch für Barrierefreiheit an den Universitäten ein. Es war so ein mühsames Brot und durch die Gesetzgebung von 1973 sozusagen im Rehabilitationsgesetz der USA, war festgeschrieben: "Wer Bundesmittel bekommt, der darf behinderte Menschen nicht diskriminieren". So waren die Universitäten dort schon viel weiter unterwegs. Als ich dann 1988 in den USA ankam, da merkte man schon an vielen Ecken und Enden einfach so ein "Wow! Es geht anders"! und ich hatte das Gefühl: Ich bin behindert und politisch einfach nochmal ganz neu aufgewachsen.

Matthias Klaus: Wenn Sie behindertenpolitisch neu aufgewachsen sind und dann auf Deutschland geschaut haben, was hat Ihnen damals so gefehlt in Deutschland? Sie waren ja auch aktiv.

Ottmar Miles-Paul: In Deutschland war es so: Es wurde und wird auch heute noch gerne individualisiert. Das Problem ist das schlechte Sehen: Nein, mein Problem ist nicht das schlechte Sehen. Mein Problem sind Ampeln, die nicht akustisch ausgestattet sind. Das Problem ist das schlechte Hören. Auch damit kann ich relativ gut leben. Aber wenn ich bei Veranstaltungen bin, wo so eine miese Akustik ist, wo keine Höhrhilfen da sind. Gehörlose Menschen erleben das noch viel mehr: Wo keine Gebärdendolmetscher da sind, dann ist das Diskriminierung.

Und hier war so ein Verständnis von: "Naja, da müssen wir aufklären. Da müssen wir mal ein bisschen was tun". Und in den USA war eindeutig "Das ist Diskrimination! Das ist Verletzung der Bürgerrechte!" Das war ein ganz anderer Geist. Und so musste ich nicht erst betteln, wenn ich zu McDonald's ging und ich konnte nicht lesen was an der Angebotstafel steht: Können Sie mir bitte, bitte mal vorlesen? Sondern ich konnte sagen, "Wie machen Sie mir Ihre Information zugänglich?"

Und dann kam die Antwort "Ja, klar, da haben wir das in Schriftform, oder ich lese es Ihnen auch gerne vor". Das war ein anderes Auftreten, ein anderes Gefühl. Mensch mit Recht statt Bittsteller.

Matthias Klaus: Und das war schon Ende der 1980er Jahre.

Ottmar Miles-Paul: Das war Ende der 80er Jahre so. Den Geist der Amerikaner darf man nicht unterschätzen. Da gab's ja andere: die Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen, die Frauenbewegung. Die Behindertenbewegung hat sich natürlich schon mit eingeklagt. Das war damals schon zu spüren. An der University of California in Berkeley hatten sie damals ein umfassendes Programm zur Unterstützung behinderter Studierender und da haben, glaube ich, 13 oder 14 Leute gearbeitet - mindestens.

Und wer in einem Raum einen Kurs hatte, der nicht barrierefrei war, dann wurde der Raum einfach verlegt. Das war die Aufgabe der Universität und nicht das Betteln des Studenten. 

Matthias Klaus: Und dann gab es 1990 das Ganze noch in Gesetzesform. Der Americans with Disabilities Act. Was der im Wesentlichen besagt, hören wir jetzt.

- Der Americans with Disabilities Act wurde am 26. Juni 1990 vom damaligen Präsidenten der USA, George Bush, unterzeichnet.

- Das Gesetz verbietet Diskriminierungen von Menschen mit Behinderung bei der Einstellung und Beschäftigung, bei der Inanspruchnahme von öffentlichen Einrichtungen und Dienstleistungen, bei der Benutzung des öffentlichen Personennahverkehrs und bei der Inanspruchnahme von Telekommunikations-Einrichtungen.

- Es verpflichtet Bundesstaaten, Kommunen und Städte ebenso zur Barrierefreiheit wie Anbieter privater Dienstleistungen.

- Klagen wegen Verletzung des Americans with Disabilities Act (ADA) können sowohl von Privatpersonen als auch von staatlicher Seite eingereicht werden.

- Verschiedene Departments und Agenturen, z.B. das National Council on Disability sind als Beschwerdestelle oder für die Umsetzung des ADA tätig.

