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27. Der Aktivist – ein Jubiläum mit Raul Krauthausen

18. August 2021

Für Menschen, die unseren Podcast nicht hören können, stellen wir hier ein Transkript zur Verfügung: Raul Krauthausen ist das Gesicht der deutschen Behindertenbewegung.

https://p.dw.com/p/3z6oi

Zum Podcast geht es hier.

Jingle: DW. "Echt behindert!"

Moderator Matthias Klaus: Herzlich willkommen zu "Echt behindert!" Mein Name ist Matthias Klaus. Und heute gibt es eine Art Jubiläum zu feiern: Diesen Podcast gibt es seit einem Jahr! In etwa am 20. August 2020 gab es die erste Folge.  Und das hier ist die 27.

Hätte ich selbst nicht gedacht, dass wir so weit kommen. Aber sehr schön! In dieser Folge habe ich einen besonderen Gast, jemanden, der sonst immer so ein bisschen mit anwesend war. Zumindest ist das der Mensch, über den in diesem Podcast immer wieder gesprochen wurde. Ich spreche heute mit dem wohl bekanntesten deutschen Behinderten: Raul Krauthausen.

Schönen guten Tag, Raul. 

Raul Krauthausen: Hallo.

Matthias Klaus: Es gibt hier erstmal eine kleine Zusammenfassung deines Lebens und Wirkens, damit wir das schon mal aus den Füßen haben.

Sprecherin: Raúl Aguayo-Krauthausen wurde am 15. Juli 1980 in Lima, Peru, geboren und ist in Berlin aufgewachsen. Er studierte Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation und Design Thinking. Außerdem ist er ausgebildeter Telefonseelsorger. 2004 gründete er den Verein "SOZIALHELDEN", der sich für verschiedene gesellschaftliche und soziale Projekte engagiert. Der Verein hat immer wieder Preise gewonnen. 2013 erhielt Krauthausen das Bundesverdienstkreuz am Bande. 2014 erschien seine Autobiografie "Dachdecker wollte ich eh nicht werden: Das Leben aus der Rollstuhl Perspektive". Krauthausen ist Blogger, Podcaster, Moderator und inzwischen Deutschlands bekanntester Behindertenaktivist. Er lebt mit Glasknochen und nutzt einen elektrischen Rollstuhl. 

Matthias Klaus: Also "Deutschlands bekanntester Behindertenaktivist". Kannst du dich damit identifizieren?

Raul Krauthausen: Also ich kann mich auf jeden Fall mit dem Wort "Aktivist" identifizieren. Dieses "Deutschlands bekanntester...", das ist etwas, das mir so nachgesagt wird, mit dem ich mich aber weniger gut identifizieren kann.

Denn es ist ja kein Wettbewerb und ich bin auch nur deswegen da, weil ich ganz viele Wegbegleiter/innen hatte, die mir auf dem Weg ganz viele Tipps gegeben haben, ganz viele Ratschläge immer noch geben und auch immer noch kritisieren und auch darauf hinweisen, wo ich vielleicht ein bisschen daneben lag oder so. Und ich eigentlich auch zunehmend versuche, mich aus dem Rampenlicht rauszuziehen und anderen eher die Aufmerksamkeit zu geben, die mir zuteil wird oder wurde.

Allerdings, und das ist dann auch so ein bisschen mein Vorwurf an die Medien, wenn ich dann Empfehlungen mache an andere Aktivist/innen, die vielleicht sogar mehr Ahnung haben als ich in einem bestimmten Themenbereich, dass die dann oft gar nicht von den Medien mehr angefragt werden, nachdem ich sie empfohlen habe. Das heißt, Journalist/innen googlen dann irgendwie -  keine Ahnung - "Inklusion" und "Aktivist" oder so und stoßen dann auf mich und erinnern sich vielleicht auch an mich.

Aber wenn ich dann sage, "Neee, ich stehe nicht zur Verfügung, geht bitte woanders hin", dann lösen die Journalist/innen das nicht ein. Das heißt, es ist dann auch so ein selbsterfüllendes Ding.

Matthias Klaus: Da muss ich mich mal loben. Ich habe ein Jahr gewartet.

Raul Krauthausen: Ehrlich gesagt, ich finde das sogar richtig gut. Ich hab ja auch euren Podcast regelmäßig in meinem Newsletter mitgeteilt und erwähnt und ich finde es auch großartig zu sehen, wie bekannte Aktivist/innen auch da auftauchen. Ottmar Miles Paul,  Judyta Smykowski,  Es ist super. Ich finde das super!

Matthias Klaus: 2004 wurden die SOZIALHELD*INNEN gegründet. Damals ging es euch, wenn ich das recht verstehe, auch in dem welche Aktionen es damals so gab, nicht unbedingt nur um Behindertenpolitik. Was war denn euer Antrieb damals und wie hat sich das gewandelt?

