14. Ansichten eines Ohnhänders
17. Februar 2021Jingle: DW. "Echt behindert!"
Moderator Matthias Klaus: Hallo und herzlich willkommen zu "Echt behindert!" Mein Name ist Matthias Klaus. Als ich neulich Sonntags mit meiner Frau am Rhein spazieren ging, kam uns ein Mann entgegen und fragte "Darf ich für Sie beten?" Unsere deutlich sichtbaren Blindenstöcke hatten ihn wohl dazu inspiriert. Das passiert nicht oft, aber so etwas gibt es hin und wieder. Und was wäre darauf eine passende Antwort? Vielleicht: "wenn es Ihnen hilft!" oder "tun Sie, was Sie müssen!" Wir haben uns mit einem bescheidenen. "Danke, aber das ist nicht nötig. Das brauchen Sie nicht machen" begnügt.
Mein heutiger Gast ist wahrscheinlich gut geeignet, um eine gute Antwort auf diese Frage zu wissen: Er ist Buchautor, Coach, Vortragsredner, Kabarettist, Sportler und evangelischer Pfarrer. Da reden wir natürlich nachher auch noch drüber. Und er lebt mit einer Behinderung.
Herzlich willkommen, Rainer Schmidt.
Rainer Schmidt: Guten Tag, Herr Klaus.
Matthias Klaus: So vielleicht erst mal zu Beginn: Um welche Behinderungen geht es denn hier?
Rainer Schmidt: Ich selber bezeichne mich als "Ohn-Händer," weil mir von Geburt an die Unterarme fehlen und damit natürlich auch die Hände. Und der rechte Oberschenkel ist verkürzt. Das ist das Femur-Fibula-Ulna-Syndrom, was extrem selten vorkommt, aber ein völlig normales biologisches Phänomen ist.
Matthias Klaus: Sie haben ja den Umgang mit Behinderung in gewisser Weise zum Lebensthema gemacht. Wann ist Ihnen denn zum ersten Mal aufgefallen, dass Sie anders sind?
Rainer Schmidt: Gewusst habe ich das natürlich relativ früh. Irgendwann, wenn man so zwei, drei Jahre alt wird entwickelt sich das Bewusstsein. Dann vergleichen Kinder sich mit anderen und stellen dann irgendwann fest: Ich hab da eine Besonderheit!
Und so ging mir das auch. Emotional ist es mir tatsächlich erst mit meiner Einschulung aufgefallen, weil ich dort in eine Förderschule gekommen bin, damals noch "Sonderschule". Und da, so behaupte ich immer, habe ich zum allerersten Mal in meinem Leben ein behindertes Kind gesehen: Die saßen im Rollstuhl, die hatten Glasknochenkrankheit - wie auch immer. Und das war für mich tatsächlich ein Kulturschock, weil die Kinder so anders aussahen als meine Spielkameraden im Dorf.
Meine Eltern haben mir tatsächlich erzählt, dass ich nach ein paar Tagen aus der Schule kam und mich bis auf die Unterhose ausgezogen habe, um meinen Körper nochmal von allen Seiten anzuschauen. Also offensichtlich gab es da eine intensive Auseinandersetzung. Irgendwie: meine Arme sind zu kurz, das Bein ist zu kurz. Was für mich vorher völlig selbstverständlich war.
Matthias Klaus: Wenn man dann später so größer wird und nicht dazugehört - hatten Sie das Erlebnis, dass sie irgendwann das Gefühl hatten: "Oh, jetzt gehöre ich auch mal nicht mehr dazu. Oder: Bis hierhin war es gut und jetzt werden die Jugendlichen alle pubertär und ich bin alleine!"
Rainer Schmidt: Also zuerst einmal war das tatsächlich das Phänomen relativ schnell nach meiner Einschulung, weil es war eine Ganztagsschule. Ich wurde also morgens um viertel nach sechs mit dem Bus abgeholt, bis nach Köln gefahren und war dann nachmittags um viertel nach fünf zurück.
Wenn Winter ist, gehst du dann nicht mehr raus spielen. Und da fand sozusagen eine Entfremdung statt. Im nächsten Frühjahr sagte meine Mutter: "Rainer, geh doch mal wieder raus mit den Kindern spielen" und ich sag: "Was soll ich da? Die reden doch den ganzen Tag über die Schule. Ich hab das Gefühl, ich gehöre nicht mehr dazu!"