- Das Gesetz sorgt dafür, dass Busse und Bahnen in den USA barrierefrei sind, dass Computer und Smartphones von allen Menschen benutzbar sind und vor allem dafür, dass behinderte Menschen ein starkes Selbstbewusstsein entwickeln konnten.

Matthias Klaus: Hier bei echt behindert im Podcast ist heute Ottmar Miles-Paul, ein Behindertenaktivist aus Deutschland, der allerdings USA-Erfahrung hat. Dieses Gesetz gibt es jetzt seit 30 Jahren. Wie beurteilen Sie das denn heute, wenn Sie es vergleichen mit hier? Klappt das denn auch oder muss man da jetzt auch noch immer alles einklagen?

Ottmar Miles-Paul: In den USA hat es die Gesellschaft enorm verändert. Es ist nicht so, dass es jetzt das Musterland für alle behinderten Menschen ist. Aber in Sachen Barrierefreiheit, Antidiskriminierung, Gleichstellung haben die USA - trotz Donald Trump und Bemühungen, das Gesetz immer wieder zu schwächen - eine ganz andere Position wie hierzulande.

Also das hat wirklich nachhaltige Wirkung und wir versuchen ja hierzulande auch immer wieder ähnliche Standards zu setzen, scheitern hier aber immer wieder an der Privatwirtschaft. 

Matthias Klaus: Es ist ja eigentlich in den USA merkwürdig. Eben hieß es, George Bush hat das Gesetz unterschrieben. Der war nun wirklich damals nicht bekannt für seine fortschrittliche Gesinnung. Sie selbst haben gesagt, Sie wären mal bei ihm gewesen, sogar damals. Wie war das? 

Ottmar Miles-Paul: Ich war eigentlich zweimal auf dem Weg zu ihm. Einmal hatten wir 1989 eine Konferenz in Washington, D.C. Und da hat man spontan gesagt "Wir demonstrieren zum Weißen Haus und fordern die Unterstützung von Präsident Bush für das Gesetz." Es hat geregnet. Wie nur was?

Wir waren klitschnass, da war nicht viel Öffentlichkeit, aber wir standen eine ganze Weile vor dem Weißen Haus und er kam dann natürlich nicht raus. Aber es wurde zugesichert: Es gibt ein Gespräch mit ihm. Das Haben dort natürlich die damaligen Anführerinnen und Anführer der Bewegung geführt und ich war dann 1993 eingeladen in den USA.

Da ging es dann darum, den Ex-Präsidenten dafür zu gewinnen, dass das Thema auch weltweit Schule macht - also, dass er diesen Erfolg auch verkauft. Und er war der Sache damals eigentlich recht aufgeschlossen, aber hat dann langfristig nicht mehr so viel beigetragen. Nichtsdestotrotz hat der US-amerikanische Impuls natürlich entscheidend zur Entstehung der UN-Behindertenrechtskonvention 2006 beigetragen.

Matthias Klaus: Wenn in den USA jetzt ein Arbeitgeber einen Behinderten einstellt oder nicht. Geht es dann wie hier, dass er den wenigstens einladen muss? Oder wie kann so ein Gesetz gewährleisten, dass so etwas funktioniert, dass man z.B. eben auch in der Privatwirtschaft die Barrierefreiheit oder die Möglichkeiten für Behinderte gewährleisten muss. Haben Sie da Beispiele?

Ottmar Miles-Paul: Wir haben ja hier auch Bestimmungen. Wir haben ja hier auch die Schwerbehindertengesetze. Wir haben auch inzwischen ja im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz Bestimmungen, wo man dagegen vorgehen kann, wenn man nicht eingeladen wird.

Und hier, wenn es sozusagen offensichtlich ist, das jemand wegen einer Behinderung nicht eingeladen wird zum Vorstellungsgespräch oder abgelehnt - das bezieht sich dann meistens auf Firmen so ab 15 Mitarbeiter, also die haben dort auch natürlich Grenzen gesetzt - dann kann die Person dagegen klagen und dementsprechend Verdienstausfall oder andere Hindernisse geltend machen.

Hier gibt es inzwischen auch eine Reihe von Rechtsmitteln. Das wird noch zaghaft in Anspruch genommen. Aber das Spannende am US-Gesetz ist: Ist man dann mal drin, dann hat es viele Auswirkungen. Also bei uns rede ich immer von der gläsernen Decke: Behinderte Menschen sind beschäftigt, aber man kommt nicht weiter, höher, hoch.

