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Tod, Zerstörung, Verzweiflung: Gaza nach einem Jahr Krieg

7. Oktober 2024

Sofort nach dem Terrorangriff der Hamas begann die israelische Offensive in Gaza. Ein Jahr später ist dort fast die gesamte Bevölkerung auf der Flucht - und ein Ende des Krieges nicht in Sicht.

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Trümmer in Chan Junis
Trümmer in Chan Junis: Der Krieg hat rund 60 Prozent der Häuser in Gaza beschädigtBild: Ali Jadallah/Anadolu/picture alliance

"Am 7. Oktober wachten wir durch das laute Geräusch von Raketen auf. Das Geräusch war schrecklich, die Situation war schrecklich, und wir begannen, die Nachrichten zu sehen und erfuhren, was passiert war", berichtet Warda Younis der DW per Sprachnachricht aus dem nördlichen Gazastreifen. "Von diesem Tag an begann diese tiefe Angst, die uns seitdem nicht mehr losgelassen hat.

Seit den Angriffen der Hamas auf den Süden Israels im vergangenen Jahr ist für die Bewohner des Gazastreifens nichts mehr wie es war. Bis dahin hatten Israel und Ägypten die Grenzen des von der Hamas regierten Gebiets streng kontrolliert.

Soldaten tragen zwischen Trümmern Bahren
Drei Tage nach dem Terror vom 7. Oktober werden Tote im Kibbuz Kfar Azza geborgen: Hamas-Kämpfer hatten hier mindestens 64 Zivilisten getötetBild: Ohad Zwigenberg/AP Photo/picture alliance

In den frühen Morgenstunden des 7. Oktober 2023 feuerten militante palästinensische Gruppen unter Führung der Hamas, die von vielen Staaten als Terrororganisation betrachtet wird, hunderte Raketen auf Ortschaften im Süden Israels. Gleichzeitig durchbrachen Attentäter die Sperranlage rund um den Gazastreifen, stürmten das Gelände eines Musikfestivals und drangen in umliegende Kibbuzim und Ortschaften ein.

Etwa 1200 Menschen, die meisten von ihnen Zivilisten, wurden bei dem Terrorangriff getötet. Etwa 250 Menschen wurden in den Gazastreifen verschleppt. Die israelische Armee reagierte noch am selben Tag mit schweren Luft- und Artillerieangriffen auf den Gazastreifen und startete später eine umfassende Bodenoffensive.

Der Terrorangriff, der den Nahen Osten veränderte

"Ich habe meine beste Freundin am dritten Tag des Krieges verloren. Ihr Haus wurde völlig zerbombt, und ich erinnere mich, wie ich unter Schock stand. Es hat mich psychisch total mitgenommen", berichtet Younis, die damals im siebten Stock eines Wohnhauses in Sheikh Radwan lebte, einem Viertel im Norden von Gaza-Stadt.

Die Menschen im Gazastreifen haben schon viele Konflikte erlebt. Israel und die Hamas, die 2007 gewaltsam die Macht von der Palästinensischen Autonomiebehörde im Gazastreifen übernahm, haben bereits vier Kriege gegeneinander geführt. Dass dieser Krieg so lange dauern und so verheerend sein würde, hatten viele Betroffene nicht erwartet.

Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza, das bei seinen Zahlen nicht zwischen Zivilisten und Kämpfern unterscheidet, sollen bisher mehr als 41.000 Palästinenser im Gazastreifen getötet worden sein. Weitere 96.000 seien verletzt worden, mindestens 10.000 würden noch unter den Trümmern vermisst, heißt es.

"Wir haben Blätter und Gras gegessen"

In den ersten Monaten des Krieges seien die Vorräte schnell zur Neige gegangen, erinnert sich Warda Younis. Israels Verteidigungsminister Joav Galant hatte angesichts des Terroranschlags eine "totale Belagerung" des Gebiets angeordnet. Vor allem im Norden des Gazastreifens wurde die Lage in der Folge kritisch, Hilfsorganisationen warnten monatelang vor einer drohenden Hungersnot - eine Warnung, die die israelischen Behörden zurückwiesen.

Younis sagt, sie habe in dieser Zeit weder Mehl noch Brot finden können. "Wir waren so weit, dass wir Blätter und Gras aßen. Wir hätten uns nie im Leben vorstellen können, dass man das essen könnte."