Glücklicherweise gab es meinen Bruder, zwei Cousins und viele andere, die mich doch immer wieder mitgenommen haben. Also ich bin nie wirklich zum Außenseiter geworden, auch wenn ich einen wichtigen Erfahrungshorizont, nämlich Schule, nicht mit meinen Freunden teilen konnte.
Matthias Klaus: Sie haben ja später eine beeindruckende Sportkarriere hinter sich gebracht. Als Tischtennisspieler in den Paralympics und haben in entsprechenden Disziplinen alles gewonnen, was es nur zu gewinnen galt. War das eine Kompensationshandlung für die Behinderung oder hat das miteinander gar nichts zu tun?
Rainer Schmidt: Also das kann tatsächlich gut sein, weil ich natürlich auch gemerkt habe: Im direkten Vergleich kann ich vieles schlechter als mein Bruder, der ja noch eineinhalb Jahre jünger war. Also, schnell laufen konnte der besser. Der war nachher sogar ein bisschen größer als ich. Der ging aufs Gymnasium, ich auf die Sonderschule und dann irgendwann habe ich Tischtennis entdeckt bzw. es wurde für mich entdeckt, weil ein Mann auf die Idee kam, mir einen Schläger an den Arm zu binden.
Und dann entdeckte ich: Da bin ich eigentlich richtig gut und habe mich da reingestürzt, weil Tischtennis für mich eine Vielzahl von Erfolgserlebnissen bereit hielt. Also auch nicht im Vergleich - ich war der Allerschlechteste im Verein! Aber ich habe gemerkt: Ich werde immer besser. Und dieses Gefühl hat mich tatsächlich sehr befriedigt und glücklich gemacht, sodass ich vermutlich auch deswegen so leidenschaftlich Tischtennis gespielt habe, weil mir der Sport eben genau diese Erfahrung geboten hat.
Matthias Klaus: Reden wir über Selbstwert! Gerade als behinderter Mensch gibt es das ja oft, dass man sich zumindest zeitweise für nicht gerade seine Existenz schämt, aber vielleicht für seine Behinderung. Und ich weiß wovon ich rede. Ich hatte das auch. Wie war das bei Ihnen? Gab es Momente, wo Sie sich sozusagen Ihrer Körperlichkeit wirklich geschämt haben?
Rainer Schmidt: Ja, zuerst war aber tatsächlich diese Erfahrung: Ich wuchs in einer Familie auf, in der ich geliebt und respektiert als vollwertig akzeptiert bin. Ich bekomme die Unterstützung, die ich brauche, also eigentlich genau das, was Kinder für eine gesunde Entwicklung brauchen. Natürlich gab es Momente des Schämens.
Ich erinnere mich sehr genau daran. Ich habe eben so lässig gesagt der rechte Oberschenkel ist verkürzt. Ich trag am rechten Bein eine Beinprothese. Das wussten auch die Kinder im Dorf. Allerdings habe ich die Hosen nie runtergelassen.
Im Sommer immer in langer Hose, weil kurze Hose: ich hätte mich geschämt. Die Blicke, die Neugierigen, wie auch immer. Und das hab ich erst relativ spät, so am Ende der Pubertät vielleicht mit 19-20, hab ich dann irgendwann mich entschieden: ich gehe jetzt mal und ziehe die lange Trainingshose aus und spiele in kurzer Hose. Da gab's auch noch eine Phase, wo ich so ein blaues Tuch um meine Prothese gebunden habe. Weil ich das tatsächlich als unansehnlich empfunden habe und mich dessen geschämt habe.
Matthias Klaus: Sie erleben ja viele behinderte Menschen und setzen sich damit auseinander, wie Behinderung in der Gesellschaft angesehen ist. Was bewegt Sie denn da am meisten? Sie sagen z.B. gerne, dass Sie das Wort Behinderung gar nicht so richtig gut finden. Rainer Schmidt: Erst einmal: Ich habe in meinem zweiten Buch geschrieben: Es braucht diese beiden Grunderfahrungen. Ich kann was. Ich bin leistungsfähig und eben nicht vor allem behindert. Und ich bin, wer ich bin, als Person akzeptiert. Und wenn Sie davon genügend Erfahrungen sammeln, können Sie - glaube ich - auch die kränkenden Erfahrungen ganz gut in den Griff bekommen: Ich werde nicht angesehen, weil Menschen tatsächlich mich in den Blick nehmen und dann verstohlen wegschauen.