Also wenn man bei der Beförderung benachteiligt wird, wenn man bei Weiterbildungen benachteiligt wird oder auch Anpassungen im Job. Bei uns wird dann immer das Integrationsamt angerufen, ob man was finanzieren kann. Hier sind die Betriebe auch verantwortlich, angemessene Vorkehrungen zu treffen.

Es gab Ende der 1990er Jahre mal eine Untersuchung. Das waren oft gar nicht die riesengroßen Kosten. Das bewegte sich manchmal um ein Hilfsmittel. Also so ein Level von 500 Dollar, der da irgendwo war. Aber es hat einem behinderten Menschen ermöglicht, in dem Job zu arbeiten.

Und dann natürlich die Barrierefreiheit: Dass wir heute iPhones haben und viele andere Geräte, mit denen behinderte Menschen klar kommen, also auch blinde Sehbehinderte, hat ganz viel damit zu tun, dass man eben Technologien selbstverständlich barrierefrei gestaltet hat. Und das hat ganz, ganz viel mit dem Gesetz zu tun und wirkt sich natürlich auch im Arbeitsleben aus,

Matthias Klaus: Wo sie gerade iPhones sagen oder auch Computersprachausgabe. Inzwischen sind ja auch die normalen Computer ganz gut am Sprechen. Diesen Aufwand hätte wahrscheinlich niemand so betrieben, wenn die nicht befürchtet hätten, dass sie eventuell verklagt werden. Und dann in den USA gibt's ja dann Gruppenklagen. Da ist das dann immer gleich ein bisschen teurer als in Deutschland, da wenn dann mal so einer kommt.

Ottmar Miles-Paul: Ja, ja, genau das ist es. Und das haben die Behindertenverbände natürlich auch gemacht. Ich habe jetzt vor kurzem irgendwie gehört, dass die gehörlosen Verbände jetzt das Weiße Haus verklagt haben, weil die Gebärdendolmetschung nicht angemessen war.

Und das sind natürlich wichtige Rechtsmittel, die hierzulande, wenn überhaupt in den Kinderschuhen stecken. Und ganze Schuldistrikte wurden verklagt, damit dort inklusive Beschulung möglich wurde. Also es ist nicht so, dass behinderten Menschen dort viel geschenkt wurde. Da wurde ganz viel erkämpft, geklagt und mit dem Gesetz im Rücken ist das natürlich anders als wenn ich nur an den guten Willen appellieren muss.

Matthias Klaus: Wie steht es denn um die schulische Inklusion in den USA? Hier gibt es ja immer noch Förderschulen und das System ist relativ vollständig in den USA. Gibt es das da überhaupt noch?

Ottmar Miles-Paul: Also, wenn, dann ganz wenige. Der Vorteil war hier natürlich wie in vielen englischsprachigen Ländern auch: Man hatte schon Ende der 60er Jahre hier viel Bewusstsein gebildet, dass es nicht sinnvoll ist, behinderte Menschen erst mal auszugliedern, um sie dann wieder mühsam einzugliedern.

In früheren Zeiten, 1970er Jahre, da gab es schon schulische Inklusion. an vielen Schulen war ich immer mal wieder habe die besucht. Da war einfach durch diese flexiblere Klassengestaltung - also mehr in Projektarbeit - ganz viel möglich, auch gerade für Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden. Ich rede da lieber von Menschen mit Lernschwierigkeiten. Sie lernen einfach auch schwerer. Manches auch nicht.

Und da war viel mehr Fantasie. Aber auch hier war das Recht dahinter: Eltern konnten das im Prinzip einklagen und man hat dann darauf verzichtet, so weitgehend diese Parallelstrukturen zu betreiben, weil einfach auch gesamtgesellschaftlich schnell klar war: Es ist besser, wenn man sich früh kennenlernt, wenn man in der Gemeinde verankert ist und dann auch hoffentlich in der Gemeinde den Job bekommt.

Also ich hab da viele, ganz ganz viele tolle Beispiele gesehen, wie das Menschen geprägt hat, sowohl behinderte als auch nicht behinderte Menschen.

Matthias Klaus: Warum tun wir uns hier so schwer? Und man muss jeden Zentimeter erringen und in den USA gibt es so ein Gesetz seit 30 Jahren? Haben die einfach eine andere Grundphilosophie dort? 

