43. Das Recht, ein Kind zu haben
14. April 2022Jingle: DW. "Echt behindert!"
Moderator, Matthias Klaus: Herzlich willkommen zu "Echt behindert!" Mein Name ist Matthias Klaus.
Svenja Steinke lebt in Berlin. Sie ist 34 Jahre alt und hätte gerne ein Kind. Sie ist Single und der Versuch einer künstlichen Befruchtung hat nicht geklappt. Dann also ein Pflegekind nehmen. Klingt so weit logisch, doch Svenja Steinke ist körperlich eingeschränkt. Und egal, was so alles in der UN-Behindertenrechtskonvention steht, ein Kind hat sie bisher nicht.
Heute in "Echt behindert"! geht es um den Kinderwunsch von Menschen mit Behinderung.
Schönen guten Tag erst mal, Frau Steinke.
Svenja Steinke: Schönen guten Tag!
Matthias Klaus: Ich gestehe, als ich davon gelesen habe, dass Sie als Mensch mit Assistenzbedarf ein Kind adoptieren wollen, habe ich erst mal gedacht: "Man kann es sich aber auch wirklich kompliziert machen." Kriegen Sie solche Reaktionen öfter?
Svenja Steinke: Also eigentlich sowohl von den Menschen und von den Behörden natürlich sowieso, weil die Behörden einfach damit wenig Berührungspunkte haben. Als ich beim Jugendamt ankam und sagte: "Ich will eine Pflegschaft für ein Kind übernehmen", hat die [Mitarbeiterin] erst mal gesagt: "Ja, wie wollen Sie das machen?" Das sind ja erst mal die Standardreaktionen, die von Jugendämtern kommen. Das hat aber auch damit zu tun, dass sie - wie sie selber sagte - selbst keine Erfahrung mit Menschen mit Behinderung machen oder nur sehr sparsam und sich deswegen ihre Realität halt meistens selber erst mal ausdenken bis sie sozusagen jemanden erleben und [erfahren] wie es wirklich aussieht in der Realität.
Matthias Klaus: Okay, versuchen wir mal diese Reaktion nachzuvollziehen. Vielleicht erst mal, um die Dimension der Sache zu erfassen. Welcher Art ist Ihre Einschränkung denn überhaupt?
Svenja Steinke: Meine Art der Einschränkung ist: Ich habe während der Geburt einen Sauerstoffmangel erlitten, und dadurch sind eben bestimmte Teile im Gehirn kaputt gegangen oder funktionieren nicht mehr, und es beeinträchtigt insofern meine Beine. Also ich kann nicht selbstständig laufen und [es betrifft] in gewisser Weise auch ein bisschen die Feinmotorik an den Händen, bei so Sachen, wo man basteln muss oder wo es etwas Fingerspitzengefühl braucht, da brauche ich eben auch Hilfe. Wenn ich zum Beispiel Sachen esse, und ich muss Fleisch klein geschnitten bekommen, weil es sehr hart ist, dann fällt es mir zum Beispiel auch sehr schwer.
Matthias Klaus: Sie leben mit Assistenz. Können Sie mal so ein bisschen erzählen, wie das funktioniert? Wie viele Leute arbeiten für Sie, und was machen die so den Tag über?
Svenja Steinke: Gerne. Ich habe ein Team von sechs Assistenten, die mich im Alltag begleiten und zwar 24 Stunden am Tag. Das heißt, wenn ich die Assistenz mal nicht benötige, kann ich auch jederzeit sagen: "So, jetzt möchte ich mal meine Ruhe haben oder meine Freizeit." Die nehme ich mir auch immer, gerade wenn ich Besuch habe, und da versuche ich auch immer sehr strikt meine Privatsphäre zu haben. Ich benötige Hilfe beim Anziehen in gewisser Weise, dann aber auch beim Zubereiten mancher Mahlzeiten, aber auch bei manchen Begleitungen, also Wegebegleitung. Wenn ich irgendwo hinfahren will, Freunde besuchen will, dann habe ich zwar auch einen E-Rollstuhl, mit dem ich sehr selbstständig sein kann - oder Gott sei Dank auch bin - aber auch manchmal [brauche ich] einfach nur Hilfe, um mir eine Jacke anzuziehen, um in die Jacke zu kommen. Also eigentlich bei allen Tätigkeiten oder bei allen Sachen, die ein normaler Mensch machen möchte und dabei eben keine Unterstützung braucht, da hole ich sie mir eben oder fordere sie ein, wenn ich sie von den Assistenten brauche.
