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12. Werden behinderte Menschen in der Pandemie vergessen?

21. Januar 2021

Für Menschen, die unseren Podcast nicht hören können, stellen wir hier ein Transkript zur Verfügung. Viele Schwerbehinderte kommen in der Impfreihenfolge nicht vor.

https://p.dw.com/p/3nx8n

Zum Podcast geht es hier.

Jingle: DW. "Echt behindert!"

Moderator Matthias Klaus: Herzlich willkommen zu "Echt behindert!" Mein Name ist Matthias Klaus. So vor sechs Wochen sprachen wir in unserem lokalen, Blinden- und Sehbehindertenverein in Bonn im Vorstand darüber, wie wir das denn mit den Corona Impfungen machen würden. Es ging um so Sachen wie: wie wir unseren älteren Mitgliedern helfen könnten oder welche speziellen Regeln es für uns Blinde und Sehbehinderte geben würde.

Wir kämen ja wohl bald dran, denn wir seien ja schließlich Risikogruppe. Und dann kamen die Empfehlungen der ständigen Impfkommission. Und dann kam die Corona-Impfverordnung. Und wir kamen gar nicht darin vor. Heute mit mir im Podcast ist jemand, der auch nicht drin vorkommt: schwerbehindert, Risikogruppe - und keine Priorität beim Corona Impfen.

Hallo und willkommen, Constantin Grosch.

Constantin Grosch: Ja, hallo.

Matthias Klaus: Was ist denn mit Ihnen? Dass Sie früher geimpft werden wollen als andere?

Constantin Grosch: Also ich selbst bin ein Mensch mit Muskelerkrankung. Das heißt ich sitze im Rollstuhl. Ich habe eine fortschreitende Erkrankung. Die Kraft in den Muskeln lässt immer weiter nach. Und das betrifft unter anderem auch die Atemmuskulatur. Das heißt ich habe beispielsweise nur noch etwa ein Restvolumen in der Lunge von 30 Prozent.

Ich kann also schon bei einer normalen Erkältung nicht richtig abhusten, was eben ein hohes Risiko z.B. für Lungenerkrankungen, für eine Lungenentzündung und ähnliches mit sich bringt. Und ja: All solche Erkrankungen, also Muskelerkrankungen, fortschreitende Erkrankungen, die zählen mit zur Risikogruppe. Und deswegen ist es natürlich problematisch, dass wir derzeit nicht in den Prioritäten vorgesehen sind bzw. auch nicht unsere pflegenden Angehörigen oder Pflegekräfte, die vielleicht um uns herum arbeiten.

Matthias Klaus: Sie leben mit Assistenz. Ich denke mal, dass es doch immer noch viele Menschen gibt, die sich da drunter so direkt nichts vorstellen können. Wie funktioniert das, mit Assistenz zu leben?

Constantin Grosch: Ich bin 28 Jahre jung und lebe in meiner eigenen Häuslichkeit, in einer eigenen Wohnung, im schönen Weserbergland wo der Rattenfänger herkommt. Und ich hab eben ein Team aus acht sogenannten Assistenzpersonen. Die sind direkt bei mir angestellt und ich bekomme dafür wiederum das Geld vom Staat, was der sonst für ein Krankenhaus, für eine Einrichtung, für ein Pflegeheim ausgeben würde.

Und diese Personen sind dann in einem normalen Schichtdienst, wechseln sich ab. Immer ist eine Person ist da und unterstützt mich in meinem Alltag, übernimmt die pflegerischen Tätigkeiten und auch die Haushaltshilfe. Das ermöglicht mir eben ein ziemlich selbstständiges Leben zu führen, wo ich mich nicht mit einem Pflegedienst absprechen muss, keine Einschränkungen habe wie in einer Einrichtung, sondern ich kann wirklich meinen Alltag so gestalten, wie mir das eigentlich beliebt, also ein ziemlich normalisiertes Leben führen.

Matthias Klaus: Aber das klingt nicht nach einem Meter fünfzig Abstand, nehme ich mal an...

Constantin Grosch: Nein, natürlich nicht. Also die Pflegetätigkeiten, die sind selbstverständlich. körpernah. Also wir kommen um "das tägliche Kuscheln" nicht herum. Und deswegen ist es natürlich auch so schwer, sich in der aktuellen Situation vor einem Kontakt mit anderen Menschen zu schützen.

