Todesstrafe als Massenspektakel in Chinas Provinzen
2. August 2006Dass Kriminelle gefesselt durch die Stadt gezogen und in aller Öffentlichkeit gedemütigt werden – solche Szenen erinnern an die finstersten Zeiten der Kulturrevolution. 30 Jahre nach dem Ende jener zehn chaotischen Jahre hat man weitgehend Abstand genommen von dieser barbarischen Art der Bekämpfung sogenannter "unerwünschter Elemente" - politischer oder krimineller Art. Wenigstens die Zentralregierung in Peking scheint bemüht, das Image des chronischen Menschenrechtsverletzers abzuschütteln. In der Provinz aber lebt die grausige Praxis fort.
In der nordchinesischen Millionenstadt Tangshan, 140 Kilometer östlich der Hauptstadt Beijing, wurden kürzlich 100 Kriminelle am frühen Morgen durch die Hauptstraßen der Stadt gezogen. Ihr Ziel: das örtliche Stadion. Dort wurden die Urteile gegen sie verkündet - in Anwesenheit von Parteifunktionären und Offizieren. Das lokale Fernsehen übertrug die Urteilsverkündung live, Zehntausende Schaulustige saßen im Stadion. Einer davon war Xu Min: "Die Kriminellen trugen nicht etwa Handschellen, nein! Sie waren mit einem Seil gefesselt, beide Hände auf den Rücken, genau wie man es aus der Zeit der Kulturrevolution kennt. Die Festgenommenen schienen sehr zu leiden. Ihnen wurde außerdem eine Schlinge um den Hals gelegt. So konnten sie nicht schreien", erinnert sich Xu Min. 25 Angeklagte wurden wegen Mordes, Vergewaltigung und Drogenhandels zum Tode verurteilt. Augenzeuge Xu berichtet, die Urteile seien direkt nach ihrer Verkündung auf einem benachbarten freien Gelände durch Erschießen vollstreckt worden.
Aberkennung der Menschenwürde
Zur Wahrung der fragilen sozialen Stabilität setzt China auf die vermeintlich abschreckende Wirkung der Todesstrafe. Die wird nicht nur bei Kapitalverbrechen verhängt, sondern bei nicht weniger als 68 verschiedenen Delikten, draunter Korruption und Drogenhandel. Aber allein die 84.000 offiziell verzeichneten Protestaktionen im vergangenen Jahr zeigen, dass Stabilität in einem Land mit solch krassen sozialen Unterschieden wie China durch das Mittel der Todesstrafe bestimmt nicht zu erreichen ist. Überall äußern die Menschen ihre Unzufriedenheit und ihren Protest gegen die kommunistische Regierung: Bauern, die ihr Land verloren haben, Arbeiter, die keine Arbeit mehr finden, Intellektuelle, die mundtot gemacht wurden.
Die Laogai-Stiftung mit Sitz in Washington verfolgt die Menschenrechtssituation in China. Sie erkennt zwar eine abnehmende Tendenz bei der Zahl der Hinrichtungen – freilich auf hohem Niveau. Sie kritisiert aber zugleich die demütigende Behandlung der Menschen in der Öffentlichkeit. "Aus meiner Sicht ist es eine primitive und barbarische Methode. Es wird ein Mensch verurteilt, und gleichzeitig wird ihm seine Menschenwürde aberkannt", sagt der Leiter der Stiftung, Liao Tianchi. "Nach dem heutigen Wissen wird ein Krimineller zu Freiheitsstrafen bestraft. Dafür sorgen die Gesetze. Dennoch stehen auch ihm als einem Menschen die grundlegenden, unteilbaren Rechte zu."
Gegen die Todesstrafe
Es gibt keine offizielle Statistik in China über die Zahl der vollstreckten Todesstrafen. Die öffentliche Diskussion darüber ist unerwünscht. Die Richter von Tangshan erklärten in ihrem Urteil, dass das Oberste Provinz-Gericht der Vollstreckung stattgegeben habe. Nach geltendem Recht aber müssten alle Todesurteile eigentlich vom Obersten Volksgericht Chinas in Beijing geprüft werden. Dieses aber gab durch eine Regelung aus dem Jahr 1983 das letztinstanzliche Revisionsrecht an die Provinzgerichte ab. Man wollte die Verfahren vereinfachen und beschleunigen. Im Jahr 2005 jedoch erklärte der vorsitzende Richter des Obersten Volksgerichts Chinas, Xiao Yang, dass künftig alle Todesurteile von seinem Gericht überprüft werden müssten. Bis heute ist es ein frommer Wunsch geblieben.
Vermutlich sind die Provinzgerichte nicht sehr glücklich über die drohende Einmischung aus Beijing. Denn die Vollstreckung von Todesurteilen dient oft auch politischen Zwecken. So werden Massenhinrichtungen häufig vor wichtigen Festen oder Feierlichkeiten angesetzt. Die Justiz in Tangshan etwa nutzte die Massenhinrichtung der vergangenen Woche für eine menschenverachtende Form des "Aufräumens" in der Stadt vor dem 30. Jahrestag des verheerenden Erdbebens. Zu dem Gedenktag am 28. Juli reiste auch Staatspräsident Hu Jintao nach Tangshan.
Die massenhafte Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe in China bildet einen der Kernpunkte des Rechtsstaatsdialogs zwischen Deutschland und China. In diesem Rahmen hält sich derzeit der Frankfurter Generalstaatsanwalt Dieter Anders mit einer Justizdelegation aus Deutschland in China auf. Anders spricht sich vor seinen Gastgebern deutlich gegen die Todesstrafe aus - und erhält dafür anerkennende Reaktionen der chinesischen Amtskollegen: "Ich hatte den Eindruck, dass die jüngeren Richter und Staatsanwälte insgesamt gegen die Todesstrafe sind, und dass sie dankbar waren - bei gleichzeitiger Kritik an (der Todesstrafe in) den USA -, und dass sie mir anschließend zugestimmt haben."