Matthias Klaus: Das wäre das eine. Sie leben mit Assistenz, und dann reden wir mal über einen Kinderwunsch. Wann kam denn bei Ihnen zum ersten Mal so die Idee auf, dass Sie gerne ein Kind hätten? Das ist ja vielleicht in der Situation auch nicht unbedingt üblich, weil eine Menge Menschen mit Behinderung denken: "Ach, das schaffe ich sowieso nicht." Wie war das bei Ihnen?
Svenja Steinke: Also so im Allgemeinen ging bei mir der Kinderwunsch in meiner Pubertät los. Da wusste ich schon, dass ich Kinder haben möchte. Aber konkret wurde es dann, da war ich 27 Jahre alt. Und so um mich herum begannen alle Freunde und alle also, die so in meinem Alter auch waren … Ich hatte eine sehr enge Freundin, die war ein Jahr älter als ich und sie begann dann schon Kinder zu bekommen. Und ich habe gemerkt: "Scheiße, ja, du bist jetzt auch schon 27, und du hast nicht mehr ewig Zeit." Für mich waren dann auch noch ganz viele Fragezeichen im Raum: "Wird meine Behinderung eigentlich - wenn ich mich dazu entscheide, ein Kind zu bekommen, also ein leibliches Kind zu bekommen - wird es dann die gleiche Behinderung haben wie ich? Wie wird es sein? Habe ich vielleicht noch irgendwelche Gendefekte, wovon ich nichts weiß?"
Also ich wollte erstmal noch viel mehr abklären lassen, und mir war aber auch ganz schnell klar... Ich hatte schon lange Jahre vorher gespart für diesen Kinderwunsch und hatte mir vorgenommen, diesen Kinderwunsch auch umzusetzen, auch dann, wenn ich keinen Partner habe, weil für mich zum Beispiel auch immer die Diskussion bestand: "Ja, aber du hast doch gar keinen Partner, wie soll denn das gehen?" Und für mich war halt immer ganz wichtig zu sagen: "Ich habe gerade keinen Partner, und ich wünsche mir natürlich auch einen Partner. Aber ich kann mir halt jetzt auch keinen Partner backen. Und für mich war immer klar, dass dieser Kinderwunsch nicht von einem Partner abhängen darf oder unabhängig von einem Partner sein muss.
Matthias Klaus: Aber von der Einschränkung hing er bei Ihnen nicht ab. Also Sie haben nicht gedacht: "Ach, schaff ich nicht. Ist das schwer? Wie soll ich denn das jetzt machen?" Also hatten Sie Zweifel immer mal wieder daran, ob diese Idee überhaupt eine gute Idee ist?
Svenja Steinke: Nein, überhaupt nicht. Überhaupt nicht. Also, dass ich die Idee gut finde, wusste ich schon immer, und das war auch sicher einfach, auch deswegen, weil ich auch ganz klar kommunizieren kann: "Wo liegen meine Schwierigkeiten? Also was geht nicht und was geht?" Das kann ich ganz klar kommunizieren. Und klar würde es im konkreten, wenn es jetzt ein Kind gäbe, noch mal bestimmte Herausforderungen mit sich bringen. Aber das tut es ja für normale Eltern in Anführungsstrichen auch. Das heißt, es geht immer wieder darum, sich gemeinsam Kniffe zu erarbeiten: "Wie kann was noch besser für mich funktionieren?" Aber es war nie die Frage, ob es funktioniert, sondern eher die Frage wie.