Ottmar Miles-Paul: Ja, es ist, glaube ich, eine andere Grundphilosophie. Es ist auch eine andere Prägung. Die Bürgerrechtsgesetze der Schwarzen, die hart erkämpft wurden - jene Generation auch geprägt haben, die hat natürlich vielen gelehrt: Diskriminierung ist nicht in Ordnung.

Das hat man dann auch auf andere Gruppen übertragen. Ich war immer erstaunt darüber, wie viele Leute eigentlich so ein Bewusstsein hatten, ob sie das jetzt wirklich immer gut hinbekommen haben. Und da gab es natürlich auch andere, das ist was anderes.

Das zweite ist, ich glaube der US-amerikanische Umgang, wenn man das bei so einem großen Land so sagen kann. Aber ich war viel in Kalifornien, ich war in verschiedenen Staaten unterwegs. Man geht auf die Menschen zu, man ist erst mal freundlich und man guckt was der braucht und ist noch gar nicht so übergriffig.

Hier wird man manchmal als blinder Mensch gar nicht gefragt: Da wird man über die Straße gezerrt und man denkt, man hat was Gutes getan. Aber es war gar nicht im Sinne des Menschen, der wollte vielleicht nicht rüber.

Das ist jetzt einfach mal so plakativ beschrieben und in den USA habe ich immer wieder erlebt: Wenn man irgendetwas möchte oder irgendwas ausprobieren - es lohnt sich zu fragen, weil die Menschen denken eher "wie mach ich es möglich?" als um Himmelswillen, was kann alles passieren?

Und ganz, ganz viele tolle Erlebnisse hatte ich da, wo ich sage mal Behinderung erst mal gar keine Rolle spielte, sondern man hat sich Gedanken gemacht "Mensch, wie schaffen wir das?" Ja, dass er jetzt hier mit dabei sein kann. Auch Leute, die Rollstuhl nutzen, die haben die überall hingeschleppt.

Matthias Klaus: Ja, in den USA gibt es diesen liberalen Arbeitsmarkt, da wird jeder rausgeschmissen und eingestellt, wie es gerade so kommt und gerade so geht. Es gibt wenig Sozialversicherungssysteme, das ist doch alles besser hier in Europa. Wie kommt es, dass das gerade bei Behinderten so auseinander läuft?

Ottmar Miles-Paul: Ja, man muss natürlich sagen, dass behinderte Menschen von diesem miserablen Gesundheitssystem gerade auch in der Corona Zeit schon hart getroffen sind. Ich sag auch mal: Es ist ja ein Urland des Kapitalismus. Das darf man nicht unterschätzen. die soziale Gesetzgebung ist da eher miserabel. Was dort gut ist, das ist das Bürgerrechtsdenken, die Nichtdiskriminierung, die Barrierefreiheit, die damit einhergeht, das gemeinsame Aufwachsen.

Ansonsten der amerikanische Traum, der hat ja viel Positives. Aber er hat natürlich auch das: Naja, jeder ist seines Glückes Schmied. Und da bleiben, das sieht man auch jetzt wieder, auch viele Leute auf der Strecke. Darum war ich selber auch immer sehr hin- und hergerissen. Wo möchte ich leben?

Ich war ja dann mit einer US-Amerikanerin verheiratet und mein Sohn lebt heute in den USA, wo auch immer dieses hin- und her ist. Wenn man die beiden Länder irgendwo zusammenmischen könnte, Ich glaube, wir könnten eine richtig tolle Welt, eine richtig tolle Gesellschaft hinbekommen. 

Matthias Klaus: Jetzt gibt's ja in Europa auch Bemühungen seit einiger Zeit. Es gibt ja jetzt das neue Gesetz: European Accessibility Act das aber noch nicht in nationales Recht umgesetzt ist. Wir haben die UN-Behindertenrechtskonvention. Was müssen wir denn tun, damit wir diesen amerikanischen Standard erreichen? Können wir das?

Ottmar Miles-Paul: Also ich glaube, wir müssten hier gerade auf Deutschland bezogen [mehr tun]. Deutschland ist oft auch ein Blockierer auf EU-Ebene. Ich denke, wir müssten hier einfach mal anerkennen, dass wenn man eine öffentliche Dienstleistung erbringt, ob das jetzt im Kino und Restaurant oder sonst irgendwas ist, dass sich dann auch ein öffentliches Angebot mache, das für alle zugänglich nutzbar sein muss.