Also ich habe hier jeden Tag mehrere Schichtwechsel mit meinen Assistenzpersonen und ich weiß oder kann jedenfalls nicht garantieren, dass die Personen nicht in ihrem eigenen privaten Alltag Kontakt mit anderen Corona-Infizierten oder anderen Personen hatten. Und dementsprechend bin ich eigentlich einem ähnlichen Risiko ausgesetzt, wie auch eine Person in einem Pflegeheim, die vielleicht auch von drei, vier verschiedenen Pflegepersonen am Tag unterstützt wird.

Matthias Klaus: Kommt es denn mal vor, dass so jemand, der die Assistenz verrichtet, auch mal sagt, "Ich mach das jetzt nicht mehr. Das ist mir alles zu eng?" Ist Ihnen das schon passiert?

Constantin Grosch: Nein, glücklicherweise bisher nicht. Natürlich ist es so, dass das vielleicht kein alltäglicher Beruf ist, sondern das ist natürlich ein sehr enges Verhältnis, was man auch über die Zeit aufbaut. Und mein Assistenzteam weiß um die aktuell schwierige Lage und natürlich auch, dass ich kaum eine andere Möglichkeit hätte, meinen Alltag derzeit irgendwie zu organisieren. Das ist auch gleichzeitig ein großes Risiko, was es gibt. 

Also was mache ich, wenn ein Großteil meines Teams jetzt in Quarantäne müsste? Oder was passiert zum Beispiel, wenn ich selber Corona hätte? Selbst wenn es kein schlimmer Verlauf ist? Aber kann ich dann z.B. meine Assistenten dazu zwingen, mich trotzdem zu unterstützen mit all den Risiken, die damit verbunden sind?

Nur irgendwie muss ich ja morgens aus dem Bett geholt werden, ja, zur Toilette gehen oder etwas essen. Die Unterstützungsleistung wird weiterhin benötigt und das stellt sowohl mich als auch die Assistenten vor eine sowohl psychische Belastung als auch eine organisatorische Frage: wie man das Risiko dort möglichst gering halten kann.

Matthias Klaus: In jedem Fall gute Gründe, wenn es denn eine Impfung gibt, sie auch möglichst bald zu kriegen. Das gilt ja wahrscheinlich nicht nur für Sie, sondern auch für die Assistenz. Ich nehme an, die kriegen sie auch nicht.

Constantin Grosch: Genau. Das ist eine der Problematiken, die wir derzeit mit der Impfverordnung haben, dass es hier eine Trennung gibt zwischen der Frage: Wer ist eigentlich eine Pflegekraft oder medizinisches Personal?

Wenn jemand in einer Einrichtung oder bei einem ambulanten Pflegedienst arbeitet, dann zählen die eben als eine solche Pflegeperson oder medizinisches Personal und bekommen die Impfung relativ früh? Dadurch, dass ich aber als Einzelperson natürlich kein Pflegedienst bin oder keine Einrichtung als solches, haben auch meine Pflegekräfte nicht diesen Status und erhalten damit die Impfung, zumindest laut der derzeit geltenden Impfverordnung, auch nicht prioritär.

Ich persönlich als Einzelperson, als Betroffener falle allerdings auch nicht unter die Prioritäten, die wir derzeit haben. Ich bin selbstverständlich nicht über 80 Jahre alt. Ich habe auch nicht Trisomie 21 und selbst in der Prioritätsgruppe 3, also die, die als letztes priorisiert wird. Auch dort sind derzeit neuromuskuläre Erkrankungen, trotz des hohen Risikos, das sie haben, nicht geführt, weil das eben alles so seltene Erkrankungen sind, dass die Ständige Impfkommission das bisher nicht aufgeführt hat.

Matthias Klaus: Wenn man jetzt im Heim leben würde, dann käme man vor und dann käme man ja auch in der Impfverordnung vor, spätestens in der zweiten Gruppe. Will heißen: Man ist nicht bei denen jetzt, die über 80 sind, sondern bei den nächsten, wäre man so dabei. Also vielleicht ab Ende Februar. Aber Behinderte, die nicht in Heimen leben, kommen gar nicht vor. Haben Sie eine Erklärung wie kann so etwas passieren? Ich meine, so wenig sind wir jetzt auch nicht.