Matthias Klaus: Und dann haben Sie sich entschlossen - da Sie keinen Partner haben - zur künstlichen Befruchtung. Das ist richtig, ja?
Svenja Steinke: Genau. Und dieser Weg begann dann auch für mich. Was ich ein bisschen schade finde war, dass ich damals … Ich hatte ja viel gespart, und es ist so, dass wenn man als Single, sich künstlich befruchten lassen möchte, dann bekommt man - anders als verheiratete Paare - zum Beispiel keine finanzielle Unterstützung von den Krankenkassen. Das heißt, ich wusste auch, dass mein Erspartes irgendwann aufgebraucht sein wird und dass diese Versuche, die ich jetzt starte, auch durchaus erfolglos bleiben können. Also, ich bin mit dem Wissen reingegangen, dass es auch sein kann, dass ich zwar versuche, mir den Wunsch zu erfüllen, aber dass es auch genauso gut sein kann, dass es eben nicht funktioniert. Und mit dem Wissen bin ich eben auch reingegangen.
Matthias Klaus: Wie sind Sie denn dann vorgegangen? Die Idee hatten Sie: "Ich möchte ein Kind adoptieren, weil ich eben eins möchte." Wie geht man da los? Was muss man dann tun, damit das in die Wege geleitet wird?
Svenja Steinke: Also es fing bei mir so an, dass ich erst mal eine Zeit lang gebraucht habe, um nach den gescheiterten Versuchen der künstlichen Befruchtung, das Ganze überhaupt zu verarbeiten. Dass man jetzt erst mal - in Anführungsstrichen - für eine Zeit sich von dem Gedanken verabschieden muss, dass man ein leibliches Kind bekommt. Und das hat bei mir erst mal eine Weile gedauert, überhaupt den Gedanken zuzulassen, dass ich jetzt erst mal kein leibliches Kind bekommen kann. Und es hat bei mir bestimmt anderthalb Jahre gedauert. Und während die dann vergingen, hatte ich immer mal wieder Kontakt zu einem kleinen Kind. Der war dann so ein halbes Jahr [alt], und ich hatte in der Assistenz hier jemand, der mit einem Kleinkind immer mal hier zu Besuch war, und ich konnte ganz viel an diesem Kind auch üben. Und darüber ist mir eigentlich bewusst geworden, dass ich auf jeden Fall mehr Verantwortung für ein Kind übernehmen will. Genau. Und dann habe ich gedacht: Mensch, was gibt es denn eigentlich noch für Möglichkeiten? Und habe mich dann dafür entschieden, eine Pflegschaft beim Jugendamt übernehmen zu wollen. Und so war der Schritt, denn eine Adoption kommt bei mir leider nicht in Frage, denn dafür müsste ich verheiratet sein und müsste ja bestimmte Altersgrenzen erfüllen. Oder wie sagt man denn dazu? Ja, ich glaube, eine Altersgrenze gibt es da auf jeden Fall, genau.
Matthias Klaus: Wenn man dann zum Jugendamt geht und eine Pflegschaft beantragt, haben Sie da direkt gesagt: "Ja, ich habe eine Behinderung." Oder wird das abgefragt?
Svenja Steinke: Ich bin erst mal allgemein hingegangen zum Jugendamt, habe mir alle Unterlagen, die man zur Anerkennung einer Pflegemutter erst mal braucht, sozusagen …[zusammengesucht]. Da kriegt man dann erst mal die Auflage: "Schreiben Sie eine Lebensgeschichte von, sagen wir mal, zehn Seiten über sich. "Wie gehen Sie mit Trauer um? Wie gehen Sie mit Konflikten um? Wie sind Sie erzogen worden?" Also da sind bestimmte Themenbereiche vom Jugendamt vorgegeben, die man eben auch erfüllen muss oder zu denen man was schreiben muss. Und dann halt noch ein anderer Fragebogen, wo man so 40 Fragen bekommt. Also: "Was für ein Kind möchten Sie? Junge? Mädchen? Wie alt soll das Kind sein? Wie würden Sie damit umgehen, wenn Ihr Kind Drogen nehmen würde? Also erst mal so, und dann waren das - glaube ich - noch mal so 40 andere Fragen. Also, das dauert ganz schön lange, bis man erst mal das Prozedere und die Unterlagen überhaupt zusammen hat. Man braucht dann nur noch Atteste von Ärzten, die eben Sachen bestätigen, dass man keine ansteckenden Krankheiten hat, so etwas zum Beispiel.