Und da scheut sich hier Deutschland irgendwie wie der Teufel das Weihwasser, der Privatwirtschaft Vorschriften zu machen als ob dann die Welt untergeht. Wir haben den Nichtraucherschutz erlebt: Alle haben gesagt "Alles geht den Bach runter, die Kneipen machen zu". Und bei der Barrierefreiheit? Ich glaube, es ist eher ein Positivum. Also wenn Menschen reinkommen, wenn ältere, wenn behinderte Menschen in die Läden reinkommen, in die Restaurants, dann ist das ein Plus.

Nur wir müssen auch den Mut haben zu sagen, wir wollen eine Gesellschaft, an der alle teilhaben. Ich glaube, da knackt es immer wieder. Man will der Wirtschaft nicht weh tun. Man macht dann Appelle. Durch verschiedene Gesetzesreformen haben wir es nie richtig geschafft, das zu knacken.

Wir geben da natürlich nicht auf. Und der European Accessibility Act ist jetzt wieder so ein weiterer Schritt, wo wir gerade auch im technologischen Bereich endlich mal anerkennen: Ja, wir brauchen Barrierefreiheit im Internet, in sämtlichen Apps und Angeboten. Da werden wir jetzt auch was tun müssen. Aber ich sage mal, dass die Schwelle von der Bäckerei, die vor der Tür ist, dass da endlich mal ein bisschen Beton hingeschmissen wird, damit da alle reinkommen. Das scheint in Deutschland ein unüberbrückbarer Fluss zu sein. Und da hoffe ich, dass wir da in den nächsten Jahren endlich mal ein Durchkommen haben.

Matthias Klaus: Es geht hier längst nicht nur um die Barrieren in den Köpfen. Das Kreiden, ja auch gerade die, nennen wir sie mal jungen Aktivisten immer wieder an, dass das immer die Ausrede ist: "Erstmal wollen wir alles philosophisch klar kriegen, bevor wir ans Praktische gehen".

Ottmar Miles-Paul: Wenn ich das mache, dann müsste ich auch sagen, ich hebe die Verkehrsbeschränkungen auf, weil natürlich: Wir müssen doch die Leute aufklären, dass sie vorsichtig fahren. Aber wir haben mit Bedacht Geschwindigkeitsbeschränkungen in Ortschaften. Auf Autobahnen könnten wir noch mehr haben.

Wir haben Gesetze gemacht, damit wir Steuern zahlen. Da appellieren wir auch nicht an den guten Glauben. Und es ist gut so, dass wir diese Bestimmungen haben. Ich frage mich nur, warum wollen wir gerade beim Thema Barrierefreiheit, Menschenrechte, Teilhabe behinderter Menschen immer nur auf dieses wohlwollende Verständnis setzen? Das ist totaler Quatsch.

Wir brauchen Regeln für ein Zusammenleben in der Gesellschaft. Und diese Regeln muss man wollen und die muss man auch verabschieden. Das ist für mich die Kernfrage, um die es leider 30 Jahre nach dem Americans with Disabilities Act immer noch geht. 

Matthias Klaus: So sieht es aus nach 30 Jahren Americans with Disabilities Act: Gute Nachrichten aus einem Land, wo man sonst im Moment eher Schlechtes hört. Heute hier im Podcast "Echt behindert!" zu Gast war Ottmar Miles-Paul, ein Behindertenaktivist mit Amerikaerfahrung. Herr Miles-Paul ich danke Ihnen und hoffe, dass wir das in Europa irgendwann auch bald mal so hinkriegen werden. 

Ottmar Miles-Paul: Ich habe zu danken und wir bleiben dran. 

Matthias Klaus: Das war "Echt behindert!" für heute. Mein Name ist Matthias Klaus. Mehr Folgen und mehr Infos unter dw.com/wissenschaft

Wir freuen uns über Feedback, Anregungen und Kritik.

Schreiben Sie an: echt.behindert@dw.com

Zum Podcast geht es hier.

Hinweis der Redaktion: Dieses Transkript wurde unter Nutzung einer automatisierten Spracherkennungs-Software erstellt. Danach wurde es auf offensichtliche Fehler hin redaktionell bearbeitet. Der Text gibt das gesprochene Wort wieder, erfüllt aber nicht unsere Ansprüche an ein umfassend redigiertes Interview. Wir danken unseren Leserinnen und Lesern für das Verständnis.