Tatsächlich bin ich mit der Begrifflichkeit gar nicht so unzufrieden, weil ich eben denke, ich habe einen relativ befreiten Umgang. Ich gehöre nicht zu den Betroffenen. Ich sage manchmal, ich bin der unbetroffenste Betroffene, den sie sich vorstellen können.
Und wenn jemand sagt "Naja, das ist ein Mensch mit Behinderung, werte ich den Begriff erst mal relativ neutral" - gleichwohl wissend das viele Menschen den auch als Beleidigung benutzen: "Bist voll behindert" - wie auch immer - oder ihn tatsächlich mit dem Thema Mitleid verbinden.
Und dann sage ich immer, wenn ich auf solche äußeren Bilder treffen, also Bilder über mich, und ich merke im Verhalten, in den Ausdrücken, die Menschen mir gegenüber benutzen: Ich muss mich relativ schnell anders definieren. Mein ganzes Kabarettprogramm besteht, glaube ich, darin: Die Menschen projizieren irgendeine Vorstellung auf mich und ich versuche möglichst originell damit umzugehen.
Einspieler Kabarettstück: Rainer Schmidt:
"...ich musste tanken auf dem Rückweg. Dann hatte ich das auch erledigt und kam in dieses Kassenhäuschen rein. Vor mir war eigentlich noch eine Dame dran, die bezahlen wollte. Dann erblickte der Kassierer mich. Aber: So ein kleiner Blick, stutzte direkt so und sprach zu der Dame: "Machen Sie mal Platz, da kommt ein Behinderter!" (Zuschauer lachen). 'Rechnen Sie ruhig bei der Dame ab. Ich habe Zeit'. Der Kassierer sagte 'Nix! Behinderte haben hier Vorrang!' (Zuschauer lachen).
Die Dame sagte dann auch 'Nein, nein, ich habe auch Zeit. Kommen Sie ruhig nach vorne.' Ich wollte kein großes Lamento beginnen wegen Gleichberechtigung und Inklusion und so weiter. Ich bin also hingegangen, habe bezahlt. Ich war fast wieder draußen. Ruft der Typ hinter mir her. 'Und gute Besserung!'"
Matthias Klaus: Ja, solche Sachen! Erleben Sie die so - oder wird das erfunden, damit etwas deutlich wird?
Rainer Schmidt: Also teils, teils. Die Geschichte hat tatsächlich ein Freund von mir erlebt und ich habe ihn gefragt: ich darf sie benutzen, Ja? Und manchmal verfremde ich sie noch ein bisschen zu Anfang... Mir ist es auch passiert, dass Menschen mich angesprochen haben: "Darf ich für sie beten, dass sie gesund werden?" Da habe ich natürlich sofort den Kabarettisten auf der Schulter und dann eine Möglichkeit zu antworten: "Hat das schon mal geklappt?"
Die zweite Möglichkeit wäre "Ja gerne, aber bitte lassen Sie mir zwei Wochen Zeit. Ich möchte gerne langärmelige Hemden kaufen. Sieht ja blöd aus, wenn dann plötzlich die Arme da raus stilzen." Also, ich mache dann irgendetwas aus dieser Situation. Denn tatsächlich: Humor irritiert die Menschen in dieser Situation, befreit mich aber auch ein bisschen. Ich muss es nicht moralinsauer rüberbringen. Ja, und davon erzähle ich ganz viele Geschichten.
Matthias Klaus: Sie sind aber dennoch, bevor Sie Kabarettist wurden, erstmal Pfarrer geworden. Wie haben Sie denn den Wunsch verspürt, plötzlich Pfarrer zu werden?
Rainer Schmidt: Naja, das ist ja immer eine lange Lebensentscheidung. Ich war immer schon in einem volksfrömmigen Haushalt. Meine Eltern sind so drei, viermal im Jahr zur Kirche gegangen, haben zu Mittag gebetet.