Matthias Klaus: Wie geht es dann weiter? Wer kommt dann zu Ihnen und wer begutachtet, wer redet mit Ihnen? Wie funktioniert das? Und wann fingen denn die Schwierigkeiten an?
Svenja Steinke: Ja, und zwar war das so, dass die Sachbearbeiterin mir am Anfang die Unterlagen zum Ausfüllen gab, wahrscheinlich schon mit der Hoffnung, dass ich dann nicht mehr wiederkomme. Oder nach dem Motto: "Ja, wenn sie erst mal sieht, wie viel Aufwand das ist, dann kommt sie vielleicht gar nicht mehr." Aber dann war das so, dass, ich das abgegeben habe. Und dann hat sich die Mitarbeiterin auch ziemlich schnell gemeldet und hat gesagt: "Ja, ich würde Sie gerne einladen und mal zum Gespräch bitten und dann besprechen wir, wie es weitergeht." Und dann war ich in einer Art Prozess mit dem Jugendamt. Das ging bei mir so insgesamt anderthalb Jahre, wo immer wieder jeden Monat Termine beim Jugendamt waren, wo ich allmählich Einblicke in mein Leben geben musste.
Matthias Klaus: Und dann kommen irgendwann Gutachten, dann stellen die fest: "Nein, wir geben Ihnen kein Kind." Wie ist das?
Svenja Steinke: Das ist natürlich erst mal ein totaler Schlag ins Gesicht, weil, gerade als Mensch mit Behinderung, hat man ja sowieso schon das Gefühl, man müsse sich jetzt besonders gut darstellen. Man kann sich gar nicht perfekt genug darstellen - in Anführungsstrichen. Also selbst, wenn ich jetzt einen Salto könnte, dann reicht es auch nicht. Also man weiß gar nicht, wie man sich eigentlich noch darstellen soll oder wie man sozusagen den Jugendämtern auch ... Also ich sag mal, Vorurteile hat ja jeder. Gerade bei den Jugendämtern, eben weil sie so wenig Erfahrungen mit Menschen mit Behinderung haben. Aber ich habe auch gar nichts dagegen, wenn ein Mensch zum Beispiel Vorurteile hat. Aber ich finde es eben wichtig, sich darauf einlassen zu können und zu sagen: Okay, ich habe da Vorurteile, aber ich überprüfe jetzt erst mal, ob die Vorurteile, die ich dann in mir trage, ob sie überhaupt zutreffen oder ob ich mir da im Kopf vielleicht mein eigenes Bild male. Und deswegen geht es nicht.
Matthias Klaus: Haben Sie das schon gespürt, dass das hier nix wird, oder war das dann eher so ein Schreck?
Svenja Steinke: Am Anfang war es schon so, dass ich gemerkt habe, sie ist da auch skeptisch. Die Sachbearbeiterin ist damit auch sehr offen umgegangen und hat gesagt: "Tut mir leid, ich habe keine Erfahrung mit Menschen mit Behinderung, und Sie sind meine erste, wo ich sozusagen mit Leib und Seele erfahren darf: 'Wie ist es wirklich?'" Und sie hat sich dann auch Zeit genommen, den Fall lange genug zu beurteilen und nicht da durchzuhetzen. Und für mich war das ziemlich schnell klar.