Israelische Soldaten im Dezember 2023 in Gaza (Foto der israelischen Armee)
Die israelische Militäroffensive machte praktisch die gesamte Bevölkerung von Gaza zu FlüchtlingenBild: IDF/Handout/REUTERS

Als die ersten Hilfskonvois über Land den Norden erreichten, wurde sie Zeugin von Gewalt und Tod, als die Menschen um Nahrung und Hilfe rangen. Einige Länder starteten Hilfsflüge aus der Luft, um Lebensmittel abzuwerfen, da es zunächst nicht gelang, Israel davon zu überzeugen, mehr Grenzübergänge für Hilfslieferungen zu öffnen.

"Ich ging fast jeden Tag dorthin, wo Hilfsgüter abgeworfen wurden", erinnert sich Younis. "Ich rannte los, um etwas abzubekommen, aber am Ende bekam ich nichts, weil alles von Banden kontrolliert wurde." Zwar hat sich die Lebensmittelversorgung inzwischen verbessert, aber die Angst und die tägliche Gefühl, dem Tod nahe zu sein, sind geblieben.

Die meisten Menschen sind "zutiefst traumatisiert"

In den vergangenen zwölf Monaten mussten sich Younis und ihre drei Kinder im Teenageralter mindestens neun Mal eine neue Bleibe suchen. Wie viele andere Menschen hat sie auf der ständigen Suche nach Zuflucht das Zeitgefühl verloren. Als das israelische Militär vor Beginn der Bodenoffensive den Einwohnern des nördlichen Gazastreifen befahl, in den Süden zu fliehen, entschied sich Younis dagegen.

Der nördliche Gazastreifen ist inzwischen fast vollständig vom Süden abgetrennt durch den sogenannten Netzarim-Korridor, einer von Israel neu gebauten Straße mit Militärkontrollpunkten. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind mindestens 1,9 Millionen der 2,2 Millionen Menschen aus ihrem Zuhause vertrieben worden und leben nun auf kleinstem Raum im südlichen Gazastreifen. Dort sind die meisten nun auf Hilfe angewiesen, wie Hilfsorganisationen berichten.

Amjad Shawa war schon immer im humanitären Sektor tätig und leitet PNGO, einen Dachverband palästinensischer Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Auch er musste aus Gaza-Stadt fliehen, hat nun aber einen "Hub" für humanitäre Helfer in der südlichen Stadt Deir al-Balah eingerichtet. Hier können sich Mitarbeiter von NGOs treffen, das Internet nutzen und unter einem Dach arbeiten.

Amjad Shawa (vorne links) in einem Flüchtlingslager in Deir al-Balah
Amjad Shawa (vorne links) in einem Flüchtlingslager in Deir al-BalahBild: privat

So wie viele andere hatte auch er gezögert, sein Zuhause in Gaza-Stadt zu verlassen, als die Evakuierungsorder kam. "Meine Familie hat darauf bestanden", so Shawa gegenüber DW. "Ich habe ihnen gesagt, es ist ja nur für ein paar Stunden und wir kommen bald zurück. Ich habe deshalb nichts von zuhause mitgenommen. Aus diesen wenigen Stunden, wenigen Tagen ist jetzt ein Jahr geworden."

Er schätzt, dass rund eine Million Menschen in Deir al-Balah Zuflucht suchen, viele von ihnen in Zelten oder Behelfsunterkünften aus Planen und Plastik. Andere haben Wohnungen gefunden oder sind bei Verwandten untergekommen.

"Ich kann es in ihren Gesichtern sehen", sagt Shawa. "Die meisten Menschen sind zutiefst traumatisiert. Sie haben alles verloren. Viele haben geliebte Menschen verloren. Die meisten haben ihr Einkommen und ihr Zuhause verloren." Laut Shawa wollen viele von ihnen in den Norden zurückkehren, auch wenn ihre Häuser zerstört sind. Aber ihre Rückkehr hängt von politischen Entscheidungen ab, die Teil eines Waffenstillstandsabkommens zwischen Israel und der Hamas sein müssten.

Gefährliche Hilfe

Die Arbeit der humanitären Helfer ist riskant und schwierig, betont Shawa. Nicht wenige haben selbst ihr Leben oder Familienangehörige verloren, und fast alle erleben die gleiche Situation wie die Menschen, denen sie helfen sollen. "Es gibt keinen Weg, damit umzugehen oder damit fertig zu werden." Das Problem ist, dass es kein absehbares Ende gibt. Dennoch versucht Shawa, sich etwas Hoffnung zu bewahren und den Menschen um sich herum Mut zu vermitteln.