Raul Krauthausen: Also die SOZIALHELD*INNEN sind total naiv aus einer Idee meines Cousins und mir heraus entstanden. Wir wollten uns sozial engagieren, wussten aber nicht genau wo und wofür. Die Organisationen, die wir kannten und die in der Nähe waren, die waren entweder nicht barrierefrei oder haben uns thematisch nicht besonders interessiert.

Und unser Anspruch war, soziales Handeln irgendwie modern zu machen. Also - keine Ahnung -  auf's Smartphone zu bringen oder aber auch schicker zu kommunizieren und idealerweise aus der Perspektive der Betroffenen. 

Und wir haben dann am Anfang zum Beispiel ein Projekt gemacht, wo man in Supermärkten seine Pfandbons spenden kann, unter dem Namen "Pfandtastisch helfen!". Das gibt's auch immer noch, dieses Projekt, und es läuft auch sehr gut. Aber das war letztendlich nur die Geburtsstunde der SOZIALHELD*INNEN.

Wir haben dann irgendwann gemerkt: "Okay, lass uns doch auf ein Thema konzentrieren", weil das Thema "Soziales" ja auch schon wieder so riesig ist. Und wir haben dann festgestellt: Es macht total Sinn, wenn wir uns auf das Thema "Menschen mit Behinderung, Inklusion, Teilhabe und Barrierefreiheit und selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen" konzentrieren. Und wir haben dann, vor allem, mit der online Karte "Wheelmap" angefangen. Die Karte für rollstuhlgerechte Orte.

Matthias Klaus: Ihr seid ein Verein und gleichzeitig seid ihr ja sowas wie eine Firma. Also es leben auch Leute von der Arbeit bei euch, richtig.

Raul Krauthausen: Wir haben am Anfang mit ganz vielen Ehrenamtlichen gearbeitet und haben dann aber irgendwann auch gemerkt, die Leute bleiben maximal zwei Jahre, wenn sie sich ehrenamtlich engagieren. Einfach auch, weil die Leute dann angefangen haben zu studieren oder wegzuziehen oder einen neuen Job anzufangen, mit dem sie dann ihre Miete bezahlen konnten.

Dann haben wir versucht, peu a peu über fast 20 Jahre, von ehrenamtlichen Stellen zunehmend auf bezahlte Stellen umzustellen. Und jetzt sind wir bei zwischen 20 und 30 Mitarbeiter/innen, das fluktuiert. Wir haben auch einige freie Mitarbeiter/innen und bezahlen die überwiegend und legen dabei aber großen Wert, dass das Ganze schon auch aus der Perspektive behinderter Menschen gedacht bleibt, also, dass wir auch Menschen mit Behinderung in Projektverantwortung stecken als Projektleitungen im Vorstand haben oder auch in der Kommunikation, sodass wir nicht Gefahr laufen, eine Organisation zu werden, die von nicht-Behinderten geführt und entschieden wird. Sondern bei uns sollen eben Betroffene selber entscheiden, auf welche Themen wir uns konzentrieren.

Matthias Klaus: Barrierefreier Verkehr oder schulische Inklusion, Gewalt in Heimen, das deutsche Werkstattsystem... Es gibt ja eine Menge Themen, über die man reden kann und auch eine Menge Themen, bei denen ihr aktiv seid. Welches Thema ist dir denn das Wichtigste? Was ist denn dein größtes Anliegen? Gibt's sowas derzeit?

Raul Krauthausen: Also natürlich neben der Gewalt in Heimen oder auch den Flutopfern in Sinzig, wo 12 behinderte Menschen in der Lebenshilfe qualvoll ertrunken sind, weil man sie nicht evakuiert hat. Das muss aufgearbeitet werden und da muss ganz genau und ganz konkret geschaut werden: Wie konnte es passieren, dass behinderte Menschen so oft Opfer von und in Einrichtungen sind?

Dass diese ganze Aufarbeitung aber ausschließlich von nicht-behinderten Menschen gemacht wird, die sich am Ende wahrscheinlich auch noch attestieren werden, dass ja alles okay war, das ist hochproblematisch. Und da werden wir sicherlich auch in den nächsten Monaten gezielt ein Auge drauf werfen und uns auch da, wo es nötig ist, Gehör verschaffen und auch laut protestieren.

Was mir aber besonders wichtig ist, und ich finde, es geht da auch ein bisschen Handin-Hand, dass wir in Deutschland wirklich viel, viel mehr auf behinderte Menschen hören sollten.

Also es ist nicht mehr okay, wenn ausschließlich nicht-behinderte Menschen urteilen, was behinderten Menschen zusteht und was gut für sie ist oder was nicht. Es ist auch nicht okay, wenn nicht behinderte Menschen Sätze sagen wie: "Wir müssen die Barrieren in den Köpfen senken" und dann aber nicht konkret sagen, was sie vorhaben als nächsten Schritt.