Also es ging erst darum … ich kann es ja auch ganz offen sagen, ich beziehe ALG [Arbeitslosengeld – Anmerkung der Redaktion] zwei" zum Beispiel. Und ein Punkt war, dass sie gemeint hat: "Ja, aber wenn man eine Pflegschaft übernehmen möchte, dann muss man in einem Job stehen." Wo ich gesagt habe, ja, das verstehe ich auch, aber danach, wenn ich einen Säugling übernehmen würde, dann muss ich ja sowieso wieder kündigen. Und das hat sie mir auch bestätigt. Das heißt, ich muss quasi einen Job haben, nur um gut auszusehen, kann danach den Job aber wieder kündigen, weil ja danach der Säugling meine Unterstützung braucht. Also bin ich doch gerade in der besten Situation überhaupt. Und dann sagte sie auch: "Ja, da haben Sie Recht, und es ist auch nicht logisch. Aber wir haben hier halt Vorgaben." Und da haben sie versucht, noch so ein bisschen in den Job, den ich nicht habe, zu preschen. Also halt auch immer wieder Bausteine gesucht, warum das vielleicht nicht gehen kann.
Matthias Klaus: Was für Anforderungen werden denn so gestellt? Gab es Anforderungen, die Sie nicht erfüllen können? Oder ging es darum, dass die Assistenz Dinge tut, die Sie nicht tun können? Es gab ja wohl die eine oder andere Begründung für die Ablehnung. Was haben die denn gesagt, warum das alles nicht geht, jenseits dessen, dass Sie keinen Job haben?
Svenja Steinke: Also die Ablehnungsbegründung bestand darin, dass ich ja zum einen sechs Leute im Team habe. Und die Begründung war halt, dass sie gesagt haben: Ja, aber sechs Leute für ein Kind, das aus schweren Verhältnissen kommt, was ja bei Pflegekindern nun mal der Fall ist, das wäre also nicht günstig. Sechs Leute würden die Kinder nicht verkraften, weil zu oft Personen wechseln, sozusagen zu oft die Bezugsperson wechseln würde, was ich persönlich nur bedingt verstehen kann. Weil natürlich ist es so, dass wenn ich jetzt die Situation nehme: Kinder sind in Heimen, da ist es ja auch so, dass eine Bezugsperson auch mal wechselt. Also ich als Betreuungsperson bleibe ja dem Kind immer erhalten und werde auch die Erziehung des Kindes übernehmen. Das heißt, die Assistenz ist ja wirklich nur dazu da, die körperlichen Sachen, die ich eben nicht ausführen kann, für mich zu übernehmen. Das war sozusagen eine Begründung.
Und zum anderen aber auch einfach zu sagen: "Wir können uns nicht vorstellen, wie das ist. Wie soll denn das gehen?" Also der klassische Fakt, der mir immer wieder vorgehalten wurde, auch von der Sachbearbeiterin des Jugendamtes war: "Stellen Sie sich vor, das Kind ist ein Jahr alt oder anderthalb Jahre und Sie gehen spazieren und das Kind ist auf dem Roller und rollt mit seinem Roller, sozusagen davon, und Sie kommen nicht hinterher. Was ist denn dann?" Und dann habe ich immer gesagt: "Ja, das ist ja klar, dass ich das nicht kann." Und dafür wäre dann die Assistenz da, dass sie sozusagen hinter dem Kind natürlich auch her sein muss. Und das ist natürlich nur ein Fakt, was mir aber immer wieder vorgehalten wird, was ich auch verstehen kann, dass man davor Angst hat oder eine Befürchtung. Aber ich sage halt: "Ich weiß ganz genau, wie ich die Assistenz anweisen müsste, dass da auch nichts passiert."
Matthias Klaus: Wenn Sie jetzt ein Kind hätten bekommen können und hätten einfach eins, dann hätten Sie ja dasselbe Problem. Das wäre auch nicht verboten. Das ist richtig, oder?
Svenja Steinke: Genau, auf jeden Fall. Aber die vom Jugendamt haben halt gesagt: "Ja, da haben Sie Recht, Frau Steinke.“ Ich habe denen nämlich das Gleiche erzählt. Also vorm Jugendamt habe ich gesagt: "Das wäre doch bei meinem Kind jetzt ähnlich." Und dann haben sie gesagt: "Ja, das stimmt auch, aber wenn wir es uns halt aussuchen können oder wenn wir es verhindern können, dann muss es doch nicht sein."