Irgendwann in der Jugendzeit bin ich mehr in die Gemeinde gekommen, habe den Glauben intensiver gelebt und sehr ernst genommen. Und ja: Es war vor allem die Neugier, die mich dann ins Theologiestudium reingebracht hat, weil ich viele Glaubensaussagen so nicht verstanden habe, kritisch gesehen habe und immer neugieriger wurde.
Und dann kam ein Biografiebruch hinzu. Ich habe mich nämlich von meiner damaligen Verlobten getrennt und dachte, ich könnte jetzt nochmal einen Neuanfang wagen und bin dann zum Studium nach Wuppertal gezogen.
Matthias Klaus: Dann wurden Sie Theologe. Sie haben sich ja bestimmt mit den Fragen auch beschäftigt: Der liebe Gott und die Behinderung. Ist Behinderung jetzt eine Strafe Gottes oder nicht?
Rainer Schmidt: Also de facto ist es keine Strafe Gottes. Es gibt die wunderbare Mose Geschichte: Der wird ja am Dornbusch berufen und er hat eine schwere Sprache und eine schwere Zunge. Und dann gibt es ein tolles Gespräch zwischen Gott und Mose. Und irgendwann sagt Gott tatsächlich zu Mose, "Wer hat den Menschen den Mund gemacht? Wer macht sehend oder blind? Taub oder hörend? Bin ich es nicht?" Da wird also Mose auf die Schöpfermacht verwiesen.
Und natürlich gibt es Bibelstellen, wo die Behinderung als Leid dargestellt wird. Und manchmal straft Gott mit Krankheiten. Aber ja: Man muss sich auch in der Bibel und in der Tradition hin und wieder entscheiden. Denn es gibt sehr vielfältige Stimmen in der Bibel. Und das alles zu harmonisieren, musst du nicht, wenn du historisch kritisch Theologie studiert hast.
Sondern Du weißt, dass ist zu sehr unterschiedlichen Zeiten und unterschiedlichen Kontexten geschrieben worden. Und für mich steht fest: Der Mensch ist per se ein begrenztes Wesen. Meine Begrenzungen sind anders als die anderer Menschen. Das spricht aber überhaupt nicht für eine gute Beziehung zu Gott und umgekehrt.
Matthias Klaus: Meine Kindheitserinnerungen oder Jugenderinnerungen waren immer, dass da so eine Art Trost ausgesprochen wurde. Gott liebt alle Menschen, auch dich, du Behinderter. Und da wirkte das für mich immer so ein bisschen wie: Es wird nicht ernst genommen. Also meine Behinderung wird jetzt in dem Fall nicht ernst genommen. Das ist irgendwie sowas wie billiger Trost. So hab ich das oft empfunden. Erleben Sie sowas auch? Wie können Sie mit diesen Argumenten umgehen? Sie sind ja doch auch ein Vertreter des Göttlichen hier.
Rainer Schmidt: Naja, wie gerade schon angedeutet: Ich glaube, dass man mich nicht trösten muss, weil ich kurze Arme habe. Das ist ein Umstand in meinem Leben. An den habe ich mich längst gewöhnt. Mit dem habe ich mich versöhnt. Und natürlich liebt mich Gott.
Dann ist der Satz aber auch natürlich sehr kontextabhängig: Wenn ich irgendwie einem gerade Verunfallten am Krankenhausbett, der jetzt gelähmt ist, sage "Ja, aber Gott liebt dich." Das ist ja nun gar nicht sein Thema, sondern er kann von heute auf morgen nicht mehr laufen. Und der muss vor allen Dingen Raum für Klage haben.
Und wenn dann Menschen sagen "Ja, aber ich bleib bei dir, ich gehe mit dir da durch." Dann sage ich natürlich der liebe Gott ist auch im finsteren Tal. Das wissen wir vom Psalm Beter. Und die Frage ist immer: Leidet der Mensch, weil er jetzt behindert ist?
Es gab oder gibt, glaube ich, immer noch eine Insel, da sind ganz viele Menschen gehörlos. Weil, also: Kleines Inzuchtproblem! Aber es werden zwei Sprachen gesprochen, nämlich die Muttersprache und die Gebärdensprache. Und die Menschen, die da gehörlos sind, leiden in der Regel nicht, weil sie können mit jedem anderen Menschen auf der Insel kommunizieren.