Constantin Grosch: Also ich glaube, daran wird einfach wieder deutlich, wie wenig die Vorstellung verbreitet ist, dass Menschen mit Behinderung ambulant versorgt werden oder vielleicht auch mit einer schwereren Behinderung selbstständig in der eigenen Häuslichkeit leben können und das auch wollen. Die ist einfach noch nicht weit verbreitet: sowohl in der Gesamtgesellschaft und im politischen Kreis leider auch.

Allerdings muss man vielleicht sogar noch einen Schritt weitergehen und sagen: Die zuständigen Fachpolitiker und auch das Bundesgesundheitsministerium müssten natürlich sehr wohl wissen und das wissen sie auch, dass es Menschen in der ambulanten Versorgung gibt oder mit selbst beschaffter Pflege und Unterstützung. Und sie haben das ja, man kann es entweder sagen, vergessen oder ignoriert es.

Ich würde mittlerweile einen Schritt weitergehen und sagen: Die ersten ein, zwei Male, damals im März und April 2020 - als die Corona Situation sehr frisch war - da mag so etwas einfach durchrutschen. Aber wir haben mittlerweile ein Jahr lang Zeit gehabt, um uns auch auf diese zweite Welle und auch auf die aktuelle Impfsituation vorzubereiten. Und da ist es eigentlich unvertretbar, dass solche Personengruppen vergessen wurden.

Man führt halt genau die alten, ich sag mal, Klassenkämpfe innerhalb von Menschen mit Behinderung wieder auf, dass man eine bessere Unterstützung und Versorgung derjenigen hat, die in Einrichtungen leben und diejenigen, die ein möglichst selbstbestimmtes und selbständiges Leben führen, die werden hier wieder benachteiligt oder haben es jedenfalls sehr schwer, an die entsprechende Unterstützung zu kommen.

Das ist tatsächlich einfach etwas, was sich immer wieder wiederholt in der Behindertenpolitik. Und das muss man auch in der Öffentlichkeit immer wieder betonen und formulieren und sagen, dass das ein Sonderweg ist, den Deutschland geht, denn im europäischen Ausland gibt es eine solche derartige Trennung eigentlich nicht. 

Matthias Klaus: Da fragt man sich doch immer Warum ist das so? Haben Sie eine Erklärung? Ist es kein böser Wille, oder?

Constantin Grosch: Ja, also einerseits ist das historisch gewachsen. In Deutschland gab es über viele Jahrzehnte hauptsächlich eine stationäre Versorgung. Wir kommen natürlich auch aus noch dunkleren Zeiten, bei dem Menschen mit Behinderung eben immer schon, ich sage mal, weggesperrt wurden in bestimmten Einrichtungen, und Sondereinrichtungen waren.

Und wir haben ja auch heute, wenn man sich die Bildungspolitik anguckt immer noch das weitverbreitete Schema, dass man sagt: Es braucht immer etwas Besonderes, eine Sondereinrichtung oder ähnliches, wo Menschen mit Behinderung angeblich besonders gut versorgt werden.

Fakt ist: Das stimmt einfach nicht. Es gibt eine Weiterentwicklung - zum Glück! Und wir wissen heute, dass so gut wie jeder Mensch mit Behinderung ein selbstständiges Leben führen kann in einer eigenen Häuslichkeit. Das wird derzeit in Deutschland noch nicht so umgesetzt - politisch. Das hat unterschiedliche Gründe.

Das eine mögen Kostengründe sein. Das zweite, was derzeit sehr deutlich wird, ist die Personalknappheit. Der Bundesgesundheitsminister hat im letzten Jahr vor Corona noch versucht, z.B. die ambulante Intensivpflege wieder in die stationären Systeme hineinzubringen und so Personal in dieses Thema hineinzubekommen. Das heißt: Es gibt durchaus ein Interesse von Politik, den ambulanten Bereich möglichst klein zu halten. Das widerspricht aber quasi allen Ideen und Vorstellungen, die auch z.B die UN-Behindertenrechtskonvention vorsieht.

Matthias Klaus: Das muss man vielleicht nochmal ein bisschen erklären. Also es geht darum, dass Personal, was in ambulanter Pflege ist, also z.B. bei Ihnen arbeitet, dort arbeiten soll, wo es nicht genug Personal gibt. Und das heißt, da braucht man weniger Personal, um einzelne Leute zu pflegen. Oder wie ist das gemeint?