Matthias Klaus: Jenseits dessen, dass Ihnen das Kind abhaut und Sie mit dem Rollstuhl nicht hinterherkommen, wo Sie sagen würden: "Das kann ich nicht, das würde dann auf jeden Fall die Assistenz machen“, haben Sie solche Listen mal machen müssen?
Svenja Steinke: Ich habe die Listen im Kopf gemacht, bei mir selber und habe auch abgewogen: Was kann ich, was kann ich nicht. Und da wäre zum Beispiel auch noch ein weiterer Punkt, was ich natürlich auch nicht kann ist, das Kind jetzt in einen Hochstuhl heben. Wenn das Kind jetzt irgendwie einen Hochstuhl hat, wo es reingesetzt werden muss oder rausgeholt werden muss, dann kann ich es natürlich auch nicht, ist logisch, oder jetzt von der Erde ganz tief von irgendwo hochheben. Also das sind Sachen, die kann ich halt einfach nicht oder die werde ich auch nicht können. Da muss man auch nicht drum herumreden. Und ich nehme jetzt beispielsweise mal Wickeln, da gibt es Sachen, die kann ich halt selbstständig, wie zum Beispiel alles vorbereiten für den Wickeltisch, mit dem Kind herumalbern oder auch liebevoll sein, Streicheleinheiten geben. Das kann ich halt alles. Aber da gibt es halt auch Sachen beim Wickeln, da brauche ich eben auch wieder Unterstützung. Aber das kann ich halt genau benennen und denke, dass es weniger entscheidend ist, was ich jetzt körperlich kann. Sondern für das Kind ist ja viel wichtiger und entscheidend, dass ich eine Stabilität habe, dass ich dem Kind Liebe gebe, dass das Kind weiß, ich bin da und das Kind bekommt das, was es braucht, nämlich ein liebevolles zu Hause.
Jingle: [Musik spielt]
Matthias Klaus: Nach der Ablehnung vom Jugendamt: Wie ist es dann weitergegangen bei Ihnen?
Svenja Steinke: [Ja, danach habe ich mich erst mal entschieden.] Mir kam die Ablehnung vom Jugendamt sehr widersprüchlich vor, und ich habe mich dann entschieden, zur Ombudsstelle zu gehen, und zwar zu LADG [Landesantidiskriminierungsgesetz – Das Landesantidiskriminierungsgesetz ist ein Berliner Landesgesetz, das Diskriminierungen im Rahmen öffentlich-rechtlichen Handelns untersagt. Anmerkung der Redaktion], also die Ombudsstelle, sozusagen die Landesstelle der Ombudsstellen, die auch für Diskriminierung zuständig ist und die sich auch für Menschen mit Behinderung sehr stark einsetzt. Und da hat mich persönlich halt sehr stark geärgert, dass ich meinen Fall ... Ich habe meinen Fall geschildert, denen auch eine lange Mail geschrieben und dann habe ich nie die Möglichkeit gehabt, mit der Ombudsstelle persönlich zu sprechen. Und das war eigentlich so der Punkt, der mich geärgert hat, dass sie quasi meinen Standpunkt zu dem ganzen Fall nie gehört haben, sondern lediglich aus der Stellungnahme, die sie dann vom Jugendamt nochmal angefordert haben, daraus geschlossen haben: "Hey, das was das Jugendamt sagt, ist korrekt, und wir können das Jugendamt verstehen." Aber ohne mich gefragt zu haben: "Wie ist denn alles gelaufen, und was ärgert Sie jetzt konkret oder was ist genau? Also ich hatte nicht das Gefühl, sie vermitteln irgendwie, sondern ich hatte das Gefühl, sie sind so auf einer Seite.