Denn die Sprechenden sprechen selbstverständlich auch die Gebärdensprache. Also ist es immer kontextabhängig. Und blinde Menschen zu Hause: ein Freund von mir, der kommt da hervorragend zurecht. Er sagt aber: Im Hotel ist es natürlich für mich viel schwieriger.
Sprecher: Sie hören "Echt behindert!" den Podcast für Barrierefreiheit und Inklusion der Deutschen Welle. Wir sind auf allen gängigen Podcast Plattformen. Email Feedback und Kommentare an echt.behindert@dw.com. Mehr Infos und Links gibt es unter dw.com/echtbehindert. Und bewerten Sie uns wo immer Sie uns hören.
Matthias Klaus: Sie sind ja heute kein Pfarrer mehr, sie haben das Pfarrer-Sein auf Pause gesetzt, um dann Kabarettist und Vortragender zu werden. Was hat Sie daran gereizt? Was konnte man da als Pfarrer nicht machen, was Sie denn so besser können?
Rainer Schmidt: Als Kabarettist wirst du in völlig andere Kontexte eingeladen und darfst auch viel frecher sein, natürlich. Das wird von einem Kabarettisten fast erwartet. Gleichsam wissen die Menschen, dass ich Pfarrer bin. Und hin und wieder stelle ich natürlich die Frage: Darf man das als Pfarrer auf einer öffentlichen Bühne? Und natürlich mache ich mir darüber Gedanken. Aber es ist so: Ich kann frecher sein, ich kann provokanter, ich kann satirischer sein. In der Kirche erwarten die Menschen natürlich einen braven, aufmunternden, wie auch immer. Und Humor hat natürlich auch hin und wieder mal die Funktion des Verstörens.
Matthias Klaus: Sie erzählen ja schon viel von sich selbst und haben viele Beispiele, wo sie selber drin vorkommen und sich selber auch ein bisschen veralbern, hätte ich bald gesagt. Was sollen die Leute davon lernen?
Rainer Schmidt: Ich hoffe immer, dass die vorsichtige Haltung: "also oh, da kommt ein Behinderter, jetzt muss ich aufpassen. Nicht, dass ich mich plötzlich diskriminierend verhalte."... Also, so eine Reaktion ist tatsächlich: Ich bin sehr stark verunsichert. Behinderung löst nach wie vor Verunsicherung aus.
Und ich sage immer Mein pädagogisches Ziel mit Kabarett habe ich dann erreicht, wenn nachher ein Zuhörer kommt und sagt: "Hör mal, Schmidt, kennst du schon folgenden Behindertenwitz?" Und der sich dann traut, mir einen Witz zu erzählen, den er mir vermutlich vor dem Abend nicht erzählt hätte? Also ich weiß: Ich mache Fehler. Ich werde auch im Umgang mit Frauen oder diversgeschlechtlichen Menschen immer wieder mal Fehler machen.
Da komme ich nicht umhin, auch weil ja jeder Mensch das anders sieht. Ich werde ja oft gefragt "Gib mir mal einen Tipp Wie gehst du damit um?" Und ich sage "Ich weiß es ja nicht."
Bei einem Rollstuhl fahrenden Menschen, wenn ich mit ihm rede, was soll ich machen? Soll ich einen Stuhl holen, mich hinsetzen, um auf gleicher Höhe zu sein? Einige sagen "Ach Wunderbar, dass du nicht so auf mich herab guckst!" Einen anderen Kumpel, da habe ich mir selbstverständlich einen Stuhl geholt, sagt er: "Lass den Quatsch. Bleib stehen. Du bist eben Footi. Ich bin Rolli. Deswegen fühle ich mich nicht erniedrigt, weil ich sitze und du stehst."
Sie merken, das ist immer ein Kommunikationsproblem und wir kommen da nicht raus. Es gibt kein absolut richtiges Verhalten. Es gibt ein mutiges Miteinander und dann auch nicht irgendwie genervt sein oder grantig werden, wenn jemand sagt "Gerade finde ich Deine Art, Dich auszudrücken, Dich zu verhalten blöd und ich fühle mich gerade diskriminiert." Dann fordere ich den Menschen auf: Erkläre mir, was daran ist für dich nicht okay. Ich will das gerne verstehen.