Das ist eine Binsenweisheit, dass wir Barrieren in den Köpfen senken müssen. Da muss ich auch nicht irgendwie Broschüren drucken oder Werbespots schalten, wie es große Sozialunternehmen machen.

Sondern was wir wirklich inzwischen brauchen (Und da stinkt Deutschland innerhalb Europas wirklich ab!): Wir brauchen Rechte! Behinderte Menschen, brauchen Rechte, die sie einklagen können, auch gegenüber der Privatwirtschaft, die ihnen Teilhabe ermöglichen! 

Es ist nicht okay, wenn Behörden nach wie vor Eltern behinderter Kinder nahelegen, ihr Kind auf eine Förderschule zu schicken, weil sie strukturell keine Lust haben, die Regelschulen barrierefrei und inklusiv zu machen. Es ist nicht okay, wenn ich als behinderter Mensch 48 Stunden vorher bei der Deutschen Bahn meine Mobilitätshilfe beantragen muss. Wo hingegen jeder andere spontan reisen kann.

Es ist nicht okay, wenn ich eine kostenpflichtige Hotline anrufen muss, wenn ich in einer Cinemax Kino Kette oder in einem Kino einen Kinofilm sehen will, um den Rollstuhlplatz zu reservieren und dass das nicht online geht. Und so weiter und so fort... Und dass die Privatwirtschaft da sich so aus der Affäre zieht, ist ein riesiges Thema, das mit Barrieren in den Köpfen senken, nicht gelöst werden wird.

Sondern was wir brauchen, ist den politischen Mut und auch die Verantwortung, die Privatwirtschaft zur Barrierefreiheit zu verpflichten und Inklusion und Teilhabe behinderter Menschen da zu ermöglichen, wo nichtbehinderte Menschen sie auch haben. Und das Ganze darf nicht, sagen wir mal, eine Entscheidung von Geld sein oder eine Entscheidung von "Wir haben das schon immer so gemacht" was in Deutschland aber leider Tradition hat. 

Matthias Klaus: Wir wissen das beide! Wir sitzen hier und können vielleicht auch mal so ins Schimpfen geraten, auch weil wir ja umgeben, sind von diesen Informationen. Aber das Problem ist: Es müssen ja die Leute hören, die es nicht wissen. Du machst selbst einen Podcast, der heißt "Wie kann ich was bewegen?" Und Du bist auch wahrscheinlich immer wieder daran interessiert, die Filterblase zu verlassen.

Wir schicken uns immer alle gegenseitig unsere Tweets und lesen die und freuen uns, dass wir da sind. Aber das reicht hier nicht. Wir müssen ja raus an die Leute! Hast du da eine Idee? Was kann man da machen, damit Menschen sich dafür interessieren, die mit Behinderten überhaupt nichts zu tun haben oder denen diese ganzen Themen komplett fremd sind?

Raul Krauthausen: Also ich habe in meinem Podcast "Wie kann ich was bewegen?" mit ganz vielen Aktivistinnen gesprochen, die sich in anderen Themenbereichen engagiert haben. 

Matthias Klaus: Wer war da so dabei?

Raul Krauthausen: z.B. Carola Rakete, die Sea-Watch Kapitänin, die damals ganz viele Flüchtlinge aus dem Meer gerettet hat gegen den Willen der italienischen Regierung. Oder Luisa Neubauer das deutsche Gesicht der "Fridays for Future" Bewegung. Wir hatten da Tupoka Ogette, die Antirassismus-Expertin, die auch ein großartiges Buch geschrieben hat mit "exit RACISM". 

Und wir kommen immer wieder zu der Erkenntnis, dass es um Intersektionalität auch gehen kann. Natürlich gibt es auch Menschen mit Behinderung mit Migrationshintergrund. Und natürlich sind auch behinderte Menschen vom Klimawandel betroffen. Und dass wir letztendlich über diese Intersektionalität es auch schaffen und können andere Zielgruppen zu erreichen und dann einfach vielleicht auch dort Gehör zu finden und so Bündnisse zu schmieden.

Was ich wichtig finde, ist, dass wir in den eigenen Reihen der marginalisierten Gruppen oder auch der Menschen, die das Gefühl haben, für eine bessere Welt zu kämpfen, aber nie gehört zu werden, dass wir kooperieren und uns nicht gegeneinander ausspielen oder uns gegeneinander vielleicht auch ständig ins Wort fallen, sondern wirklich uns darauf konzentrieren: "Wer ist eigentlich der oder die politische Gegnerin?" Und uns mit denen auseinanderzusetzen und denen Stress zu machen, anstatt uns intern, die wir sowieso schon alle genug Stress haben, miteinander aufzuhalten.