Matthias Klaus: Das Jugendamt darf sich doch, wenn ich das richtig verstehe, am Ende aussuchen, wem es eine Pflegschaft gibt oder nicht. Ist das so?
Svenja Steinke: Das ist so eine Sache. Also die dürfen ... Ich sage es mal anders, man hat kein Recht, ein Pflegekind zu bekommen. Also, sie dürfen schon sagen: "Das sehen wir als geeignet und das nicht." Und dann kann ich als Betroffene sagen: "Moment mal, ich sehe das jetzt als Diskriminierung" und kann das dann versuchen, was ich jetzt auch gerade tue, mit dem Herrn Richter das halt rechtlich in Frage zu stellen. Aber erst mal dürfen sie Ihre Entscheidung für sich treffen und dürfen die Entscheidung auch so mitteilen.
Matthias Klaus: Sie sind jetzt in dem Stadium, wo Sie Rechtsberatung haben, sich rechtlichen Beistand geholt haben, um diese Sache zu klären. Was wollen Sie genau klären? Die Frage, ob das Diskriminierung ist? Oder soll das dann so enden, dass Sie am Ende das Jugendamt dazu bringen, Ihnen das Kind zu geben?
Svenja Steinke: Also ich finde es ganz wichtig, herauszuarbeiten, dass es eben Diskriminierung ist, weil in meinem Fall habe ich mich diskriminiert gefühlt und das, finde ich, muss auch mal hinterfragt werden oder das muss auch mal den Behörden zu denken geben, weil ich glaube, ich bin da Vorreiter in diesem Fall. Und natürlich wäre es gut, wenn am Ende, zum Beispiel rauskommen würde "Ja, das war Diskriminierung und man im Zuge dessen sagen kann: Okay, das ist diskriminierend gewesen." Und ich kann in dem Zuge eine Pflegschaft noch mal neu beantragen und sagen: "Okay, jetzt ist die Behinderung sozusagen beiseite. Und jetzt noch mal."
Matthias Klaus: Ich habe im Vorfeld mit Dr. Michael Richter, dem Anwalt, hier gesprochen, habe ihn mal gefragt, wie er die Sache sieht. Das hören wir uns jetzt mal kurz an.
Dr. Michael Richter: Es geht um diese Einschätzung, dass sie in diesem Fall nicht geeignet ist. Also zum einen haben wir große Zweifel an den tatsächlichen Feststellungen, die so einfach nicht richtig sein können und auch bezüglich der Folgerungen, die daraus resultieren. Ein Teil der Begründung, der uns besonders stört ist, dass gesagt wird: Wenn sie 24 Stunden auf Assistenz angewiesen ist, also immer auf die Hilfe anderer, dann könnte ein ordentlicher Verbindungsaufbau zum Kind, also ein Vertrauensverhältnis, nicht entstehen. Und das ist natürlich eine grundsätzliche Frage. Und das ist auch genau der Grund, wo ich sehe, das kann man mal ganz grundsätzlich klären, und diese Einschätzung würde ich überhaupt nicht teilen.
Es es geht natürlich letztlich darum, hier dem Jugendamt klarzumachen, dass eine so pauschale Einschätzung, und meiner Meinung nach auch nicht fundierte Einschätzung, so nicht stehen bleiben kann. Ihr müsst sie auch unter dem Aspekt der Diskriminierungsfreiheit noch mal überprüfen und überarbeiten. So ein Urteil hätte ja auch Öffentlichkeitswirkung. Das heißt, auch wenn da vom Tenor, also sprich vom Ergebnis her, nur eine Entschädigung herauskäme, dann wäre aber damit ja auch die Feststellung verbunden: "Das ist so nicht richtig", und es stellt eine Diskriminierung dar. Und so möchten wir auch eine Praxis hier bei der Beurteilung durch das Jugendamt erreichen.