Constantin Grosch: Genau das ist der Fall. Wenn wir uns beispielsweise ambulante Intensivpflege angucken, also wirklich für Menschen, die rund um die Uhr einen hohen pflegerischen Unterstützungsbedarf haben, da hat eben eine Person bis zu 4 bis 5 Personen, die sie in Schichtsystemen unterstützt.

Und in Einrichtungen ist das eben genau andersrum. Da habe ich dann vielleicht eine Person, die für 4 Betroffene zuständig ist. Das heißt: Es kehrt sich um. Deswegen: Ja - man muss einfach, das gehört dazu, sagen, dass die ambulante Versorgung personalintensiver ist, was ja auch der große Vorteil daran ist.

Dadurch hat jeder eine höhere Selbstständigkeit und auch viele Pflegekräfte bevorzugen diese Modelle mittlerweile, weil sie da eben ihren Idealen und Vorstellungen von einer menschengerechten und sozialen Pflege eher nachkommen können. Aber das ist vielleicht nicht die Vorstellung, die Politik hat bzw. es ist eben ein einfacher Weg zu sagen, wir verschieben hier einfach Personal, um unsere bestehenden Systeme möglichst lange aufrecht zu erhalten. 

Matthias Klaus: Wir haben das Problem ja weltweit. Überall soll geimpft werden. Wissen Sie, wie das in anderen Ländern funktioniert?

Constantin Grosch: Ich kann zwei konkrete Beispiele nennen. Das eine ist quasi ein Negativ-Beispiel: das wäre Österreich. Die haben sich in dem Falle leider an Deutschland orientiert. Es gibt auch dort bisher keine Aussagen darüber, ob Menschen mit Behinderung überhaupt in der Prioritätenliste enthalten sind bzw. sie sind de facto derzeit nicht enthalten. Aber es gibt keine Aussage darüber, wann man die gegebenenfalls öffnen könnte oder nach welchen individuellen Kriterien man sie öffnen würde.

Es gibt aber auch ein positives Beispiel: Großbritannien. Dort haben Hausärzte die Möglichkeit, Patienten als besonders vulnerabel zu kennzeichnen und ihnen eben eine Bescheinigung auszustellen. Und mit dieser Bescheinigung ist es dann möglich, auch relativ kurzfristig bei den lokalen Gesundheitsbehörden sich melden zu können und dann einen Termin zu bekommen. In größeren Städten funktioniert das derzeit leider auch nur in bestimmten Zentren. Aber gerade auch außerhalb von den großen Zentren - In Großbritannien gibt es noch mobile Teams - da scheint das etwas besser zu funktionieren.

Da steht mittlerweile natürlich die Menge von Impfstoffen einfach in einer größeren Zahl zur Verfügung, aber da scheint das etwas organisierter zu sein. Und gerade dieser Aspekt, dass Hausärzte individuelle Patienten anders einstufen können, das ist extrem wichtig, weil wir das derzeit in Deutschland von der Rechtslage nicht haben. Und das, obwohl es die Ständige Impfkommission empfiehlt. Aber das Bundesgesundheitsministerium ist bisher noch nicht nachgekommen.

Matthias Klaus: Sie hören den Podcast "Echt behindert!" Heute bei mir hier mit im Podcast ist Constantin Grosch. Er ist Aktivist und, sagen wir mal Behindertenrechtler. Kann man das sagen? Sind Sie Behindertenrechtler?

Constantin Grosch: Also ich bin kein Jurist, von daher weiß ich nicht, ob der Begriff "Rechtler" dann so passend ist. Aber ich bin auf jeden Fall ein Behindertenrechtsaktivist. Also ich setze mich sehr für das Recht für und von Menschen mit Behinderungen ein.

Matthias Klaus: Wir haben das Wort "Triage" im letzten Jahr schmerzlich lernen müssen. Die Frage, was geschieht, wenn Menschen nicht behandelt werden können, weil es nicht genug Intensivbetten gibt? Das ist zum Glück in Deutschland immer noch nicht so, aber wir nähern uns oder wir haben uns zeitweise sehr angenähert, dass solche Fragen gestellt werden müssen. Wer wird behandelt, wenn es nicht genug Möglichkeiten gibt? Was hat das denn mit Behinderung zu tun?