Amjad Shawa besucht eine notdürftig eingerichtete Schule
Amjad Shawa besucht eine notdürftig eingerichtete SchuleBild: privat

Auch für ihn selbst ist der Gazastreifen, in dem er geboren und aufgewachsen ist, nicht mehr da. Weite Teile gelten als zerstört, mehr als 60 Prozent der Häuser sind nach Schätzungen von internationalen Organisationen beschädigt worden. Schulen, Krankenhäuser und Geschäfte liegen in Trümmern. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen haben die israelischen Luftangriffe und Bodenkämpfe im gesamten Gazastreifen bereits mehr 40 Millionen Tonnen Schutt verursacht.

Gaza könne wieder aufgebaut werden, glaubt Shawa, aber das Wichtigste sei jetzt die Gegenwart und "dass wir am Leben bleiben". Viele hätten den Glauben an die Hilfe der internationalen Gemeinschaft verloren, fügt der der humanitäre Helfer hinzu: "Was wir hier erleben, ist auch auf das Versagen der internationalen Gemeinschaft zurückzuführen, diesen Krieg zu beenden oder zumindest die Zivilbevölkerung zu schützen."

Verzweifelte Familien

Rita Abu Sido und ihre Familie hatten diesen Schutz nicht. An die ersten Monate des Krieges kann sich die 27-Jährige nur noch in bruchstückhaft erinnern. Sie ist momentan in Ägypten, gemeinsam mit ihrer Schwester Farah. Beide werden dort medizinisch versorgt. Sie sind die einzigen Überlebenden ihrer Familie.

"Der Angriff war am 31. Oktober gegen Mitternacht. Ich war wach und sagte meiner Schwester Farah, dass wir sterben könnten. Sie erinnert sich an alles. Ich träume nur davon", sagt Rita der DW am Telefon in Kairo.

Menschen drängen sich vor der Essensausgabe
Essensausgabe im August in Beit Lahia im Norden des GazastreifensBild: Omar Al-Quataa/AFP

Abu Sidos Mutter, ihre beiden jüngeren Schwestern, 15 und 16 Jahre alt, und ihr 13-Jähriger Bruder kamen in dieser Nacht ums Leben. Rita und ihre Schwester, die als angehende Flugbegleiterin nur zu Besuch in Gaza war als der Krieg ausbrach, wurden schwer verletzt und ohne Ausweispapiere in das Al-Shifa-Krankenhaus gebracht.

Abu Sido berichtet, sie habe Verletzungen an der Lunge und Verbrennungen erlitten, ihre Schwester erlitt einen Beckenbruch und Verletzungen an der Wirbelsäule. Als die Kämpfe zwischen der israelischen Armee und der Hamas näher rückten, wurden beide aufgrund der Schwere ihrer Verletzungen zunächst in das European Hospital in Chan Junis verlegt. "Mein psychischer Zustand war schlecht, nachdem ich vom Verlust meiner Familie erfahren hatte. Ich brauchte Zeit, um meine Umgebung und meine Situation zu verstehen. Ich war aggressiv und nervös."

Zwei Erwachsene und zwei Kinder laufen durch eine Trümmerlandschaft
Zerstörungen in Chan JunisBild: Abed Rahim Khat/dpa

Mit Hilfe von Freunden der Familie konnten die Schwestern im Februar den Gazastreifen über den Grenzübergang Rafah verlassen, um sich in Ägypten behandeln zu lassen. Abu Sido berichtet, dass sie ihre Stimme, die sie für einige Zeit verloren hatte, wiedergefunden hat und ihre Schwester sich einer Physiotherapie unterzieht. Aber das Trauma, ihre Familie verloren zu haben, werde sie für den Rest ihres Lebens verfolgen.

Obwohl sie in Ägypten in Sicherheit sind, ist ihre Situation wie die vieler anderer Palästinenser, die nach Ägypten geflohen sind, prekär. Viele haben keinen legalen Status und sind auf die Unterstützung von Verwandten und Hilfsorganisationen angewiesen. Ob Abu Sido jemals nach Gaza zurückkehren kann, ist unklar. Dies hängt auch von politischen Entwicklungen ab, auf die sie keinen Einfluss hat. "Eine Rückkehr nach Gaza ist eine Herausforderung. Es wird Zeit brauchen", sagt sie. "Die nächste Generation, unsere Generation, muss den Willen zum Wiederaufbau haben."

Porträt einer Frau mit dunklen Haaren
Tania Krämer DW-Korrespondentin, Autorin, Reporterin