Und ich glaube, z.B. dein Podcast "Echt behindert!" in Zusammenarbeit mit der Deutschen Welle ist ein solcher Schritt, der neue Zielgruppen erschließen kann. So wie unser Podcast "Die neue Norm" in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Rundfunk Bayern 2 sicherlich auch ein Schritt sein kann, um neue Hörer/innenschaften zu gewinnen.

Matthias Klaus: Trotzdem gibt es ja immer noch Umfragen, die sagen: 60 Prozent der Menschen haben noch nie einen Behinderten gesehen (persönlich) oder, noch nie mit einem gesprochen. Und das liegt natürlich auch immer daran, dass man sie nicht sieht, also dass es einfach keinen Kontakt gibt. Lässt sich da irgendwie an diesem Kontakt noch etwas verbessern? Jetzt mal jenseits von: Politiker- und Politikerinnen-Bedrängen, sondern wirklich, dass die menschliche Begegnung stattfindet. Kann man da noch mehr tun?

Raul Krauthausen: Also Deutschland hat ja leider die Tradition, dass behinderte Menschen systematisch aussortiert werden in Förderkindergärten, Förderschulen, Behindertenwerkstätten, Wohnheimen, Behinderten-Fahrdiensten und das Ganze auch noch in Deutschland leider ein gutes Image hat.

Dass andere Länder da schon wesentlich weiter sind, was das gemeinsame Beschulen von Kindern mit und ohne Behinderung angeht oder auch was den inklusiven Arbeits- und Wohnungsmarkt angeht, das hat, der oder die Deutsche nicht so gerne, weil gerade die Deutschen immer glauben, sie sind in allem Weltmeister.

Und wenn sie dann aber hören, dass sie innerhalb Europas eher Schlusslicht sind, was die Inklusion und Teilhabe von Menschen mit Behinderung angeht, dann tut das denen weh. Man kann da vielleicht auch von sogenannter "Ableist Fragility" sprechen, also die nicht behinderten Zerbrechlichkeit, die dann zum Vorschein kommt, wenn man sie kritisiert in diesem Bereich.

Und da gibt's eine unglaubliche Abwehrreaktion, sowas wie: "Ja, aber die Pädagoginnen sind ja dann überfordert, wenn Kinder mit Behinderung in der Klasse sind!" Oder dann wird gesagt: "Die Kinder mit Behinderung, die könnten ja gemobbt werden an der Regelschule." Und damit wird dann die ganze Zeit gerechtfertigt, dass wir dieses Förderschulen- und Parallelsystem brauchen. 

Dabei sind Eltern behinderter Kinder ja auch nicht ausgebildet gewesen, bevor sie ein behindertes Kind haben. Also zu verlangen, dass Lehrerinnen erstmal eine Fortbildung gemacht haben müssen, bevor sie ein behindertes Kind unterrichten, ist vielleicht auch ein bisschen übertrieben.

Und zu sagen, dass behinderte Kinder per se automatisch gemobbt werden an einer Regelschule - es stimmt ja auch nicht. Also ich wurde zumindest nicht gemobbt in meiner Schulzeit und niemand stellt dann die Frage wie es eigentlich behinderten Kindern an Förderschulen geht, ob es nicht auch Mobbing gäbe und ob nicht auch nicht-behinderte Kinder an Regelschulen regelmäßig gemobbt werden.

Und ist es nicht eigentlich das Thema Mobbing, das wir bearbeiten müssen, anstatt das Merkmal, das dann der Grund für Mobbing sein könnte? Wir sagen ja auch nicht Frauen, wenn ihr nicht belästigt werden wollt, dann zieht keinen Minirock an, sondern die Forderung Müsste eigentlich sein: Männer hört auf Frauen zu belästigen. Und genauso ist es auch mit Mobbing in der Schule. Hört auf zu mobben anstatt "Du könntest gemobbt werden, deswegen musst du auf eine Förderschule!"

Matthias Klaus: Es geht letzten Endes darum, dass behinderte Menschen nicht mehr als so Fremde angesehen werden. Und das geht nur dadurch, dass man sie auch zu sehen kriegt...

Raul Krauthausen: Genau. Und um deine Frage zu beantworten, es geht also nicht um die Aufklärung im Sinne von: "Wir drucken Broschüren, oder wir erzählen erst einmal der Mehrheitsgesellschaft, dass Menschen mit Behinderungen auch Menschen sind".

Das ist einfach eine Binsenweisheit. Sondern was wir brauchen, sind Begegnungen. Wir müssen Orte und Gelegenheiten schaffen, wo Menschen mit und ohne Behinderung sich begegnen können. Es kann in meinem Kaninchenzüchter/innen Verein sein oder in der Schule, im Kindergarten, am Arbeitsmarkt, im öffentlichen Personennahverkehr.