Constantin Grosch: Ja, das hat viel mit Behinderung zu tun, weil die Fachärzte und die Fachgesellschaften Kriterien herausgeben, nach denen Ärzte sich orientieren in so einer Situation. Also wenn ich in ein Krankenhaus eingeliefert werde und ich habe nur noch ein Bett oder ein Gerät oder was auch immer frei - aber zwei Patienten , dann muss der Arzt sich ja irgendwie entscheiden. Und bisher ist es zumindest so, dass wir als Gesellschaft z.B. ein Losverfahren vielleicht vom Gefühl her nicht richtig finden.

Und auch die Fachgesellschaften finden das nicht richtig, sondern sie suchen sich Kriterien, nach denen sie auswählen. Und sie haben sich bisher eben da für die sogenannte Erfolgswahrscheinlichkeit entschieden. Also Sie überlegen: Welcher dieser beiden Patienten, die ich vor mir habe, hat die größte Wahrscheinlichkeit z.B. Corona zu überleben. Und derjenige mit dieser höchsten Wahrscheinlichkeit bekommt dann eben das Bett oder das Gerät und der andere nicht.

Diese Kriterien sind aber so aufgestellt, dass sie aus unserer Perspektive strukturell Menschen mit Behinderung benachteiligen, unabhängig davon, ob sie tatsächlich eine höhere oder geringere Erfolgswahrscheinlichkeit haben. Ich kann vielleicht ein Beispiel machen. In diesen Kriterien gibt es die sogenannte Gebrechlichkeitsskala. Die ist eigentlich mal entwickelt worden, um bei älteren Personen schnell einschätzen zu können, wie eigentlich ihr Gesamtzustand ist.

Die Fachgesellschaften möchten das aber jetzt für alle Menschen anwenden. Und wenn da z.B. eine Person kommt, die Unterstützung braucht, z.B. im Rollstuhl sitzt, dann würde sie die schlechteste Bewertung bekommen, weil sie als unselbstständig bewertet wird. Und dementsprechend dann auch in so einem Vergleich zwischen zwei Personen wahrscheinlich eher nicht behandelt werden würde.

Das sagt aber erstmal überhaupt nichts darüber aus, ob diese Person nicht doch erfolgreich eine Corona Behandlung überleben könnte, nur weil sie z.B. im Rollstuhl sitzt. Und das halten wir für sehr diskriminierend und für eine sehr große Gefahr für Menschen mit Behinderungen in Deutschland. 

Matthias Klaus: Sie gehören zum Verein AbilityWatch. Sie haben ja auch einiges unternommen, was z.B. die Triage angeht. Was haben Sie da im letzten Jahr gemacht? 

Constantin Grosch: Ja, zunächst haben wir uns überhaupt mit dem Thema beschäftigt. Wir waren sehr erschüttert, als relativ schnell in der Gesellschaft so Fragen aufgekommen sind wie: Sollen wir überhaupt noch einen 90-Jährigen behandeln oder stattdessen doch lieber jemand Jüngeres behandeln? Und die gleichen Fragen können natürlich auch beim Thema Behinderung aufkommen.

Gerade mit der deutschen Geschichte sind wir natürlich alle sehr sensibilisiert für diese Fragestellung bzw. es hat uns eben sehr erschrocken, wie schnell man dann doch in solche Muster verfällt. Und wir haben im letzten Jahr verschiedenste politische Gremien angeschrieben und drum gebeten, doch eine gesellschaftliche Debatte darüber zu führen, auch im Bundestag, welche groben Rahmen und ethischen Vorstellungen wir denn haben. Ist z.B. diese Erfolgswahrscheinlichkeit richtig oder sollte es nicht vielleicht danach gehen, wer es am dringendsten benötigt - wem es schon am schlechtesten geht? Oder soll man andere Kriterien heranziehen?

Das ist aber nicht auf Erfolg gestoßen. Man ignoriert dieses Thema von politischer Seite leider komplett. Und deswegen haben wir dann im letzten Jahr eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eingereicht, in der Hoffnung, dass dort die Feststellung getroffen wird, dass das ein Bereich ist, der ja rechtlich geregelt werden muss. Das ist derzeit nicht der Fall und wir warten jetzt eben auf die Stellungnahmen oder Rückantwort des Bundesverfassungsgericht.

Matthias Klaus: Hat man sich geäußert, wie lange das noch dauern wird? Zunächst gab es ja wohl eine kurze Ablehnung, dass man sich jetzt direkt erst mal nicht damit beschäftigen will.