Einspieler Kabarettstück: Rainer Schmidt:
"Brief vom Landeskirchenamt: Einladung - Praktische Theologie, meine Prüfungsaufgaben: 'Wunderheilung durch Handauflegen.' (Zuschauer lachen) Ja! Hab ich direkt zurückgeschrieben 'Düsseldorf, ihr Leute, ihr scherzt wohl das geht nicht bei mir!' Da sagen sie: 'Okay, da haben wir Verständnis für: Alternative Naturwunder - suchen Sie sich eins aus. Ich hab mir ausgesucht: 'Übers Wasser laufen.' Ich hab die Prüfung mit 'zwei' bestanden. Die fand glücklicherweise im Winter statt. (Zuschauer lachen)"
Matthias Klaus: Kriegen Sie manchmal von Menschen zu hören: "Das kann man doch jetzt nicht machen?"
Rainer Schmidt: Ja, das bekomme ich sozusagen, nach jedem dritten Auftritt. Dann bekomme ich eine empörte Email. Das steilste war (der Vorwurf) "Blasphemie." Wo ich dann deutlich erklärt habe: Ich mache mich nicht über den lieben Gott lustig, aber über sein Bodenpersonal sehr wohl.
In meinem Programm gibt es sexualisierte Scherze. Mittlerweile erkläre ich: Was ist der Unterschied zwischen einem sexistischen und sexualisierten Scherz? Weil natürlich das Thema Erotik für Pfarrer und Kirche ein ganz sensibles Thema ist. Und genau deswegen will ich auch nicht darauf verzichten.
Und es gibt tatsächlich auch Menschen mit Behinderungen, die mir schreiben. Also seit zwei Jahren beginne ich mein Kabarettprogramm mit dem Motto relativ schnell, so in Minute fünf trete ich vor das Publikum und sage: Mein Motto lautet, als Pfarrer und Kabarettist: "Danke, lieber Gott, dass ich nicht so langweilig aussehe wie mein Publikum!" Und erzähle dann tatsächlich: Es ist so schön, wenn du außergewöhnlich bist, weil du erlebst so viel. Und das erzähle ich Ihnen heute Abend.
Mein Kabarettprogramm hat sich völlig von alleine geschrieben. Und da gibt es natürlich etliche Menschen, die sagen "Es kann ja wohl nicht sein, dass du jetzt Behinderung als Talent verkaufst, als Begabung sogar." Ja, ich sage aber bei mir ist das so. Ich habe kein frustrierendes Leben. Ich bin nicht permanent diskriminiert. Ich benutze meine Behinderung auch, um das Leben lustiger zu machen.
Matthias Klaus: Nun gibt es ja vielleicht auch Behinderungen, die ( das sagten Sie ja selber schon) schwerer sind als Ihre, wo einfach die Umstände des Lebens so kompliziert sind, dass man das jetzt nicht direkt vermarkten möchte?
Rainer Schmidt: Ich habe tatsächlich sogar eine Situation im Kabarettprogramm, wo ich dann ganz nüchtern, also fast predige, wo ich sage: Ich sehe zwei Gefahren. Man kann von zwei Seiten vom Pferd runterrutschen: Da sind die wahnsinnig dynamischen Hochleistungssportler, die bei Paralympics. Wenn du die mal interviewst mit deiner Behinderung (sagen sie): Ach, ich bin nur ein bisschen anders begabt, aber mein Leben ist völlig normal. Und du denkst "Hey, gar kein Leiden da?"
Und wenn du die in einer ruhigen Stunde mal fragst "Sag mal, wie ist das mit Querschnittslähmung auf Toilette gehen? Wie geht das?" Und dann überlegt er: Das dauert schon ganz schön lang, weil die Blase, die muss ja so gereizt werden. Und manchmal sitzt du auch 20 Minuten auf der Toilette. Das ist in der Kneipe dann doof.
Die Hälfte der Party kriegst du nicht mit und die andere Hälfte ist tatsächlich so "Ah, der Arme. Behinderung ist pures Leiden!" Und ich glaube, beide Seiten stimmen nicht. Aber oder anders gesagt: Beide Seiten stimmen. Behinderung hat etwas Schweres. Sie können Dinge nicht machen. Auch in meinem Leben gibt es Dinge, wo ich nach wie vor sage: Kochen ohne Hände ist beschwerlich. Ich will aber daran nicht verzweifeln.