Und ich vergleiche das Thema Inklusion immer ganz gerne mit einer Straßenbahnfahrt. Ja, also: wenn Du in der Straßenbahn sitzt, dann sitzt Du ja genauso wie viele andere auch im gleichen Waggon. Und es gibt Menschen, die steigen vor Dir ein und es gibt Menschen, die steigen nach Dir aus. Aber es gibt eine bestimmte Wegstrecke, die ihr gemeinsam zurücklegt.

Und niemand der Fahrgäste, inklusive Dir, darf sagen, wer neben Dir sitzen darf. Wenn Dich die Person neben Dir stört, ist die einzige Möglichkeit, die Du hast: Du setzt dich woanders hin. Und Du darfst einfach nicht sagen: "Sorry, Du darfst dich setzen! Du darfst nicht mitfahren!"

Die einzige Person, die das dürfte, wäre die Schaffnerin oder der Schaffner. Aber auch nur dann, wenn du kein Ticket hast und auch nur dann, wenn du dich nicht an die Regeln hältst. Wenn du ein Ticket hast und dich an die Regeln hältst, dürfte selbst die Schaffnerin nicht sagen, ob du mitfahren darfst oder nicht. Und das Einzige, was dich an der Mitfahrt hindern kann, ist der nicht barrierefreie Zugang zur Straßenbahn. Die fehlende Rampe oder die fehlenden akustischen Ansagen der Stationen. Ja? 

Matthias Klaus: Hmmmm.

Raul Krauthausen: Und diese Barrieren müssen wir beseitigen. Niemand von uns Behinderten verlangt, dass wir in der Straßenbahn alle nett zueinander sind, dass wir uns ab sofort alle liebhaben und dass dann dort da drinnen das Einhorn-Land ist.

Sondern es reicht im Sinne der Inklusion, dass wir einander aushalten und respektieren. In einer Straßenbahn kann man sich ineinander verlieben. Man kann aber auch einander ignorieren und das ist jedermanns und jederfraus Recht. Aber es ist nicht okay, wenn irgendjemand diesen Fahrgäst/innen sagt: "Du darfst mitfahren - und du nicht!"

Matthias Klaus: Nochmal zurück zur Frage: "Wie erreichen wir die breite Masse?" Neulich hast du irgendwo geschrieben, dass du keine Interviews mehr geben wirst, wenn jemand Artikel hinter Bezahlschranken versteckt oder wenn es keine Transkripte für Podcasts gibt, zum Beispiel. Könnt ihr euch das leisten? Erschreckt man da nicht wieder Leute und schränkt sich selber ein?

Raul Krauthausen: Also ich empfinde das jetzt nicht als arrogant, wie das vielleicht rüberkommen könnte. Sondern ich habe einfach 15 Jahre lang Interviews gegeben und es nervt mich immer wieder neu, wenn davon ausgegangen wird, dass behinderte Menschen ihr Wissen kostenlos zur Verfügung stellen und dann der Artikel aber hinter einer Paywall landet und die Journalist/innen dann sagen: "Ja, wir würden gern ein Interview mit Ihnen machen, können Ihnen leider nichts bezahlen. Aber dafür gibt es Reichweite."

Wenn der Artikel aber hinter einer Paywall landet, gibt es keine Reichweite mehr. Und da ich mich halt nun mal für die Rechte behinderter Menschen einsetze und auch selber ganz viel neu hinzulerne jeden Tag, bin ich irgendwann auch zu der Erkenntnis gekommen, dass natürlich auch die Inhalte, die ich produziere von Podcasts über Blogartikel bis hin zu Videos und eben auch Interviews, dass die dann auch barrierefrei zugänglich sein sollten für Menschen mit Behinderung.

Das heißt: Wenn ich bei einen Podcast irgendwo zu Gast bin, dann weise ich immer darauf hin, dass dieser Podcast ein Transkript haben sollte. Ansonsten ziehe ich in Erwägung, meine Teilnahme abzusagen. Und da werde ich in Zukunft auch strenger sein, weil... Ja und da sprechen wir dann vielleicht auch von einem Privileg... ich einfach auch genug Anfragen habe und dann irgendwie auch selektieren kann.

Aber ich denke, wenn ich nicht mit gutem Beispiel vorangehe und vielleicht auch mit diesem Druck den oder die eine/n oder andere/n Medienmacher/in davon überzeuge, das in Zukunft auch mit Untertiteln oder Transkriptionen anzubieten  - Wer, wenn nicht ich in der Position! Und zum Beispiel der Podcast von Felix Lobrecht "Gemischtes Hack" ist, seitdem ich Gast war, im Anschluss immer transkribiert worden.