Constantin Grosch: Ja, also wir hatten einen Eilantrag gestellt. Das war damals im April des vergangenen Jahres und im Juni. Wir müssen uns zurückerinnern: Im Juni war natürlich auch die Infektionslage sehr niedrig in Deutschland. Glücklicherweise hat das Bundesverfassungsgericht gesagt: Derzeit ist nicht erkennbar, warum man jetzt bedürftig darüber entscheiden müsste. Zumal auch das Bundesverfassungsgericht einige Fragen zu dem Thema noch hat. Sie haben also diesen Eilantrag abgelehnt, haben aber gleichzeitig das Thema für sehr wichtig erachtet und externe Dritte, sachverständige Dritte gebeten, Stellungnahmen abzugeben.

Die Stellungnahmen sind auch bis zum 15. Dezember eingegangen. Einige davon kann man auch online nachlesen und wir warten jetzt darauf, dass es hoffentlich im Januar oder spätestens im Februar erstmal eine erste Regung des Verfassungsgerichts gibt. Denn mit Blick auf die aktuelle Lage wäre es natürlich gut gewesen, ein Signal zu bekommen, um gegebenenfalls auf die Politik nochmal einen stärkeren Druck ausüben zu können - dass sich damit endlich befasst wird.

Matthias Klaus: AbilityWatch ist ein Verein. Wer verbirgt sich dahinter? Wie groß ist das? Wer ist da so aktiv?

Constantin Grosch: AbilityWatch ist eigentlich eine ganz interessante Plattform. So nennen wir uns, weil wir eigentlich ein etwas untypischer Verein sind. Wir sind nicht diagnosegebunden. Das heißt: Wir sind Menschen von allen unterschiedlichen Behinderungshintergründen. Und wir sind eigentlich ein sehr kleiner Verein. Die genaue Zahl will ich auch gar nicht veröffentlichen, weil wir ja ein sehr aktivistischer Verein sind und gerne auch den Überraschungsmoment nutzen möchten und eher in der Vergangenheit auch durchaus provokante Aktionen durchgeführt haben, weil wir glauben, dass das ein Werkzeug ist, damit Menschen mit Behinderung auch in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden können.

Matthias Klaus: Also keine Lobbygruppe im klassischen Sinne (immer wieder Abgeordnete anbaggern und ihnen Vorlagen liefern und zum Abendessen gehen, wenn das denn wieder geht), sondern sie machen andere Aktionen.

Constantin Grosch: Genau richtig. Selbstverständlich machen wir das zwischendurch auch mal. Aber wir sind fest davon überzeugt, dass es andere Verbände in Deutschland auch mit einer viel größeren Historie gibt, die klassische politische Lobbyarbeit besser können als wir. Was wir gut können, ist Kampagnenarbeit, ist Öffentlichkeitsarbeit. Und das sind mit Sicherheit auch provokante Aktionen wie das Anketten am Bundestag oder ähnliches.

Matthias Klaus: Anketten am Bundestag ist jetzt schon eine Weile her. Wie war das? Was haben Sie da gemacht?

Constantin Grosch: Im Jahr 2012 hat das angefangen, dass man sich in Deutschland mit dem Bundesteilhabegesetz befasst hat - also ein Gesetz, was eigentlich für Menschen mit Behinderung die Teilhabe und das selbstständige Leben verbessern sollte. Die Entwürfe, die von der Politik kamen, waren aber sehr negativ.

Und dann haben Menschen mit Behinderungen in Deutschland gesagt: Da müssen wir deutlich machen, dass das nicht unser Gesetz ist. Und deswegen haben wir einige Protestaktionen gemacht, unter anderem am Bundestag, haben uns dort festgekettet und gezeigt, dass dieses Gesetz, was von der Öffentlichkeit oft so wahrgenommen wurde, als sei es eines für Menschen mit Behinderung eigentlich eins ist, was nicht unseren Interessen entspricht. 

Matthias Klaus: Vielleicht sind es keine Guerillaaktionen, die sie machen, aber die Aktionen, über die man lesen kann, klingen manchmal zumindest, sagen wir mal, eher disruptiv. Wenn ich lese "Barrieren brechen". Das heißt, man nimmt sich etwas vor und macht es weg. Diese Aktion gibt's seit einem Jahr. Haben Sie denn schon Barrieren gebrochen?