Und ich glaube, ich hab da auch auf der Bühne einen sehr ehrlichen Umgang mit den Dingen, die nach wie vor schwer bleiben, über die ich mich ärgere. Das erste Buch habe ich benannt "Lieber arm ab als arm dran."
Es gibt immer wieder Leute, die das zitieren, als "besser arm ab, als arm dran." Und da widerspreche ich vehement: Es wäre mir viel lieber, ich hätte lange Arme, wenn es eine Möglichkeit gäbe, möglichst ohne Schmerzen und ohne Risiko, mir zwei Arme an zu operieren, es kann sein, dass ich sagen würde "Ja. Her damit!
Ich würde gerne Klavier spielen. Ich möchte gerne viel schneller kochen und andere Dinge, die ich im Leben machen könnte, auf den Himalaya rumkraxeln. Also natürlich hat Behinderung immer auch eine schwere Dimension. Aber wie gesagt: nicht zu 100 Prozent. Und das völlig unbehinderte Leben ist auch mitnichten immer belastungsfrei.
Matthias Klaus: Es gibt ja auch noch das wirtschaftliche Thema, dass z.B. wirklich die Arbeitslosigkeit unter Behinderten größer ist, dass es nicht so einfach ist den Job zu kriegen, den man will, dass es nicht so einfach ist, die richtige Wohnung zu finden. All dieses gibt's ja auch noch - das ganze Leistungsthema: Wenn man Leistung als Maßstab nimmt, muss ein Behinderter immer schlechter abschneiden. Da wüsste ich jetzt nicht, was der göttliche Trost, sage ich mal so, in dem Fall wäre oder ob man nicht einfach ein bisschen die Gesellschaft ändern müsste.
Rainer Schmidt: Ja, da muss man absolut die Gesellschaft ändern. Da nützt ja Trost nichts. Menschen mit Behinderung, Akademiker, suchen doppelt so lange an einer Stelle wie Akademiker ohne Behinderung. Nur mal als ein Wert genannt. Und in der Tat: Es gibt viele Beschwernisse.
Es gibt auch ein paar Vorteile. Wenn man auf dem Behindertenparkplatz parken darf, hat man das Problem nicht, wie auch immer. Aber die überwiegen natürlich überhaupt nicht. Und insofern, wenn wir über Spiritualität reden: Ich bin mitnichten ein Mensch, der sagt "Naja, Hauptsache der liebe Gott hat dich lieb und die Welt kann noch so schrecklich sein." Also Glaube darf auf gar keinen Fall irgendeine Vertröstung sein. "Demnächst bist du im Himmel, dann geht's dir gut." Sondern Glaube will immer aktiv die Welt und unsere Gesellschaft gestalten und das geht nur Richtung Inklusion.
Also ich hab's mal definiert als die Kunst des Zusammenlebens von sehr verschiedenen Menschen und zwar des gleichberechtigten Zusammenlebens. Menschen haben sehr unterschiedlicher Qualifikationen: Hochbegabte, tief Begabte, Linkshänder, Rechtshänder, Menschen, Männer, Frauen wie auch immer, dass die möglichst gleiche Chancen in dieser Gesellschaft haben. Und das ist die ganz große Aufgabe. Und da will ich überhaupt keinen frommen Kleister drüber pappen.
Matthias Klaus: Das war "Echt behindert!" Bei mir zu Gast heute war Rainer Schmidt: Kabarettist und Pfarrer und Buchautor. Herr Schmidt, ich danke Ihnen herzlich für dieses Gespräch.
Rainer Schmidt: Ich danke für Ihr Interesse, Herr Klaus.
Matthias Klaus: Das war "Echt behindert!" Mein Name ist Matthias Klaus.
Sprecher: Mehr Folgen unter dw.com/echtbehindert.
Hinweis der Redaktion: Dieses Transkript wurde unter Nutzung einer automatisierten Spracherkennungs-Software erstellt. Danach wurde es auf offensichtliche Fehler hin redaktionell bearbeitet. Der Text gibt das gesprochene Wort wieder, erfüllt aber nicht unsere Ansprüche an ein umfassend redigiertes Interview. Wir danken unseren Leserinnen und Lesern für das Verständnis.