Matthias Klaus: Du hast ja eine gewisse Bekanntheit und bist zumindest mal der bekannteste derzeit aktive deutsche Behindertenaktivist, eine Medienfigur, jemand, den man kennt, wenn man Talkshows guckt - wenn man Zeitungen liest.

Wie ist das bei dir, wenn du selbst siehst: "Ah, ich kann jetzt auch z.B. mit dem Bundespräsidenten reden." Macht es was mit dir, wenn du so eine Art Ruhm hast? Wie groß ist die Verlockung für dich, da dann immer mehr zu machen und immer weiterzugehen? Oder wie kommst du da abends wieder raus, wenn du sagen kannst: "Okay, jetzt, ist aber gut. Jetzt bin ich nur noch Raul"?

Raul Krauthausen: Also ich beobachte schon in meinem eigenen Verhalten und auch Erleben, dass die öffentliche Figur sich zunehmend von der privaten Figur distanziert. Also es gibt immer weniger Privates von mir in der Öffentlichkeit und versuche dann auch ja am Abend weitestgehend abzuschalten.

Allerdings ist das schon auch gar nicht so einfach, weil sich eben aufgrund meiner Behinderung die Ebenen permanent vermischen. Also ich sehe auch privat Missstände, die ich eigentlich aktivistisch bearbeiten möchte, aber einfach Feierabend hab. Ja?

Und ich war neulich mit Freundinnen im Urlaub. Wir haben alle eine Behinderung. Und dann war der Strand nicht barrierefrei und wir wollten aber Urlaub machen. Und dann bleibt dir natürlich nichts anderes übrig, als dann in deinem Urlaub Aktivismus zu machen. Das ist nicht so einfach, da auch eine Trennlinie zu ziehen.

Dieser Ruhm bzw. die Möglichkeiten, das Privileg mit dem Bundespräsidenten zu reden oder in Fernseh-Talkshows zu sitzen. Das ist etwas, wovor ich immer noch ganz große Ehrfurcht habe und was ich auch ganz groß schätze und auch dankbar dafür bin, dass ich diese Gelegenheiten habe.

Ich merke aber auch, dass ich zunehmend weniger Lust auf sowas habe und zunehmend auch denke: "Jetzt wird es mal Zeit, dass andere Menschen nachrücken." Ich bin jetzt auch 40 und habe jetzt irgendwie nicht vor, bald aufzuhören, aber ich würde einfach gerne jetzt die Gelegenheit nutzen, um weitere Bündnisse und auch Aktivist/innen hochzuziehen und auch zu beraten und zu begleiten, dann ebenfalls mit dem Bundespräsidenten mal zu reden oder in einer Talkshow zu sitzen für ihre Themen. Und ich hab mir jetzt gesagt, dass ich mich eigentlich in meinem Aktivist/nnen-Leben vor allem auf das Thema Verpflichtung der Privatwirtschaft zur Barrierefreiheit engagieren möchte und für inklusive Schulen und den inklusiven Arbeitsmarkt. Und andere Themen - einfach - versuche ich in dem Sinne mit Netzwerken und so weiter mit anderen Menschen zusammen umzusetzen, aber nicht mehr mit mir an vorderster Reihe.

Matthias Klaus: Es gibt in gewissen Speziell-Behinderten-Gruppen (Gehörlose, zum Teil auch Blinde, zum Teil vielleicht auch andere) die Frage: "Soll man stolz sein auf seine Behinderung?" Es gab neulich auch den "Disability Pride Month" im Juli, wo so etwas, proklamiert wurde. Wie stehst du dazu? Bist du stolz auf deine Behinderung? Oder auf was können wir denn stolz sein?

Raul Krauthausen: Ich bin nicht sicher, ob man in dem Kontext "Pride" 1:1 in Stolz übersetzen kann. Ich würde das vielleicht ganz gerne ergänzen um das Wort "würdevoll".

Also ich möchte mich nicht mehr für meine Behinderung schämen müssen. Ich möchte würdevoll behandelt werden und meine Behinderung auch akzeptieren dürfen und möchte nicht geheilt werden. Ich möchte nicht therapiert werden. Ich möchte nicht permanent als "krank" oder "schwach" gesehen werden. Sondern ich möchte, dass meine Behinderung als ein Teil von mir, auch von anderen gesehen und akzeptiert wird, dass man einen würdevollen Umgang damit finden kann. Und ich glaube, das bedeutet "Pride".

Also ich möchte eben nicht stigmatisiert werden und auf das Merkmal reduziert werden, aber eben auch gleichzeitig nicht ständig gesagt bekommen: "Also für mich bist du nicht mehr behindert!" Denn die Behinderung ist ja nun mal ein Teil von mir und sie macht auch eine gewisse Expertise von mir aus. Sie ist der Grund, warum ich mit dem Bundespräsidenten gesprochen hab oder mit Dir hier im Podcast sitze.