Und das Entscheidende ist: Diese Klage ist deswegen spannend, weil wir in Berlin, also das Ganze spielt sich in Berlin ab ... und in Berlin ist bisher die einzige Möglichkeit, aufgrund eines Landesantidiskriminierungsgesetzes eben auch Entschädigungen von öffentlichen Stellen zu verlangen. Das gibt es in anderen Ländern noch nicht. Aber das zeigt natürlich auch, dass am Instrument, wie so ein Landesantidiskriminierungsgesetz eben, wo auch Entschädigungsansprüche für Diskriminierungen, die von öffentlichen Stellen ausgehen, einklagbar werden, ganz besonders wirksam und wichtig ist.
Erfahrungsgemäß: Es gibt ja schon seit 2006 ein allgemeines Gleichbehandlungsgesetz im privaten Bereich, und die Erfahrungen aus der Anwendung dieses Bereichs zeigen ganz deutlich, diese Fälle sind nicht sehr beliebt, diese Diskriminierungsfälle vor Gerichten, und die Entschädigungen fallen sehr gering aus. Also materiell-rechtlich. Also rein vom Geld her lohnt sich das Ganze sicherlich nicht, und letztlich muss sie dann wohl eher froh sein, wenn sie mit den ganzen Kosten eines solchen Verfahrens bei null rauskommt. Also ein materielles Interesse kann man ihr nicht unterstellen.
Matthias Klaus: Das sagt Dr. Michael Richter, der gerade für Svenja Steinke als Anwalt tätig ist, um eine Diskriminierungsklage gegen das Jugendamt in Berlin durchzufechten. Wie fühlen Sie sich denn jetzt mit dieser Klage? Sind Sie da guten Mutes, dass das etwas wird?
Svenja Steinke: Auf jeden Fall, sonst würde ich das ja nicht machen. Und mir geht es auch darum, einfach zu zeigen, dass man sich als Mensch mit Behinderungen auch nicht alles gefallen lassen darf und muss und dass es wichtig ist, dass die Behörden auch mitbekommen: "Okay, da ist jemand, der wehrt sich." Und ob das am Ende Erfolg hat oder nicht, das ist mir natürlich auch sehr wichtig, aber mir geht es in erster Linie darum, zu zeigen, auch mit dem Artikel in der Süddeutschen zu zeigen: "Ich mache das auf jeden Fall. Die Öffentlichkeit ist damit beschäftigt und ich bin dran." Es ist mir einfach sehr wichtig, einfach gehört zu werden und auch gesehen zu werden. Auch für andere, denen es vielleicht genauso geht. Also Mitstreiter, die sich aber vielleicht nicht trauen, weil sie Angst haben, vielleicht Kritik zu ernten oder Angst haben vor den Kommentaren der Leute. Dafür mache ich es halt auch.
Matthias Klaus: Also Sie sind da durchaus kampfeslustig im Moment.
Svenja Steinke: Immer. Also ich bin schon immer aufgewachsen ... gerade auch durch meine Mutter. Die hat mir sehr früh als Kind gezeigt, dass man für seine Belange, die man im Leben erreichen will, eben kämpfen muss. Und mir ist nichts in den Schoss gefallen. Ich glaube, das ist meine Philosophie, die ich mein ganzes Leben lang ja jetzt eigentlich auch durchziehe, weil man sich eben auch behaupten muss. Gerade als Mensch mit Behinderung finde ich es wichtig.
Matthias Klaus: Das war "Echt behindert!" für heute. Bei mir zu Gast war Svenja Steinke, die dabei ist, dafür zu klagen, dass sie als Mensch mit Behinderung ein Pflegekind bekommen darf.
Frau Steinke, ich wünsche Ihnen sehr viel Erfolg damit und hoffe, dass sich die Sache in Ihrem Sinne dann klärt. Ich sage Ihnen noch mal vielen Dank, dass Sie hier in unserem Podcast waren, und wünsche Ihnen alles Gute.
Svenja Steinke: Danke Ihnen auch, dass ich hier sein durfte.
Matthias Klaus: Das war "Echt behindert!" Mein Name ist Matthias Klaus.
Jingle: Mehr folgen unter dw.com/echtbehindert.
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