Constantin Grosch: Ja, wir haben tatsächlich schon ganz konkrete Barrieren gebrochen, also wir haben uns wirklich auch kleine genommen. Für uns ist alles wichtig, ob groß oder klein: Wir haben in Freiburg dafür gesorgt, dass nach jahrzehntelangem Kampf Ampeln behindertengerecht wurden - also mit akustischem Signal ausgestattet. Wir haben Freizeitparks angegangen, weil sie zum Beispiel sehbehinderte Menschen nicht in Fahrgeschäfte gelassen haben. Dort sind wir auch weiterhin dran. Es ist dann ganz interessant, wer im Hintergrund eigentlich solche Dinge verhindert. Da spielt dann plötzlich der TÜV eine Rolle oder eine DIN-Norm. 

Also wir gucken uns wirklich unterschiedliche Bereiche an. Das ganz große Ziel ist aber, die Barrierefreiheit in der Privatwirtschaft vorzuschreiben. Viele Menschen glauben ja, dass wir uns in unserer Gesellschaft irgendwie klar zur Barrierefreiheit verpflichtet haben, also Rampen und Aufzüge bauen, weil das viele merken, wenn sie vielleicht mit der Bahn fahren oder in ein Rathaus gehen.

Aber im Alltag von Menschen mit Behinderung ist man eben eher seltener in einem Rathaus oder in einem Bahnhof. Sondern wir alle wollen vielleicht genauso irgendwo einkaufen gehen, in eine Kneipe gehen, ins Kino. Und die müssen alle nicht barrierefrei sein. Also manche sind es, aber viele eben auch nicht. Es gibt keine Verpflichtung dazu. Da hinkt Deutschland anderen Ländern extrem hinterher. Und wir möchten dafür kämpfen, dass es endlich, endlich eine Verpflichtung in Deutschland gibt, dass auch die Privatwirtschaft barrierefrei sein muss.

Matthias Klaus: Wenn die Menschen, die uns hier zuhören, das gut finden oder mögen oder fördernswert finden, können sie sie irgendwie unterstützen.

Constantin Grosch: Ja, sehr sogar. Also einerseits ganz konkret zu dem ganzen Thema Corona und Triage gibt es auf abilitywatch.de derzeit eine Spendenkampagne für diese Verfassungsbeschwerde. Da sehr gerne draufgehen. Es gibt auch aktuelle Informationen: z.B. die Stellungnahmen der externen Dritten. Und dann gibt es ja unsere Plattform barrierenbrechen.de. Auch dort kann man sehr gerne auf Barrieren hinweisen, die jeder im Alltag erlebt.

Wie gesagt, das können auch Kleinigkeiten sein. Es kann ein einzelnes Geschäft sein. Das kann aber auch etwas Strukturelles sein. Man kann uns gerne darauf hinweisen. Wir gehen dann auf Sie zu und schauen, ob wir ganz konkret dort eine Barriere brechen können oder ob wir das aufnehmen in unsere rechtliche Prüfung, um dann zukünftig in einer Gesetzesinitiative diese Themen anzugehen.

Matthias Klaus: Das war "Echt behindert!" für heute. Bei mir im Podcast zu Gast (kann man ja fast nicht sagen, da wir ja immer irgendwie über Distanz verbunden sind alle miteinander) ... Bei mir im Podcast war Constantin Grosch von AbilityWatch ein Behindertenaktivist, der auf den verschiedensten Feldern tätig ist. 

Herr Grosch, ich danke Ihnen sehr herzlich dafür, dass Sie Zeit hatten bei uns.

Constantin Grosch: Ich bedanke mich auch. Hat Spaß gemacht. Bis zum nächsten Mal.

Matthias Klaus: Das war "Echt behindert!". Mein Name ist Matthias Klaus.

Sprecher: Mehr Folgen unter dw.com/echtbehindert.

Hinweis der Redaktion: Dieses Transkript wurde unter Nutzung einer automatisierten Spracherkennungs-Software erstellt. Danach wurde es auf offensichtliche Fehler hin redaktionell bearbeitet. Der Text gibt das gesprochene Wort wieder, erfüllt aber nicht unsere Ansprüche an ein umfassend redigiertes Interview. Wir danken unseren Leserinnen und Lesern für das Verständnis.