Zu sagen "Ich sehe deine Behinderung nicht mehr", würde ja letztendlich all diese Möglichkeiten auch negieren. Und wenn jemand sagt: "Ich sehe deine Behinderung gar nicht mehr", dann meint die Person eigentlich vor allem sich selbst, dass sie davor die ganze Zeit nur die Behinderung gesehen hat. Entweder - oder aber, dass es ihm oder ihr unangenehm ist, sich mit diesem Thema auch auseinanderzusetzen und auch mit dem Schmerz. Aber vielleicht eben auch mit der Einzigartigkeit, die mit einer Behinderung einhergeht.

Matthias Klaus: Also, die gibt es schon. Ich hatte gerade einen Podcast gehört, wo das in der blinden Community debattiert wurde, ob es nicht auch so etwas gäbe wie Dinge, die man nur tun kann, weil man eine gewisse Behinderung hat und die eventuell sogar der Gesellschaft etwas nützen. Das ist ja so ein Gedanke, den man erstmal... (Also ich halte mich für einen normalen Behinderten) ...erst so nicht hat, weil man denkt: "Ach, wir haben ja alle irgendwie Defizite. Das kann doch gar nicht sein, dass wir hier auch noch etwas Nützliches machen."

Raul Krauthausen: Aja, also das was Du meinst, dass Du deine Behinderung als ein Defizit betrachtest, ist ja auch schon so eine Art internalisierter Ableismus. Nah? Also!...

Matthias Klaus: Das weiß ich natürlich.

Raul Krauthausen: Die gelernte...

Matthias Klaus: Es wird sich ja langsam besser, sag ich mal...

Raul Krauthausen: ...Also das erlebe ich ja auch. Und ich glaube da kann sich auch niemand wirklich von freimachen, weil wir nun mal alle in einer Gesellschaft sozialisiert sind, die von nicht-behinderten dominiert wird. Man könnte aber auch zum Beispiel sagen, dass blinde Menschen viersinnig sind, na? Und nicht einen Sinn weniger haben.

Man könnte auch sagen, dass "gehörlose Menschen mit der Gebärdensprache kommunizieren" und nicht sagen, dass "sie nicht hören können." Auch wenn ich das Wort "gehörlos" gerade gesagt habe: Taube Menschen - taube Menschen benutzen die Gebärdensprache und die Gebärdensprache ist so wunderschön, obwohl ich sie gar nicht kann.

Aber ich hab mich ein bisschen mit ihr auseinandergesetzt, auch historisch bedingt, dass das die einzige Sprache ist, in der man Geschichten oder Erzählungen dreidimensional in einem Raum platzieren kann. Das führt zu ganz neuer Poesie. Und das ist schon etwas Einzigartiges, etwas Eigenes, was es nur in der Gebärdensprache gibt, das es nicht in der Lautsprache geben kann und auch niemals geben wird.

Und das ist ein Potenzial. Das ist eine Stärke, die man auch genauso schätzen kann, wie man irgendeine andere Sprache schätzen sollte. Und in der Tatsache, dass ich behindert bin, steckt natürlich auch der Vorteil, auf einer Art, dass ich ständig wiedererkannt werde.

Das ist von Vorteil, wenn Du Dich für die Rechte behinderter Menschen einsetzen magst. Es kann aber auch von Nachteil sein, wenn du am liebsten nicht im Mittelpunkt stehst. Und deswegen kann es immer beides sein.

Matthias Klaus: Eine andere Frage, die mich auch bewegt: für Inklusion sind ja heute eigentlich irgendwie alle. Keiner mag mehr sagen: "Nee, das will ich nicht!" Außer es geht um schulische Inklusion, um Geld. Dann sagt man, die Inklusion wäre gescheitert.

Aber im normalen Leben finden alle immer Inklusion ganz großartig. Die Frage ist nur: Was bedeutet das am Ende? Diversity ist auch so ein Thema. Wir wollen Vielfalt und das meint auch irgendwie Behinderte. Hast du den Eindruck, dass die Diversity-Debatte die Behinderung wirklich einschließt? Oder ist das ein Feigenblatt?

Raul Krauthausen: Ich habe eher den Eindruck, dass das Thema Vielfalt und Diversity gerade im unternehmerischen Kontext fast nur noch Geschlecht meint. Und dann vielleicht noch als nächste Dimension eine andere sexuelle Orientierung, also Trans oder Homo miteinbezieht. Dann vielleicht noch die Dimension Migration.

Aber sobald es dann um die Dimensionen Rassismus oder Klassismus oder Menschen mit Behinderung geht, dann ist gerade die Dimension Behinderung, die als letztes oder gar nicht mehr genannt wird. Und das ist ein Problem, weil die Menschen, die dann diese Dimensionen vergessen, immer wieder überrascht sind und bei all ihren Bemühungen, alles richtig zu machen, dann doch oft auch aggressiv werden, wenn man sie darauf hinweist, dass sie behinderte Menschen wieder vergessen haben.

Und da müssen wir gegenhalten! Ich setze mich sehr stark dafür ein, dass auf den ganzen Konferenzen zum Thema Vielfalt die Dimension Behinderung mitgedacht wird, aber eben nicht nur mitgedacht im Sinne von: "Ja, dann haben wir halt ein Panel, wo wir über Behinderung reden", sondern eben auch, wie das Panel besetzt ist. Also das ist leider sehr oft so, dass dann nicht-behinderte Menschen über das Thema Inklusion von behinderten Menschen am Arbeitsmarkt reden und am Ende über Werkstätten von behinderten Menschen reden und wie toll das alles ist.

Aber sie lassen völlig außer Acht, dass Menschen, die in Werkstätten arbeiten, weniger als den Mindestlohn verdienen und dass das kein inklusiver Arbeitsmarkt ist, sondern eben ein exklusiver Arbeitsmarkt. Und das wir hier wirklich auch ganz viel mehr behinderte Menschen auf den Bühnen brauchen, die für ihre Rechte kämpfen und nicht von nicht-Behinderten für ihre Rechte kämpfen lassen.

Das machen Frauen inzwischen ja auch nicht mehr: Dass sie sagen: "Wir möchten, dass Männer für die Frauenquote auf den Bühnen sprechen." Sondern das ist einfach schon Standard und sollte Standard sein, dass Frauen dann über ihre Themen sprechen.

Matthias Klaus: Ich würde gerne eine private Frage zum Schluss stellen. Und zwar: Was macht Raul Krauthausen, wenn er nicht Aktivist ist zum Entspannen?

Raul Krauthausen: Wenn ich nicht Aktivist bin, dann entspanne ich mich ganz gerne mit Freunden. Ich gehe unglaublich gerne essen und manchmal gucke ich auch ganz simpel eine Serie im Fernsehen oder beim Streaming-Anbieter und mache gerne schlechte Wortwitze. 

Matthias Klaus: Schlechte Wortwitze... ein paar Beispiele?

Raul Krauthausen: "Zum Bleistift".

Matthias Klaus: So!

Raul Krauthausen: So... Oder wenn ich einen Laden verlasse, dann sage ich immer "Wirsing" statt "Wiedersehen." Und die Leute verstehen es oft gar nicht. Aber Freunde von mir, die die mich schon kennen, die wissen: "Ah, schon wieder Wirsing gesagt." Die verdrehen dann die Augen. Aber das ist so mein kleines Highlight am Tag. 

Matthias Klaus: Letztes Twitter von dir - ich glaube, es war gestern Abend: Eine Start-Up-Idee in einem Wort: "Impferando." Ja, das fand ich schön!

Raul Krauthausen: Ich denke auch!

Matthias Klaus: Ist der von Dir oder weitergegeben?

Raul Krauthausen: Nee. Der ist wohl von mir! Der ist auch schon ein halbes Jahr alt! Ich hab den einfach nur wieder hochgeholt, weil ich dachte, irgendwie: Wenn wir die ganze Zeit darüber reden, wie wir in Deutschland die Menschen zum Impfen bekommen, dann wäre das vielleicht eine Idee. Wir lassen uns ja auch Pizza nach Hause bringen. Warum könnte man nicht auch die Impfung nach Hause bringen lassen? Aber es ist eigentlich mehr ein Wortwitz als wirklich ernst gemeint.

Matthias Klaus: Das war "Echt behindert!" für heute. Bei mir zu Gast war Raul Krauthausen, Deutschlands derzeit bekanntester Behindertenaktivist. Raul, danke, dass du bei uns warst!

Raul Krauthausen: Sehr gerne und danke für die Gelegenheit. Vielleicht auf bald!

Matthias Klaus: Das war "Echt behindert!" Mein Name ist Matthias Klaus.

Jingle: Mehr Folgen unter dw.com/echtbehindert.

Raul Krauthausens Podcasts und Newsletter gibt es hier: www.raul.de

Die SOZIALHELD*INNEN findet man hier: www.sozialhelden.de

Hinweis der Redaktion: Dieses Transkript wurde unter Nutzung einer automatisierten Spracherkennungs-Software erstellt. Danach wurde es auf offensichtliche Fehler hin redaktionell bearbeitet. Der Text gibt das gesprochene Wort wieder, erfüllt aber nicht unsere Ansprüche an ein umfassend redigiertes Interview. Wir danken unseren Leserinnen und Lesern für das Verständnis.